Die Kunst des Kiezkochens

2. Dezember 2023. Lässt sich Care-Arbeit in eine rauschende Party verwandeln? Wenn die Herzerwärmer:innen von Gob Squad mit urbanen Kiez-Nachbar:innen auf der Bühne stehen, schon. Beim kollektiven Gemüseschnippeln entstehen nicht nur Selfie-Momente, sondern man erfährt auch, wo Heimweh in gute Laune transformiert wird.

Von Sophie Diesselhorst

"Handle with Care" von Gob Squad und Kiez-Nachbar:innen am HAU Berlin © Dorothea Tuch

2. Dezember 2023. Freeze – und: klick! Auch wenn sich das Gruppenbild auf der Bühne über die zwei Stunden des Abends im HAU 1 gar nicht so sehr ändert: Sie erstarren in regelmäßigen Abständen zum Tableau Vivant, um ihre Gemeinschaft zu dokumentieren. Eine Gemeinschaft, die gar keine echte ist, so sagt es Berit Stumpf von Gob Squad selbstkritisch zu Beginn des Abends. Sondern eine, die die Künstler:innen zusammengewürfelt haben aus Nachbar:innen des HAU in Berlin-Kreuzberg, genauer: am Mehringplatz mit seinem ringförmigen Sozialbau.

Das HAU ist dort nicht zum ersten Mal zu Gast. Es bemüht sich schon länger um die Nachbarschaft, die ein diverses Vorzeigepublikum wäre, mit dem jedes Theater seine Zukunftsfähigkeit beweisen könnte. Noch einfacher ist es, sie direkt auf die Bühne zu holen. Aber natürlich lauern auch dabei einige Fallen: zum Beispiel die Falle der zu großen Kunst-Überwältigung oder auch die Falle der zu großen Zurückhaltung. Die Herzerwärmer:innen von Gob Squad manövrieren geschickt mittendurch.

Über den Catwalk auf die Bühne

Ihr günstiger Wind ist der starke und überzeugend dargebrachte inhaltliche Fokus des Abends. "Handle with Care" ist, wie schon der Titel andeutet, eine Hommage an die Care-Arbeit in ihren vielfältigen Ausprägungen. Was normalerweise im Unsichtbaren geschieht, wird auf die große Bühne geholt. Allein der Einzug der Darsteller:innen ist ein Meisterwerk. Das Video transportiert uns auf den Mehringplatz, wo der elfjährige Efe die anderen rappend zusammenruft, bis sie einen stattlichen Zug ergeben, der nun ins Theater einschreitet, über einen Catwalk auf die Bühne tänzelt und an einer adventlich rot gedeckten Tafel Platz nimmt.

HandleWithCare1 1200 DorotheaTuch uGemüseschnippeln für die zantrale Suppe des Abends: Gob Squad und ihre Co-Akteur:innen © Dorothea Tuch

Es sind lokale Initiativen, mit denen Gob Squad sich über einen längeren Zeitraum bekannt gemacht haben: die Kiezküche, die sich einmal im Monat zum Kochen trifft. Das Repair Café, wo nicht nur Gegenstände repariert werden, sondern auch Einsamkeit bekämpft wird. Und der türkischsprachige Chor "Zeitlose Gemeinschaft", der Heimweh in gute Laune transformiert. Den dramaturgischen Rahmen diktiert die Suppe, die von den Kiezköch:innen zubereitet wird. Während geschnippelt wird und das Gemüse gart, gibt es eine Reihe von Einzelauftritten, in denen die Menschen auf der Bühne sich als Care-Arbeiter:innen vorstellen.

Selfietaugliche Auftritte

Da sind vier junge erwachsene Freundinnen, die sich um ihre Familien, umeinander, um ihre Religion und um ihre Haustiere kümmern und den Abend am Ende noch einmal in sieben Tipps für gute Care-Arbeit zusammenfassen, während jeder einzelne Moment ihrer Auftritte selfie-tauglich ist. Da ist die aus Afghanistan stammende Chefin der Kiezküche für diesen Abend, die von der WhatsApp-Gruppe für geflüchtete Frauen in ganz Deutschland erzählt, die sie ins Leben gerufen hat. Da ist eine Nachbarin, die nur im Video auftritt und uns an ihrem morgendlichen Self-Care-Ritual teilhaben lässt: einem Kaffee mit Blick von ihrem Balkon hoch über dem Mehringplatz.

