Antigone Is Not Available Right Now - Sophiensaele Berlin
Rat aus der Unterwelt
9. Dezember 2023. Die Rebellin gegen patriarchale Macht, vor dem Hintergrund aktueller Krisen neu gelesen: An den Sophiensaelen tritt die US-Künstlerin Coco Fusco an, Antigones Anliegen zeitgemäß zu repräsentieren.
Von Esther Slevogt
9. Dezember 2023. Es fängt gut an: Via UPS kommen einige Kisten in der Literaturagentur "Persephone" an, wo eine kleine, energische Dame in ernstem Hosenanzug regiert. Prüfend blättert sie die Manuskripte durch, die sie diesen Kisten entnimmt, lauter zeitgenössische Überschreibungen antiker Stoffe: "Medea and Musk" etwa, offenbar ein Stück, in dem die antike Kindsmörderin und der aktuelle Twitter-Killer irgendwie eine Rolle spielen. Oder "Circe in Washington", ein Text, in dem laut Abstract die Richter des Obersten Gerichts irgendwann in Schweine verwandelt werden. An die Wand ist eine griechische Vase projiziert, auf der gelegentlich zu den schrulligen Klängen einer Zither animierte Figurensilhouetten ihre Kapriolen machen.
Calliope, so heißt die gestrenge Dame, die hier stirnrunzelnd die jeweiligen Abstacts der eingereichten Dramen verliest. In der Mythologie ist sie die Muse von Dichtung und Wissenschaft. Hier verwirft sie die kruden Adaptionen stets und schmeißt die Skripte zurück in die Kiste.
Bühnenstück zur Werkschau nebenan
Dabei ist sie selbst Protagonistin einer kruden Adaption: "Antigone Is Not Available Right Now" ist sie überschrieben, und der Abend tritt mit der Prämisse an, diese Figur, die stets als Rebellin gegen verschiedene Formen (patriarchaler) Macht interpretiert wurde, vor dem Hintergrund aktueller Krisen neu zu lesen. Ihre Schöpferin ist die amerikanische Künstlerin Coco Fusco, 1960 (im Jahr der kubanischen Revolution also), als Tochter einer kubanischen Mutter in New York geboren, die vor der Revolution dorthin geflüchtet war.
Seit den 1990er Jahren hat Fusco mit interdisziplinären Arbeiten zu postkolonialen Themen von sich Reden gemacht. In den Berliner Kunstwerken ist derzeit eine Retrospektive zu sehen, die zentrale Werkgruppen Fuscos aus den letzten dreißig Jahren präsentiert. Um die Ecke, in den Sophiensaelen, gehört Fuscos Performance zum Eröffnungsprogramm der neuen Künstlerischen Leitung Jens Hillje/Andreas Niederbuchner. Und Calliope, die gestrenge Literaturagentin, wird von Fusco höchst selbst dargestellt.
Keine Neigung zur Widerstandsberaterin
Diese Calliope sucht nicht nur neue Stoffe, sie vertritt auch so berühmte Figuren wie die Ödipus-Tochter Antigone, eine gewichtige abendländische Tragödienfigur, seit Sophokles sie vor etwa 2500 Jahren zur Protagonistin seines gleichnamigen Dramas machte und an ihrer Geschichte das Aufeinanderprallen von Staatsraison und individueller Ethik verhandelte: Antigone will den im Kampf gefallenen Bruder Polyneikes bestatten, obwohl das König Kreon verboten hat, der dem Verräter, der Polyneikes aus seiner Sicht ist, diese letzte Ehre verweigert.
So rufen also nun diverse Menschen bei Calliope an, und möchten die feministische Kämpferin gegen patriarchale Gewalt sprechen. Auf dem Video poppt per WhatsApp-Call etwa eine iranische Aktivistin auf. Eine gewisse Iris aus Brooklyn hat ebenfalls ein Anliegen. Auch das Sekretariat von Slavoj Žižek wird vorstellig. "Antigone is not available right now", wird ihnen stets entgegnet. Calliope erreicht die berühmte Tragödienfigur im Bademantel schließlich in einem Wellnessressort namens Hades. Irgendwie ist Antigone nicht besonders geneigt, die Rolle als Beraterin in Sachen Female Restistance weiter zu spielen. Aber was sie, und auch Coco Fusco stattdessen wollen, wird auch nicht so ganz klar.
