Die Zukunft von gestern. Menschenbilder 2.0. – Nico and the Navigators feiern in den Berliner Sophiensälen das zwanzigjährige Bestehen der Gruppe
Melancholie-Vollbad
von Janis El-Bira
Berlin, 2. Oktober 2018. Sie kommen in die Jahre, die Heldinnen und Helden der Berliner Freien Szene. Hatten am Wochenende noch die Performer von She She Pop ihr 25-jähriges Bestehen im HAU mit einer mehrteiligen Riesensause begangen, sind es nun Nicola Hümpel und Oliver Proske, die mit ihren "Navigators" offiziell das Teenageralter überwunden haben. Zwanzig Jahre nämlich ist es auch schon wieder her, dass Nico and the Navigators als artists in residence mit ihrem neuartigen Mischwesen aus Tanz-, Musik und Performancetheater an den Berliner Sophiensälen anheuerten, um berühmt zu werden. Ein Grund zum Feiern.
Ewig bewegte Landschaften
Und so kehrt das Ensemble – um einige melierte Schläfen weiser – zum Geburtstag an den Ort der ersten Erfolge zurück. Soufflé-leicht und zuckersüß ist dieser Abend geworden, der die Rückschau schon im Titel trägt: "Die Zukunft von gestern. Menschenbilder 2.0". Denn "Menschenbilder" hieß bereits der Zyklus an den Sophiensälen, mit dem die Kompanie zwischen 1999 und 2005 in den Fokus und bis auf die Longlist des Berliner Theatertreffens rückte. "Tanz doch mal bei den Navigators vor", erinnert sich auf der Bühne die Tänzerin Anna-Luise Recke, habe man ihr damals geraten. Ein Satz von so irrer Selbstverständlichkeit, dass er fast eine ganze Epoche wieder auferstehen lassen kann. Berlin war groß und grau und die Kunst lauerte überall.
Heute ist Berlin bekanntlich vor allem groß und noch größer, weshalb die Navigators geburtstagsgerecht auch lieber vom Gestern erzählen. Drei transparent-mobile Videoscreens hat Oliver Proske dafür ins Schummerlicht des hohen Raums gesetzt. Auf ihnen zerfließt die Zeit: Landschaften, Häuserfassaden und Flüsse ziehen dahin, ewig bewegt wie in einer besonders geschmeidigen Installation von Bill Viola. Dazwischen und darüber tanzen, sprechen und singen die Performerinnen, rechts spielt die Musik. Natürlich ist viel Meta-Witz dabei, dankend goutiert von den mitergrauten Fans im Publikum.
Zuckersüße Selbstbehauptungsgeschichten
Denn damals, als man anfing, durfte man noch nicht kopfwackelnd von der Bühne abtreten, war der "neutrale Stand" die Grundpose allen Schauspiels, wie Martin Clausen zu Beginn an seinem Kollegen Patric Schott demonstriert. Jener erzählt zwischendurch, wie er über die Jahre zwar in den allermeisten Stücken der Truppe auftrat – aber insgesamt nur acht Sätze sprechen durfte. Dafür war er sehr oft nackt. Selbstbehauptungsgeschichten dieser Art sind es, die der Nummernfolge ihren humanistischen Kitt schenken: Zum Theater gekommen, die Liebe gefunden.
Und so ziehen mit den Videolandschaften auch die Performance-Standards der letzten zwanzig (und mehr) Jahre vorbei. Das Private wird Theater, das Theater privat. Ein prosaischer Spannholztisch verwandelt sich während der auch textlich berührenden Auftritte von Annedore Kleist in die schwere Eichentafel der Weihnachtsessen ihrer Kindheit, bevor Schlagzeuger Philipp Kullen und Michael Shapira das Möbel stark impro-theatral wegtrommeln. Später verknoten Shapira und Recke virtuos die Körper und japsen "Time after Time".
