Rosamunde Pilcher auf dem Horrotrip

von Michael Wolf

Berlin, 28. September 2016. "Fuck!", flucht Orpheus, als er seinen Fehler bemerkt. Es war doch an sich keine schwere Aufgabe für einen Halbgott. Einfach runter in die Unterwelt, die Geliebte schnappen, und mit ihr wieder hoch. Einzige Bedingung für die Rückkehr zu den Lebenden: Schau Eurydike nicht an, bis ihr wieder oben seid! Das hat auch gut funktioniert. Aber dann wollte die nicht. Dann wollte die lieber weiter tot sein. Und dann hat er sich halt doch umgedreht. Und verloren war die Liebe seines Lebens. Für immer. Da darf man ruhig mal ausfallend werden. "Fuck" also.

Nymphe mit Schreibblockade

Elfriede Jelineks "Schatten (Eurydike sagt)" erzählt den Mythos aus der Sicht der Nymphe. Nach einem klaustrophobischen Anfall findet die es im Hades schnell sehr okay. Endlich keinen Stress mehr. Plausibel. Was hat sie schon zu verlieren? Eurydike ist Schriftstellerin, aber sie kriegt das mit dem Schreiben nicht hin. Da will sie lieber gar nicht sein, als nur das "Liebesobjekt" des Sängerstars an ihrer Seite. Also entscheidet sie sich, nie wieder dieses Mannes Schatten zu sein, sondern einfach Schatten. Einfach nichts.

So viel zu Jelineks an diesem Abend stark gekürzter Textfläche. Kommen wir zu Katie Mitchell. Wer ihre Formsprache kennt, kann den folgenden Absatz getrost überspringen. Es hat sich nämlich im Vergleich zu früheren Inszenierungen an der Berliner Schaubühne nicht viel getan.

schatten1 560 gianmarco bresadola uDas Bühnenbild und sein Doppel: Katie Mitchells Live-Filmset in der Schaubühne Berlin
© Gianmarco Bresadola

Mitchell lässt auf der Bühne live einen Film drehen. Auf den Brettern arbeiten vier Schauspieler und eine Heerschar an Technikern im strengen Takt des Mediums. Die Schauspieler eilen von Kulisse zu Kulisse. Die Kameraleute filmen sie mal im Super-Close-Up, mal in der Totalen. Voice-Over-Texte kommen aus einer Sprecherkabine. Und über ihnen thront das Ergebnis auf einer Leinwand. Das Publikum beobachtet die Produktion eines filmischen Realismus. Für Einsteiger ist das ein Erlebnis. Kennt man schon ein paar Inszenierungen, wird’s schnell ermüdend.

Die Oberschenkel der Psychoanalyse

Es gibt also wieder Kino im Theater bei Katie Mitchell. Das ist einleuchtend. Immerhin ist Jelineks Text randvoll mit Sigmund Freud, der den Film seit seinen Anfängen stark prägt. Außerdem lesen sich Jelineks Texte ohnehin wie das Protokoll einer psychoanalytischen Sitzung. Wie sonst als mittels freier Assoziation kommt man auf solche Sätze: "Ich Jeans? Niemals. Das hätte die Folge, daß sich meine Oberschenkel zu deutlich abzeichnen würden, und die Vorlage, die sie abzeichnen, war schon nicht optimal."

schatten3 560 gianmarco bresadola uIm VW Käfer durch die Unterwelt: Jule Böwe am Steuer, dahinter Renato Schuch. Kamera: Nadja Krüger © Gianmarco Bresadola

Was ist es also diesmal für ein Film geworden? Eine Art Horror-Rosamunde-Pilcher. Spulen wir mal zurück zum Anfang: Eurydike sitzt am Schminktisch in Orpheus Garderobe. Seufzend klappt sie ihren Laptop zu. Wieder hat sie nur wertloses Zeug geschrieben. Ihr Körper ist auch nicht mehr der alte bzw. junge. Mürrisch reibt sie den wund gelaufenen Zeh, in den sie wenig später eine Schlange tot beißen wird. Aber erst mal kommt Orpheus auf einen Quickie vorbei. Kaum ist er gekommen, ist er schon gekommen, und lässt sich sogleich auf der Bühne von jungen Mädchen anhimmeln.