Stargäste mit Antigone-Bezug
Zwar führt Antigone nun ein paar Video-Calls – jetzt in adretter Toga und nicer Hochsteck-Frisur. Mit Herrn Žižek zum Beispiel, dessen Darsteller sich so angestrengt bemüht, augenrollend Žižek berühmte Ticks beim Sprechen (Lispeln, Nase hochziehen, mit der Hand durchs Gesicht fahren) zu imitieren, dass man gar nicht mitkriegt, was sein Punkt eigentlich ist. Aber das kann man wahrscheinlich eh besser in seinem ersten und einzigen Stück von 2020 "Die drei Leben der Antigone" nachlesen.
Peter Sellars, vor etwa dreißig Jahren Schöpfer einer berühmten Salzburger "Antigone", tritt per Video dann höchstpersönlich mit einem Plädoyer für die Macht des Pathos und des Dramas in Erscheinung – auch er ist unter seiner legendären Sturmfrisur sehr damit befasst, sein eigenes Klischee zu verkörpern. Ferner erscheinen im Video: eine kubanische Theatergruppe, die mit Masken eine Antigone-Adaption performt, und eine russische Punksängerin, die über das Thema "Fuck Putin" extemporiert.
So recht aber will die Auseinandersetzung mit dem Stoff keine Form annehmen. Sie fällt im Wesentlichen durch eine enorme Oberflächlichkeit und leider auch eine gewisse Denkfaulheit auf. "Ich habe versucht, ihre Figur und ihren Widerstandsgeist im Lichte der politischen Kräfte, die derzeit die demokratischen Werte auf der ganzen Welt untergraben, neu zu interpretieren", heißt es in den "Anmerkungen der Künstlerin" zum Abend. Sehr große Worte, die der Abend nicht mal im Ansatz einzulösen vermag.
Antigone Is Not Available Right Now
von Coco Fusco
Passagen aus "Antigone" von Sophokles, ins Englische übersetzt von Ian Johnston
Text, Inszenierung und Produktion: Coco Fusco Videografie: Ryan Wang, Luis Eligio Pérez, Ton: Rosana Caban, Schnitt: Jessie Stead, Animationen: Melissa Brown, Brian Luna.
Mit: Coco Fusco. Im Video: Adam Bresnick, Alberto Menéndez, Alice Zelenko, Aminta Paiz, Benny Kardesh, Brashell Santos, Daniel Romero Pildain, Dora Sacer-Schoenwetter, Dread Scott, Eliecer Marquez, Elisabeth Herold, Francisco Morandi Zerpa, Jaki Levy, Jessie Steed, José R. Acosta, Karen Del Aguila, Kyle Beluci Johnson, Marcos Ortis, Martia Doherty, Sade Namei, Sarah McShane.
Premiere am 8. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.sophiensaele.de
Kritikenrundschau
"Wie in einem Potpourri werden nahezu alle virulenten politischen Thema mehr oder weniger ernsthaft angetippt, das Spektrum reicht von Putin über feministische Fragestellungen bis hin zum Realitätsverlust der "Digital Natives", schreibt Raimar Stange vom Magazin Monopol (9.12.23). Der Kritiker ist enttäuscht, er hätte nach dem Besuch von Coco Fuscos Ausstellung im Berliner KW mehr erwartet.
"In Fuscos untheatraler Sprachperformance nun rauschen Dramen-Zitate, Versatzstücke aus aktuellen Diskursen und das gewitzte Geplauder der Vertreter von Kunst und globalem Aktivismus, die Coco Fusco in Videoanrufen herbeiruft, in einem Tempo vorbei, dass man kaum folgen kann. Wenig verfängt von dem selbstgefällig wirkenden Schlagabtausch", schreibt Elena Philipp in der Berliner Morgenpost (9.12.2023).
In der taz (17.12.2023) stellt Katrin Bettina Müller fest, "dass die Formate bildender Künstler im Theaterraum in Dramaturgie und Rhythmus etwas lahm daherkommen". Sie hat mehrere der Eröffnungsstücke gesehen und bescheinigt Coco Fusco eine amüsante Show, "weil sie dem Aktivismus in der Kunst, der vor allem Statements abgeben will, ironisch begegnet und die Instrumentalisierung der Figur Antigone als Ikone des Widerstands vorführt". Was die Figur aber wolle, außer in Ruhe gelassen zu werden, bleibe im Vagen.
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