HandleWithCare3 1200 DorotheaTuch uEin Hoch auf die Care-Arbeit: Gob Squad und die Kiez-Nachbar:innen auf Amina Nouns Bühne © Dorothea Tuch

Gob Squad selbst halten sich zurück und performen als Moderator:innen und Übersetzer:innen mit einem Hang zur gepflegten Selbstironie. Als Regisseur:innen überhöhen sie das Geschehen diskret künstlerisch, indem die Schnippel- und Kochgeräusche in raffiniertem Sounddesign mit der Musik gemischt werden. Die Bühne mit der Festtafel ist durch einen Gazevorhang abgetrennt, hinter dem sich die Eigendynamik der Kiezinitiativen quasi ungestört entfalten kann. Wir schauen ihnen also bei der alltäglichen Care-Arbeit des Kochens zu, und dass eines der Merkmale der Care-Arbeit die endlose Wiederholung ist, wird dadurch unterstrichen, dass sich auch einige der Szenen vor dem Vorhang in ihrer Form wiederholen.

Karaoke in fünf Sprachen

Langweilig wird es trotzdem nicht. Dafür auch die durchaus fordernde Mehrsprachigkeit des Abends, mit der Gob Squad äußerst lässig umgehen. Neben den üblichen Gob-Squad-Sprachen Englisch und Deutsch wird außerdem noch Türkisch, Arabisch und Farsi gesprochen. Die Übersetzung von allen in alle Sprachen erfolgt entweder, indem die Darsteller:innen einander dolmetschen, oder über Übertitel auf der Videoleinwand. Die Sprachenvielfalt gipfelt in einem Karaoke von "Those were the days" in allen fünf Sprachen gleichzeitig, zu dem auch das Publikum eingeladen wird.

Im Parkett des HAU 1 sind die Sitze entfernt worden, so dass die Zuschauer:innen erst auf dem Boden lümmeln und später unordentlich durcheinander stehen. Die Partystimmung ist also bestens vorbereitet, wenn der Abend zum Schluss in eine große Sause übergeht, in der die Reste der Suppe ins Publikum gereicht werden und der Chor eine Zugabe nach der anderen gibt. Die Freude und das Selbstbewusstsein, mit denen die ausdrücklich als Co-Autor:innen genannten HAU-Nachbar:innen den Theaterraum erobern, füllen zumindest für ein paar Abende den vielbeschworenen Begriff vom Theater als Begegnungsort. Hier versteht man für einen utopischen Lagerfeuer-Moment, was das bedeuten könnte.

 

Handle with Care – Eine praktische Anleitung
Konzept & Regie: Gob Squad, Sounddesign: Manuela Schininà, Videodesign: Miles Chalcraft, Noam Gorbat, Kostüme: Emma Cattell, Sarah Thom, Bühne und Technische Leitung: Amina Nouns, Lichtdesign: Max Wegner, Dramaturgie und Produktionsleitung: Christina Runge, Künstlerische Mitarbeit: Nora Vollmond, Videoclip Mehringplatz: Marlene Blumert.
Von und mit: Inas Abdul Majid, Jenin Abdul Majid, Ayah Al-Ghaily, Gizem Akman, Bernhard, Setara Bobani, Yusuf Efe Caliskan, Johanna Freiburg, Azadeh Ganjeh, Haifa, Sean Patten, Lamisha Rahman, Salma Salaheldin, Sharon Smith, Berit Stumpf, Sarah Thom, Bastian Trost, Simon Will; Klinik der kaputten Dinge; KiezKochen (Alessia del Vigo, Miriam D., Mo Mara Hundt, Jacqueline Koch, Renate Kutscher, Kenan Oymak, Reinhild Religion und Katarina Stricevic) und Chor "Eskimeyenler topluluğu" / "Zeitlose Gemeinschaft" (Alev Bilge, Talip Gözdereliler, Mahire Güler-Selek, Kiraz Akyar Hörold, Meltem Kazancioglu, Gülay Kösker, Sabri Kömürcü, Güllü Sert, Berrin Ulutürk, Songül Uzunpinar, Gönül Vapurcu, Emine Zwanzig) in Begleitung von Askin Aras (Piano) und unter der Leitung von Askin Büyükuzun.
Premiere am 1. Dezember 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

"Das mag alles unspektakulär klingen, nach zu viel Soziokultur und zu wenig Kunst. Aber so ist es nicht", berichtet Patrick Wildermann im Tagesspiegel (3.12.2023). Gob Squads Abend kreise um die "Frage, was eine echte Gemeinschaft ausmacht und wie sich das Gefühl der Isolation überwinden lässt, diese Einsamkeit, die für viele schambehaftet ist". Und er füge sich gut ins aktuelle Begegnungs-Programm des HAU: "Nicht über Menschen reden – mit Menschen reden. Von diesem Spirit ist auch 'Handle with Care' beseelt. Und genau das macht diesen Abend wertvoller als vieles, was sonst im Theater zu erleben ist."

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