Prinz Friedrich von Homburg - Schaubühne Berlin
Fühlt den Krieg
15. November 2023. Was sagt uns Heinrich von Kleists Stück über den preußischen Militarismus heute, im zweiten Jahr des Kriegs in Ukraine und mit einem neuen Krieg in Nahost? Gibt es sie (noch), die "Soldatenehre"? In Jette Steckels Inszenierung tragen alle Uniform, und das Happy End ist gestrichen.
Von Elena Philipp
15. November 2023. "Stirb!", schreit der schwer atmende Soldat, der eben einen Gegner angeschossen hat. Röchelnd liegt das Opfer in seinem Blut und will einfach nicht verrecken. "Sei still", wütet der Sieger, der zitternd sein Gewehr umklammert. Als er seine Panik niedergekämpft hat und sich dem Stöhnenden nähert, ringt ihn der Sterbende mit letzter Kraft nieder, beschmiert ihn mit Blut, und zwingt ihn zuletzt, Aug in Aug und Stirn an Stirn kniend, ihm das Messer in die Brust zu rammen. Erst dann ist's vollendet. Entsetzt blickt der Überlebende auf das Überbleibsel seiner Tat; dieser Tote wird ihn heimsuchen.
Traumatisierter Träumer mit Patronen-Krone
Krieg ist ein schmutziges Geschäft und er hat psychische Folgen: Damit beginnt Jette Steckel ihre Version von "Prinz Friedrich von Homburg". Kleists Träumer ist bei Renato Schuch ein Traumatisierter, der mit starr geweiteten Augen und blutverschmiertem Gesicht auf den grauen Plastiksandsäcken sitzt, die sich auf der Bühne von Florian Lösche zum Abhang oder Schützengraben türmen. Auch dieser Homburg setzt sich einen Kranz aufs Haar, nur ist er nicht aus Lorbeer wie in der berühmten Schlafwandler-Szene zur Eröffnung von Kleists Stücks, sondern aus Patronen, die er der Leiche abgenommen hat. Irre lacht Homburg, in ein kindliches Spiel mit dem Geist des Toten (Holger Bülow) vertieft, als ihn die Hofgesellschaft überrascht.
Nacht ist es, die Schlacht gegen die Schweden steht bevor. Homburg sollte als Oberst längst bei seiner Reiterei sein. Der Kurfürst wird am kommenden Morgen seine Befehle an die Offiziere ausgeben; jetzt treibt er erst einmal sein Spiel mit dem "Toren", der sich rasch als Rasender präsentiert und den Fürst samt Familie verschreckt. Homburg, den der scharfe "Arthur!"-Ruf seines Kameraden Heinrich von Hohenzollern (Bastian Reiber) zwar aus dem Stupor reißt, bleibt geistig aber weggetreten und überhört den wesentlichen Befehl. Im Kampf wartet er nicht, bis ihm sein Einsatz befohlen wird, sondern greift eigenständig in die Schlacht ein. Das beschert zwar Brandenburg den Sieg, macht Homburg aber zu einem Befehlsverweigerer, auf dessen Hinrichtung das Kriegsgericht urteilt.
Auf Dauer gestellter Kriegszustand
So weit, so Kleist, der bei Jette Steckel in einer behutsam gekürzten Version auf die Bühne kommt (Dramaturgie: Bettina Ehrlich). Eingewoben in den Text sind einige der bekanntesten Briefe des deutschen Dichters: die Abkehr vom Soldatenberuf 1799; seine "Kant-Krise" 1801, die ihm die Verheißungen der Vernunft vergällt haben soll; Abschiedsbriefe vor seinem Suizid 1811. Stimmig ist die Montage. Ist der Mensch für seine Taten verantwortlich oder handelt er wie ferngesteuert? Ist ein Regiment nicht eigentlich "ein lebendiges Monument der Tyrannei" und die Pflicht des Offiziers mit dem Menschsein unvereinbar?
Geschützfeuer, Detonationen und Hubschrauberrotoren rattern in der Soundspur. Aufs Aktuelle zielt dieser "Prinz Friedrich von Homburg" mit den realistischen Kriegsgeräuschen und dem mörderisch langen Töten zu Beginn. Als geprobt wurde, griff die Hamas Israel an, ihre Kämpfer ermordeten bestialisch um die 1.200 Menschen. Der Krieg in der Ukraine geht in den zweiten Winter – die politische Weltlage soll hier offenbar sinnlich fühlbar werden, und zu Recht liegt zur Inszenierung auf der Webseite der Schaubühne ein Hinweis auf sensible Inhalte vor.
