Stehlen ist perdu

10. Juni 2023. Dekolonial, queer und feministisch sind die Showcases geprägt, mit denen die Allianz internationaler Produktionszentren für Figurentheater zeigt, was in ihren Residenzen entstanden ist. Ein Highlight: "Fünf Exponate" von Laia RiCa und dem KMZ Kollektiv.

Von Elena Philipp

"Fünf Exponate" beim Festival Figure it out an der Schaubude Berlin © Gabriel Morales

10. Juni 2023. Sammeln heißt es bei Personen aus gutem Haus; bei denen mit schlechter Herkunft nennt man es: stehlen. So bringt Laia RiCa den dekolonialen Diskurs in der neuen Performance "Fünf Exponate" des KMZ Kollektivs auf den Punkt. Westliche Museen profitieren nach wie vor von den Raubzügen der Ethnologen oder Botaniker, die seit dem 18. Jahrhundert systematisch auf anderen Kontinenten plündern fuhren. Und dafür Ruhm ernteten: In den "Fünf Exponaten" steht Alexander von Humboldt im Fokus. Als kleine Papierfigur, kopiert aus einem der Gemälde, die von seinen Taten kündeten, besteigt er in einem an die Bühnenrückwand projizierten Animationsfilm den Chimborazo. Und dann drängen sich in dem Einspieler, der an Monty Pythons Cut-out-Ästhetik erinnert, die Fotografen und der Entdecker lächelt – Weltrekord! – von den Titelseiten.

Dekoloniale Geschichte(n) im Materialtheater

In ihrer szenischen Recherche "Kaffee mit Zucker?", die 2021 an der Schaubude Premiere hatte und 2022 nicht nur beim Festival Politik im Freien Theater für Furore sorgte, stellten Laia RiCa und, so der neue Titel des verstetigten künstlerischen Teams, das KMZ Kollektiv ihre Arbeitsweise vor. "Fünf Exponate" schließt ästhetisch daran an und fächert eine alternative Welterzählung auf, die das Wissen und die Geschichte(n) der Kolonialisierten mit umfasst, in kurzen Szenen, mit biographischen Erzählungen, den Songs von Yahima Piedra Córdova und Materialerkundungen. Standen bei "Kaffee mit Zucker?" die titelgebenden Naturgüter im Fokus, sind es in "Fünf Exponate" Kartoffeln und Gips, die die Szenenfolge verbinden und modellieren.

Verstreut wie der Haufen Kartoffeln, den RiCa in alle Richtungen über die Bühne kullern lässt, sei ihre Familie, erzählt die Performerin. Als sie in den frühen 90ern das vom Bürgerkrieg gebeutelte El Salvador verließen, erhielten Tanten und Onkel Visa für die verschiedensten Länder, in Australien, Schweden, den USA. RiCa kam mit ihren Eltern nach Deutschland – als einzige nicht mit dem Geflüchteten-Status, weil ihr Vater Spanier ist. Während Laia RiCa das erzählt, legt sie die Knollen unter ihren Knien zum Bild einer Sonne. Setzt sich eine Kartoffelpflanze auf den Kopf, an der in einem Netz noch die Erde hängt, und wird – Lichtwechsel – zu Exponat Nummer 1, der Humboldt-Scheibe. Der aztekische Kalenderstein, in dessen Zentrum der Sonnengott Tonatiuh steht, kam mit Humboldt nach Deutschland und ging im Zweiten Weltkrieg verloren. Einzig ein Gipsabdruck ist erhalten, im Preußischen Kulturbesitz der Staatlichen Museen zu Berlin. Eine koloniale Geschichte.

Heraustreten aus kolonialen Zusammenhängen

Fragen der Resitution werden in "Fünf Exponate" gestellt. Gallenbitter veralbern musikalisierte Zitate der ehemaligen Kulturstaatsministerin Monika Grütters und des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Hermann Parzinger die deutsche Position. Tanz den Parzinger, denn zurückgegeben wird das geraubte Kulturgut nur, wenn die konservatorischen Bedingungen im Ziel- oder vielmehr: Herkunftsland den hiesigen entsprechen.

"Fünf Exponate": Yahima Piedra Córdova, Laia RiCa und Antonio Cerezo © Gabriel Morales

Was das bedeutet, zeigt Exponat Nummer 4, auf der Bühne eine leere Vitrine: Hier darf man sich zwei Holzmasken der Kogi vorstellen. Während der Kolonisation Kolumbiens hatten sich die Kogi in die Höhlen eines Berges zurückgezogen, sie gelten als letzte überlebende indigene Hochkultur Lateinamerikas. Ihre Hohepriester, die Mamos, forderten im vergangenen Jahr die Masken zurück. Für ihre Zeremonien, in denen die Maskenträger im Tanz das Gleichgewicht der Natur aufrecht erhalten, sind diese allerdings unbrauchbar, erzählt eine Stimme aus dem Off: Die Insektizide, die in den europäischen Vitrinen ihre Zerstörung verhindern sollen, sind so giftig, dass niemand mehr unbeschadet die Maske aufsetzen könne.

Am derzeitigen Diskurs geschult und tief in den Biographien der Performer*innen gegründet, ist "Fünf Exponate" ein exzeptionelles Beispiel für ein Theater der anderen Geschichten. Eingeflossen in die Performance ist die künstlerische Forschung von Co-Performer Antonio Cerezo mit Gips. Der mexikanische Schauspieler wird am Schluss mit langen Gipsbahnen selbst in ein Exponat verwandelt – und macht sich von dem starren Kokon frei, wie eines der Insekten, die in der Projektion hinter ihm wuseln. "Fünf Exponate" ist: ein Moment des Heraustretens aus kolonialen Zusammenhängen.