Wie David Lynch von Pedro Almodóvar verfilmt

Die Inszenierung wirkt, als hätte David Lynch ein Drehbuch von Pedro Almodóvar verfilmt, und am Ende stellt man fest: Irgendwie mag ich beide nicht. Es ist übrigens ein Happy End. Das will ich hier aber nicht verraten. Soll man ja nicht machen. Ist aber, nur so viel, selbst für filmische Verhältnisse eine sehr abgedrehte Vorstellung vom Jenseits.

An den Schauspielern liegt's nicht, aber die können auch nicht viel falsch machen. Dafür läuft die Mitchell-Maschine zu geschmiert. Renato Schuch packt allen Machismo des Kosmos in seinen Orpheus. Stephanie Eidt trägt die Gedanken Eurydikes von der Sprecherkabine aus mit Samtstimme in den Äther. Maik Solbach flirtet als Wächter der Schattenwelt eiskalt mit Jule Böwe (als Eurydike). Und Böwe selbst? Hatte ihren besten Take bevor der Abend begann. Es gab anfangs technische Probleme, weshalb sie gezwungen war, im Kahn des Wächters (hier: ein VW-Käfer) zu warten. Nach einigen Minuten konzentrierten Starrens konnte sie sich für ein paar Sekunden das Lachen nicht verkneifen. Das war der einzige echte Moment an diesem Abend. Ganz ohne fehlt was auf der Bühne.

 

Schatten (Eurydike sagt)
von Elfriede Jelinek
Regie: Katie Mitchell, Mitarbeit Regie: Lily McLeish, Bildregie: Chloë Thomson, Bühne: Alex Eales, Kostüme: Sussie Juhlin-Wallen, Videodesign: Ingi Bekk, Mitarbeit Videodesign: Ellie Thompson, Sounddesign: Melanie Wilson, Mike Winship, Licht: Anthony Doran, Dramaturgie: Nils Haarmann, Skript: Alice Birch.
Mit: Jule Böwe, Stephanie Eidt, Renato Schuch, Maik Solbach. Kamera: Nadja Krüger, Christin Wilke, Marcel Kieslich, Boom Operator: Simon Peter.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 


Kritikenrundschau

Der VW Käfer aus den Sechzigerjahren passt, "denn auch die Konflikte und Rollenbilder, die hier zu sehen sind, sind ziemlich retro", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (30.9.2016). An Elfriede Jelinek liege das nicht. Mitchell begradige Jelineks gedankliche Abzweigungen. "Alles Sperrige und Unappetitliche ist eliminiert. Aus der Dauerschleife wird ein ästhetisiertes Drama um die leidende Frau." Fazit: "Die Aufführung gefällt sich in all dem Schmerz ziemlich gut. Und Katie Mitchell, die sich als Feministin versteht, bestätigt ein altes patriarchales Gesetz: Die leidende Frau ist immer noch die beste."

"Schatten (Eurydike sagt)" passe eigentlich ideal zu dieser Regisseurin, die sich stets für weibliche Perspektiven interessiert, findet auch Barbara Behrendt in der taz (30.9.2016). Eigentlich, denn dem Jeli­nek'schen Bewusstseinsstrom habe Mitchell nur wenige Sätze entnommen und daraus einen semirealistischen, chronologischen Film-Plot gebaut. "Mitchells Regiehandschrift ist wie eine Folie, die sie über den Stoff stülpt – kein Mehrwert, nirgends." So verkürzt der Stoff zur individualpsychologischen Fallstudie einer depressiven Frau. "Klar, beklemmende Momente gibt es schon, "aber die schlichte lineare Abfolge, in die Mitchell die überbordende, ausgreifende Gedankenflut der Jelinek einpresst und zu einer düsteren Psycho­studie verengt, lässt den Abend eindimensional und monoton erscheinen."