Steckel zeigt Kleists Hofgesellschaft im auf Dauer gestellten Kriegszustand – die sieben Spieler:innen tragen Militärmontur, ihre Gewehre sind nie weit, selbst wenn sie Ziviles verhandeln. Breit ist ihr dramatisches Einsatzgebiet: mal rollen sie als fallende Soldaten wie Stuntleute über den steilen Abhang, dann springen sie, nach einer harten Schwarzblende, zurück in ihre Figur und pflügen sich durch Kleists Blankverse. Action rund um den zweihundert Jahre alten Text, der eindringlich zu Gehör kommt und doch nicht ohne Längen ist.
Grelles Licht der Aufklärung
Fahl bis grell ist die Beleuchtung (Erich Schneider), die mal mondweiß durch Nebel wabert, mal scharf golden gen Publikum gellt. Das Licht der Aufklärung ist hier, ganz profan, ein Popkonzert-Effekt. Schlicht, aber deutlich sind die Kostüme von Pauline Hüners: Rot ist die Tarnuniform von Homburg, schwarz-weiß die der anderen. Axel Wandtke als sich entschlossen gebender, innerlich aber wankender Kurfürst trägt einen Offiziersmantel, Stephanie Eidts Kurfürstin einen silbernen Pailletten-Überwurf zur Tarnkleidung.
Mild aufgewertet sind die Frauenrollen: die Fürstin flüstert ihrem Mann ein, dass er Homburg trotz zwei verlorener Schlachten erneut das Kommando übertragen soll, sie ist präsenter als bei Kleist. Natalie, Prinz von Homburgs Liebe, ist bei Steckel selbst Soldatin; und schon bei Kleist ist sie die Anti-Ophelia, die nicht stumm ins Kloster geht, sondern sich für Homburgs Begnadigung einsetzt. Alina Vimbai Strähler redet dem Kurfürsten das Todesurteil aus – gerechtes Empfinden ersetzt die stumpfe Herrschaft des Gesetzes. Nur packt der Alte den Prinzen in seinem Begnadigungsbrief bei der Soldatenehre: Er selbst soll entscheiden, ob ihm ein Unrecht widerfahren ist. Da muss er natürlich sterben wollen – "gleichviel!", wie Homburg stets ruft, wenn er seine Gefühle einmal mehr abrupt umsteuert.
Bildstarke Abkehr von diesem Geist des Militarismus
"Prinz Friedrich von Homburg" ist auch ein Stück übers Zaudern und über die Zurichtung. Als Abkehr von diesem Geist des Militarismus stellen Steckel und ihr Team mit Kleists Brief an seinen Lehrer und Freund Christian Ernst Martini die Kritik am Soldatenstand und dem blinden Staatsgehorsam an den Schluss ("Zu seinen unbekannten Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein – ich kann es nicht") statt des Dichters glücklichen Ausgang der öffentlichen Begnadigung zu wählen.
Überdeckt wird das Inhaltliche dabei von der effektvollen Optik und dem Dauer-Sound: ob nun in der bühnenbreiten Projektion Maden wimmeln oder Soldaten im Trommel-Takt marschieren; ob die Kurfürstin zu "Riders in the Storm" der Doors in malerischem Gegenlicht mit dem Gewehr hantiert oder vier Soldaten zum von Sirenengeheul durchsetzten Tschaikovsky-Divertissement ein groteskes Ballett tanzen (Choreographie: Dominika Knapik). Hart am Kitsch schrammt die Inszenierung entlang, wenn Homburgs Weg mit den Leiden Christi parallelisiert wird: in seiner Todesfurcht klammert sich Renato Schuch an Stephanie Eidt und erstarrt mit ihr in der Pose von Michelangelos Pietà; die Rettung aus dem Kerker gleicht der Kreuzabnahme, obgleich Alina Vimbai Strähler den kopfüber an einem Seil zwischen Leben und Tod Hängenden auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen versucht. Breitwandoptik und starke Bilder, wie von Jette Steckel gewohnt, aber auch: eine ungute Ästhetisierung des Krieges.