Dunkler tönende Zeit
Überhaupt, die Zeit: Sie tönt dunkler im letzten Drittel des Geburtstags, wenn auch der Tod sanft über die Schultern dieser freundlichen Vierziger lugt. "Zum Sterben und zu meiner Ruh...", deklamiert Annedore Kleist aus der Bach-Arie "Bist du bei mir". Yui Kawaguchi singt ein japanisches Lied auf die Melodie des (eigentlich völlig unmöglich gewordenen) Pachelbel-Kanons. Das war immer schon so eine Sache bei den "Navigators", dieser gewisse Hang zu den allfälligen Classics aus dem 5-Euro-Sampler-Regal. Das Melancholie-Vollbad fällt für einen zwanzigsten Geburtstag jedenfalls eine Spur zu heiß aus.
Aber vielleicht gehört auch das bloß zu den Eigenarten dieser spezifischen Idee von Theater: Dass es nie wirklich jünger sein kann als die Menschen, die es machen. Doch das muss ja nichts heißen.
Happy Birthday.
Die Zukunft von gestern
Menschenbilder 2.0
von Nico and the Navigators
Von und mit: Martin Clausen, Yui Kawaguchi, Annedore Kleist, Anna-Luise Recke, Ted Schmitz, Patric Schott, Michael Shapira
Musik: Philipp Kullen (Schlagzeug), Tomasz Prasqual (Tasteninstrumente), Tobias Weber (Gitarren), Künstlerische Leitung: Nicola Hümpel, Bühne: Oliver Proske, Leitung Bühnenmusik: Tobias Weber, Kostüme: Cristina Lelli, Künstlerische Mitarbeit: Alisa Hecke, Video: Tina Zimmermann, Live Video Editing: Joscha Eckert, Licht: Fabian Bleisch, Ton: David Rusitschka, Bühnenbildassistenz: Holger Müller, Produktion: Judith Bodenstein, Raphael Reher
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.sophiensaele.com
Das "melancholisch dahin plätschernde Tanz-Musik-Erinnerungspotpourri vor Videowand kreist nur um seinen eigene malerische Nettigkeit", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (4.10.2018). "Die Navigators haben es sich in ihrer gepflegten Kauzigkeit gemütlich gemacht. Dennoch bleiben sie mit ihrer professionellen Interdisziplinarität, ihrer Arbeit am Gesamtkunstwerk zwischen Jaques Tati, Bach, Tiergarten und Cindy Lauper etwas sehr Besonderes. Und sei es nur, weil ihnen der übliche Theorieanschluss der Peformancekultur abgeht."
"Reihum darf eine jede und ein jeder aus dem Nico-and-the-Navigators-Ensemble eine Geschichte aus der Kindheit erzählen, oder die Geschichte des Eintritts in das Ensemble", berichtet Eberhard Spreng betont deskriptiv im Deutschlandfunk (3.10.2018). Die Videoleinwand zeige "auch abstraktere Bilder, die Nahaufnahme einer geschliffenen Metalloberfläche, oder das immerfort aufbrodelnde Schraubenwasser am Heck eines Schiffes. Ach ja, man fährt und Zeit vergeht."
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„Die Zukunft von Gestern“ ist vor allem ein Abend für Fans, Insider und Weggefährt*innen: voller Rückblenden, poetisch-versponnen, im Lauf der knapp 90 Minuten immer assoziativer ohne den klaren roten Erinnerungs-Faden. Es ist sicher nicht die stärkste Arbeit von „Nico and the Navigators“, gegen Ende etwas ermüdend.
Aber die besondere Handschrift der Gruppe mit ihrer ganz eigenen, in keine Schublade passenden Mischung aus Performance-Experimentierfreude, Musiktheater und Tanz ist auch bei dieser Jubiläums-Produktion klar erkennbar, mit der sie nach Ausflügen in die Zionskirche, ins Radialsystem V oder auf Kampnagel in Hamburg wieder zu ihren Wurzeln in die Sophiensaele zurückkehrten.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/10/04/die-zukunft-von-gestern-nico-and-the-navigators-kritik/