"Bei Mitchell wird aus dem Stoff eine Geschichte von der armen Frau, die sich schmerzreich vom tollen Mann losreißt", so auch Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (30.9.2016). Eine Opfergeschichte, wie sie im Bilderbuch eines Groschenheftfeminismus stehe. Das Seltsame an dieser Multi-Media-Show sei: "Verfremdung plus Verfremdung ergibt Einfalt, nicht Vielschichtigkeit." Der Abend will Frauen-, Medien-, Weltbilder kritisch brechen – und produziert einen Klischeeabklatsch. "Alle kritische Energie verpufft zum Effekt, zum bloßen Anhimmeln technischer Fertigkeit. Das ist nicht immer so in Mitchells Medienmaschinentheater."

"Chapeau: Man hätte wirklich nicht gedacht, dass sich Elfriede Jelineks Text 'Schatten (Eurydike sagt)' auf derart eindimensionale Bilder herunterdividieren lässt!", poltert Christine Wahl vom Tagesspiegel (30.9.2016). In Katie Mitchells Inszenierung sehe der Feminismus "wesentlich älter aus, als er je war". "Jelinkeks Textfläche voller Widerhaken" mit Mitchells "pseudo-realistische(n) Film-Szenen" kombiniert, ergäben weniger produktive Reibung als unfreiwillige Komik.

Außergewöhnlich sei, dass sich hier alles konsequent nach innen wendet und man der Eurydike Jule Böwe in Nahaufnahme beim Denken zusehen könne, schreibt Joachim Lange vom Standard (5.10.2016). Die für Mitchell typische Melange aus szenischer Dekonstruktion von Tonspur und mimischer Nahaufnahme vermöge in eine Schicht "dieses gegen die männliche Perspektive rebellierenden Textes" vorzudringen. "Wir erleben die Utopie eines totalen Ausstiegs mit."

"Wer um Himmels willen denkt sich derartigen Unfug aus?“, fragt Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.10.2016) über eine typische Mitchell-Szene, in der Jule Böwe aufgenommen wird und Stephanie Eidt für sie ihren Text spricht. "Die eine muss schweigen, die andere darf nicht spielen, und beide könnten beides und noch dazu ziemlich gut." Ohne Sinn kompliziert und dafür multimedial kostenintensiv, triefe Mitchells Interpretation in ihrer monochromen Opferperspektive und der allzu simplen Betrachtungsweise vor saurem Kitsch und peinlicher weiblicher Selbstgefälligkeit. Der technische Aufwand, "(d)iese ungeheuere Verschwendung" täusche "nie und nimmer über die schrecklich nichtssagende Leere der Inszenierung hinweg, die vor lauter Technik ganz das Theater und seine reale, spielerisch-sinnliche Relevanz vergisst".

Eine "lustvolle Entzauberung der Traumfabrik" hat Peter Claus für Deutschlandradio Kultur (28.9.2016) erlebt, denn das Publikum könne in der Bühnenproduktion eines Live-Films zusehen, "wie Mythen geschaffen werden". Der Film erinnert den Kritiker "an die Ästhetik des westdeutschen und des französischen Kinos der frühen 1960er-Jahre". Durch die "Bildkraft" der Arbeit "bleibt's nicht bei feministischer Selbstreflexion" auf Basis der Jelinek-Vorlage. "In den Köpfen der Zuschauer bildet sich die Frage, ob wir, Hier und Heute, nicht in einer Welt leben, in der wir viel zu sehr nur noch auf uns selbst, denn auf Anderes und Andere blicken. Der eher dünne Text wird dadurch enorm aufgewertet."

 

 

Kommentare  
Schatten (Eurydike sagt), Berlin: auf den feministischen Kern reduziert
Ich fand es bemerkenswert, wie stark sich Katie Mitchell von den Inszenierungen ihrer beiden Kollegen Matthias Hartmann (Wiener Burgtheater) und Jan Philipp Gloger (Badisches Staatstheater Karlsruhe) absetzt.