Prinz Friedrich von Homburg
von Heinrich von Kleist
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Musik: Mark Badur, Choreografie: Dominika Knapik, Video: Zaza Rusadze, Dramaturgie: Bettina Ehrlich, Licht: Erich Schneider.
Mit: Jule Böwe, Holger Bülow, Stephanie Eidt, Bastian Reiber, Renato Schuch, Alina Vimbai Strähler, Axel Wandtke.
Premiere am 14. November 2023
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, keine Pause
www.schaubuehne.de/
Kritikenrundschau
"Einen inhaltlich starken Antikriegsabend mit einem psychologisch nuanciert spielenden Ensemble" hat Barbara Behrendt gesehen und gibt auf rbb Kultur (15.11.2023) weiterhin zu Protokoll: "Die Mittel dagegen bleiben fraglich. Der Überwältigungsgestus, die ästhetische Perfektion, mit der die Soldaten im besten Scheinwerferlicht durch die Gegend geschleudert werden, mit der das Blut spritzt und die Bomben explodieren, wirkt seltsam glatt und abgeklärt." In Zeiten, in denen die Bilder des Grauens aus Israel und Gaza jede Vorstellungskraft übersteigen, wirke das Kriegsspiel auf der Bühne schal. "Weniger Blockbuster-Bombardement, mehr selbständiges Denken hätte der Abend dem Publikum schon zumuten dürfen. Doch das bleibt ein moralischer Einwand. Steckels Interpretation vom am Krieg zugrunde gehenden Menschen trifft durchaus einen Nerv."
"Figuren entstehen nicht, schon gar keine Beziehungen und Motivationen, nichts, was einen einsteigen, mitdenken oder gar mitfiebern lassen würde", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online 15.11.2023). Die ästhetische Spezialoperation sei angesichts der uns so nahe rückenden Kriege in der Wirklichkeit umso schwächer, papieriger und lächerlicher, "gerade wegen der naturalistischen Bewerkstelligungen mit Gewehrpräsentation und wackelnden Helmen, die permanent auf- und abgesetzt werden müssen."
Jette Steckel stellt dem komplexen Kleist'schen Drama ein Intro voraus, das berühmte "Traum"-Metaphorik in ein einziges Albtraum-Szenario wendet, so Christine Wahl im Tagesspiegel (16.11.2023). Der Regieansatz lasse an Konsequenz nichts zu wünschen übrig. "Konzeptionell zeigt sich hier eingedenk der aktuellen Weltlage ein Gegenwartsgespür, mit dem sich das Theater und die Kunst überhaupt sonst häufig schwerer tut." Andererseits werde der Krieg auf der rein ästhetischen Ebene allerdings auch zu einem merkwürdig kunstwilligen Überwältigungsalbtraum. "Damit muss man an diesem Abend irgendwie klarkommen; die Ambivalenz aus konsequenter Lesart auf der einen und einem Ästhetisierungskonzept auf der anderen Seite, das hart an dramatischen Kriegsstereotypen entlangschrammt."
"Der gut zweieinhalbstündige Abend vereinfacht Kleist nicht, sondern gibt ihm mit dem Blick auf die Gegenwart eine unerhörte Aktualität", schreibt Gunnar Decker im nd (16.11.2023). Und auch wenn "manche filmisch breit ausgemalten Szenen" allzu "opulent" wirkten, sei die Inszenierung nicht "effekthaschend". Sie nehme stattdessen "Kleists Text ebenso ernst und unernst zugleich wie die Geschichte jedes anderen marktschreierisch ausgerufenen Helden, der dann doch einen unvermeidlich banalen Tod stirbt".
Es sei jetzt nicht der richtige Moment dafür, Schauspieler in falsche Tarnuniformen zu stecken und holprig über Sandsäcke marschieren zu lasse, kritisiert Simon Strauß in der FAZ (16.11.2023). "Dafür ist der wahre Krieg unserem Bewusstsein doch gerade viel zu nah, als dass man ihn uns als fahrige Farce vorführen könnte, ohne Empfindung für den düstersten Schrecken, der ihn begleitet." Es werde viel laut und schwer geatmet, und ein paarmal geht im Zuschauerraum auch plötzlich das Licht an. "Aber vom zerstörerischen Eindruck des Krieges auf den menschlichen Geist, vielleicht sogar auf seine Seele wird so wenig spürbar."