Mensch-Melusinen-Kommunikation

Die Aufführung ist Teil des Showcases "Figure it out", bei dem die Schaubude Berlin gemeinsam mit ihren Netzwerk-Partnern Westflügel Leipzig und FITZ Stuttgart Projekte vorstellt, die in vor allem durch Neustart-Gelder finanzierten Residenzen entstanden sind. Auch ein Abschieds-Showing sind die zehn Tage: Die Neustart-Gelder laufen Ende Juni aus, und die inflationsbedingt gestiegenen Kosten verunmöglichen es der Schaubude, in diesem Jahr ihre eigene Residenz auszuschreiben. Coronafolgen, ahoi.

Undin Thilo Neubacher u"Undin" von Schroffke! © Thilo Neubacher

Entstanden sind in den Residenzen sehr unterschiedliche Arbeiten. Was sie eint: ein queer-feministischer Ansatz. In "Undin" versuchen Schroffke! aus Leipzig, Andersens Figur und andere Meerwesen-Mythen allein durch Sound zu erzählen. In einem stählernen Bühnenaufbau gluckert und wellt es, über lange Zeit lauscht man dem Nichterscheinen. Dann tritt das queere Meergeschöpf doch noch auf, mit hochhackigen roten Stiefeln, bloßen Brüsten und einer Fischmaske, und die queere Erzählung löst sich auf in die alberne Mensch-Melusine-Kommunikation über die Klänge einer DJ-App.

Anti-patriarchaler Geisterbahnritt

"The Truth about Helga" von Lovefuckers und ivanaki ist ein wilder Geisterbahn-Ritt durch die Vorlage des tschechischen Autors Ladislav Klíma. Helga ist ein trübes, dürres Geschöpf, das gleichwohl den adeligen, im Deutschen Kaiserreich gut beleumundeten Prinz Sternenhoch bezaubert – und ihn in den Wahnsinn treibt. Ist der Tagebuchroman aus Sicht des Gatten und seiner Leiden geschrieben, übernimmt hier Helga das Heft, eine rothaarige Puppe, deren Alter Egos immer geister- und leichenähnlicher werden, die roten Haare schütterer, die Haut blasser und fleckiger.

The Truth about Helga Christian Marquardt u"The Truth about Helga" von Lovefuckers und ivanaki © Christian Marquardt

Ihr Kind tötet sie, völlig gefühllos, den Mann verlässt sie für einen Hallodri, sie reist um die Welt – hier ist erneut ein animierter Einspieler zu bewundern – und spukt nach ihrem Tod im Hungerturm untot herum. Irrwitzig ist die Story, etwas unausgegoren und länglich die Umsetzung, und man weiß nicht genau, ob man den anti-patriarchalen Impulsen von Helga folgen oder sie als Monster verabscheuen soll. Selten hat man eine moralisch uneindeutiger gezeichnete Frauenfigur gesehen. Gewohnte Kriterien durcheinander zu wirbeln ist, wenn auch künstlerisch nicht durchgängig überzeugend, das Verdienst von "Figure it out".

 

Hinweis der Autorin: Aus dem Festivalbericht wurde am 19. Juli 2023 nach Gesprächen mit dem Künstler die Besprechung seines Stücks gelöscht, die als diskriminierend lesbare Passagen enthielt.

 

Fünf Exponate
von KMZ Kollektiv
Konzept, künstlerische Leitung: Laia RiCa, Antonio Cerezo, Ruschka Steininger, Visual Design, Live-Visuals: Daniela del Pomar, Dramaturgie: Ruschka Steininger, Sound, Live-Musik: Yahima Piedra Córdova, Bühne, Lichtdesign: Sebastián Solórzano, Kostümbild: Anne Buffetrille, Produktionsleitung, künstlerische Mitarbeit: Heleen De Boever, Rodrigo Zorzanelli.
Mit: Laia RiCa, Antonio Cerezo.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

Undin
von Schroffke!, Leipzig
Regie: Schroffke! (Liesbeth Nenoff, Jo Posenenske, Franz Schrörs), Dramaturgie, Szenografie:
Jo Posenenske, Außenblick: Nicole Brühl.
Spiel, Musik: Liesbeth Nenoff, Franz Schrörs.
Dauer: 40 Minuten, keine Pause

The Truth about Helga
von Lovefuckers/ivanaki, Berlin
Textfassung, Regie, Puppen: Ivana Sajević, Regieassistenz: Amber Duty, Sophie Freimüller, Dramaturgische Beratung: Almut Wedekind, Bühnenbild- und Kostümdesign, Flachfiguren:
Elisabeth Holager Lund, Video: Ralf Arndt, Ausstattung: Moritz Piefke, Kostüme Puppen:
Birgit Hesse, Kostüme Performer*innen: Sophie Schliemann, Technik: Ralf Arndt, Jonathan Winkler, Produktion: ivanaki, Lovefuckers, Josefine Winkler.
Mit: Leonie Euler, Emilia Giertler, Maximilian Tröbinger, Live-Musik: NADJA (Aidan Baker, Leah Buckareff).
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

schaubude.berlin

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