Sie reduziert Jelineks Text ganz auf den feministischen Kern und verzichtet auf die vielen bissigen Exkurse und Motive zu Casting-Shows, Mode, Pop-Kultur.

Mitchells Abend ist von Melancholie durchtränkt. Die Bilder sind stark, wiederholen sich aber zu häufig. An Pilcher, Lynch oder Almodóvar fühlte ich mich nicht erinnert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/09/29/schatten-katie-mitchell-inszeniert-elfriede-jelineks-feministische-mythenbearbeitung-an-der-schaubuehne/
Schatten (Eurydike sagt), Berlin: Leserkritik
Katie Mitchells Erzählung ist überaus stringent. Dunkel ist die Stimmung, ernst der Tonfall, dräuende Klänge und düstere Nahaufnahmen siedeln das Geschehen irgendwo zwischen Film noir und David Lynch an, ein Mystery-Psycho-Thriller, der sich vor allem im Kopf der Protagonistin abspielt. Mitchell gelingen eindrucksvolle Bilder größter Verlorenheit, Hoppereske Einsamkeitsmotive in tiefstem Schwarz, klaustrophobische Miniaturen in kalten Fahlrstühlen und durch menschenleere Tunnel fahrenden Autos. Die Spaltung der Titelfigur in eine Spielende (Böwe) und eine Sprechende (Stephanie Eidt) ist ebenso sinnig wie die Szenenaufspaltungen in Projiziertes und “Reales” plus der zusätzlichen Ebene der Fragmentierung von Bilder in ihre separat aufgenommenen Einzelteile. Vor allem Eurydike ist von sich selbst immer wieder weit entfernt, das einheitliche Bild auf der Videowand hat mit der “Realität” wenig zu tun, die wiederum auch nur dafür da ist, das schöne Scheinbild zu produzieren. Wer den Blick schweifen lässt, verfängt sich schnell in der Bildverfertigung, die natürlich immer auch Ausdruck und Instrument von Macht, von Unterdrückung, von Kontrolle ist.

Leider ist das hier gar nicht so einfach, denn der Film, den Mitchell dreht, zieht den Zuschauer von Anfang bis Ende in seinen Bann. Das düstere, atmosphärisch dichte innere Drama, das er zeigt, ist stringent, zwingend und von einer erstaunlichen visuellen wie technischen Perfektion. Da ist die ganze Produktionsebene mit ihren philosophischen und psychologischen Assoziationen ebenso schnell vergessen wie der eigentlich so wiederborstige Text Jelineks. In macht Mitchell angenehm stromlinienförmig beraubt ihn damit jedoch seiner widerspenstigen und widerständigen Kraft. Was bleibt, ist das zunehmende langweilige und selbstgefällige Gejammer einer Frau über ihren Objektstatus und ihre Ergötzung am Leiden als Lebensinhalt, ein klischeehafter egomanischer Mann (Renato Schuch) und ein paar Genreanspielungen (Maik Solbach als mysteriöser Unterweltwächter, der direkt einem David-Lynch-Film entstammen könnte), die sich selbst genügen. Der Vorwurf, der Mitchell oft gemacht wird, sie wäre eher Filme- als Theatermacherin, erweist sich hier vielleicht noch stärker als nicht unberechtigt als sonst. Am Ende ist es das Produkt, also die zusammengesetzten Bilder über den Köpfen der Darsteller*innen und des Filmteams, das einen Großteil der Aufmerksamkeit auf sich lenkt, nicht die zersplitterte Realität, die fragmentierten Identitäten oder gar die Textvorlage. Wenn es zuletzt sogar noch ein kleines Happy-End gibt, ist das eher Teil des Problems als der Lösung. Denn am Ende siegt hier, das, was an diesem Abend eigentlich auf den Müllhaufen hätte wandern sollen: der schöne Schein.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/04/die-rache-des-schonen-scheins/
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