Dass Homburg sich umbringe sei das konsequente Ende der Inszenierung, so Katja Kollmann in der taz (16.11.2023). "Steckel verlässt den geschützten Rahmen des Kammerspiels und setzt Kleists ProtagonistInnen der Front aus." Ihr gelinge es, kurze einprägsame Szenen zu modellieren, die wie Gemälde (nach)wirken. Fazit: "Ein starker nachdenklicher Kommentar ins Reale hinein."
Steckel will mit Kleists Stück vom Krieg erzählen, als wäre der ein geradezu naturalistischer Autor, schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (16.11.2023). Der einst hochsensiblen Innerlichkeit von Stein und Strauß antworte Jette Steckel mit krachender Äußerlichkeit, "samt knallenden Platzpatronen, großzügig eingesetztem Theaterblut und einem massakrierten Soldaten gleich in der ersten Szene". Über weite Strecken bleibe die Inszenierung ziellos. "Die ohne Zweifel schönen und beeindruckenden Bilder werden zum dekorativen Selbstzweck oder kippen ins Lächerliche, wenn die Soldaten nach der Schlacht lustig vom hohen Sandsackberg hinabrutschen wie in ihr Grab."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 13. September 2024 Staatstheater Kassel: Geschäftsführer Dieter Ripberger freigestellt
- 13. September 2024 Salzburg: Nuran David Calis wird Schauspieldirektor
- 12. September 2024 Heidelberg: Intendant Holger Schultze hört 2026 auf
- 12. September 2024 Auswahl des "Augenblick mal"-Festivals 2025 in Berlin
- 12. September 2024 Freie Szene Hamburg: Protest-Aktion zur Spielzeiteröffnung
- 12. September 2024 Baden-Baden: Nicola May beendet Intendanz 2026
- 12. September 2024 Berlin: Aufruf der Komischen Oper zu Musikschulen-Problem
- 12. September 2024 Literaturpreis Ruhr für Necati Öziri
neueste kommentare >
-
Augenblick mal Juryfragen
-
Augenblick mal Roter Baum
-
Tod eines Handlungsreisenden, Berlin Realistisch inszeniert
-
Augenblick Mal Kriterienantwort
-
Frau Yamamoto, Zürich Glück
-
Augenblick mal Kriterienfrage
-
Buch Ideologiemaschinen Klarsichtigkeit
-
Tabori-Preis Danke für die Aufklärung
-
Buch Ideologiemaschinen Eine Bitte
-
Tabori-Preis Preisgeld ist Projektgeld
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Ein Markenzeichen von Jette Steckels Inszenierungen sind die Popsongs, in denen manche ihrer Abende so schön schwelgen wie ihre preisgekrönte Hamburger "Romeo und Julia"-Inszenierung. Wenn das plakative Anti-Kriegs-Reenactment auf die zarten Melodien trifft, macht es sich Jette Steckels Kleist-Inszenierung manchmal zu einfach und ist der Kitsch nicht weit. "Eine ungute Ästhetisierung des Krieges" warf Elena Philipps Nachtkritik diesem Abend aus guten Gründen vor.
Auf welcher Seite Steckel mit diesem "Antikriegs-Blockbuster" (Barbara Behrendts treffende Charakterisierung im rbb) steht, unterstreicht sie durch einige Einschübe aus Kleists Briefen, in denen er die Motive für seinen Bruch vom Militär und seinen Hierarchien präzise beschrieb, mit denen sie den leicht gekürzten Originaltext des Dramas anreichert. Die Sprache von Kleists Figuren bleibt uns so fern wie ihre Auseinandersetzungen um Befehl, Gehorsam und Vaterland. Die Brutalität des Krieges bleibt über die Jahrhunderte gleich. Das Entsetzen darüber möchte uns Steckel sehr eindringlich vor Augen führen und zieht viele Register des Überwältigungs- und Breitwand-Theaters. Die Bilder sind es, die von diesem Abend in Erinnerung bleiben, die Erkenntnisse sind nicht neu.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/11/15/prinz-friedrich-von-homburg-schaubuehne-theater-kritik/
Tschaikowskys Nussknacker ist richtig, aber ich meine das Soldatenballett tanzte zum Tanz der Zuckerfee und nicht zum Divertissement.
Die Melodie dürfte sich ehemaligen DDR-Bürgern durch die Titelmelodie von Willi Schwabes Rumpelkammer eingeprägt haben.
Die namentlich Kleist'schen Militärs haben wohl auch mehr als einem Dichter existenziell geschadet? Auch Lenz musste wohl einem dienen... Oder war das eine andere Familie, der dessen Dienstherr entstammte?
Ach wirklich? Unter dieser Kleistverzerrung verborgen liegt Heinrich von Kleists Stück, von dem nicht einmal die Sprachkraft entfaltet wird.
"Homburg: Ist es ein Traum? Kottwitz: Ein Traum, was sonst?"
Diesmal war es ein Überwältigungstheater.
Wir stimmen da alle zu:
Krieg ist grausam, schlecht und tödlich.
Friedrich Nietzsche schreibt im "Prinzip einer neuen Wertsetzung":
Eine Gesellschaft, die, endgültig und ihrem I n s t i n k t nach, den Krieg und die Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif für Demokratie und Krämer-
regiment . . . In den meisten Fällen freilich sind die Friedensversicherungen bloße Betäubungsmittel.
Aus "Die Fröhliche Wissenschaft":
V o r b e r e i t e n d e M e n s c h e n. - Ich begrüße alle Anzeichen dafür,
daß ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welches jenes einmal
nötig haben wird, - jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntnis trägt
und K r i e g e f ü h r t um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu bedarf es jetzt vieler vorbereitender, tapferer Menschen, welche doch nicht aus dem Nichts entspringen können - und ebensowenig aus dem Sand und Schleim der
jetzigen Zivilisation und Großstadtbildung: (...)
Ein Zweifel blieb mir zurück bei H e r a k l i t, in dessen Nähe
überhaupt mir wärmer, mir wohler zumute wird als irgendwo sonst.
Die Bejahung des Vergehens u n d V e r n i c h t e n s,
das Entscheidende in einer dionysischen Philosophie,
das Jasagen zu Gegensatz und Krieg,
das W e r d e n, mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs
"Sein" - darin muß ich unter allen Umständen das mir Verwandteste
anerkennen, was bisher gedacht worden ist.
(. . .)
Aus dieser Schrift redet eine ungeheure Hoffnung.
Zuletzt fehlt mir jeder Grund, die Hoffnung auf eine dionysische
Zukunft der Musik zurückzunehmen.
Werfen wir einen Blick ein Jahrhundert voraus, setzen wir den Fall,
daß mein Attentat auf zwei Jahrtausende
Widernatur und Menschenschändung gelingt.
Jene neue Partei des Lebens, welche die größte aller Aufgaben,
die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet
die schonungslose Vernichtung
alles Entartenden und Parasitischen,
wird jenes Z u v i e l v o n L e b e n auf Erden wieder möglich machen,
aus dem auch der dionysische Zustand wieder erwachsen muß.
Ich verspreche ein t r a g i s c h e s Zeitalter:
(Anm.: 2O. Jahrhundert, erste Hälfte)
die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie,
wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewußtsein
der härtesten, aber notwendigsten Kriege
hinter sich hat, o h n e d a r a n z u l e i d e n . . .
Friedrich Nietzsche: Ecce Homo. Die Geburt der Tragödie
Nietzsche zu lesen anzunehmen und zu verstehen.
Wie eine Erleichterung klingt dieses:
(. . .)
Fürchterlich erklingt sein silberner Bogen:
und kommt er gleich daher wie die Nacht, so ist er doch Apollo,
der rechte
Weihe- und Reinigungsgott des Staates.
Zuerst aber, wie es im Beginne der Ilias heißt, schnellt sein Pfeil
auf die Maultiere und Hunde. Sodann trifft er die Menschen selbst,
und überall lodern die Holz-Stöße mit Leichnamen.
So sei es denn ausgesprochen, daß der Krieg für den Staat eine
ebensolche Notwendigkeit ist, wie der Sklave für die Gesellschaft:
und wer möchte sich diesen Erkenntnissen entziehen können,
wenn er sich ehrlich nach den Gründen
der unerreichten griechischen
Kunstvollendung
fragt?
Friedrich Nietzsche, Der griechische Staat
Gedanken zur Geburt der Tragödie