Terra In Cognita - Mit einem so klang- wie bildgewaltigen Abend geht Jo Fabian am Staatstheater Cottbus auf die Suche nach dem, was uns als Gemeinschaft ausmacht
Wir, das unbekannte Land
von Frank Starke
Cottbus, 24. März 2018. Es wird viel getrommelt, aber auch gesungen in Jo Fabians jüngster Arbeit am Cottbuser Staatstheater. "Terra In Cognita" hat der Schauspieldirektor das Projekt benannt, dem es nicht so sehr um das Unbekannte auf der Landkarte geht. Die Beteiligten wurden am Beginn der Produktion aufgefordert, nach dem Unbekannten in sich selbst zu suchen, und zur Premiere wurde dieser Auftrag an die Zuschauer weitergereicht. Macht was draus!
Von Michelangelo über Beuys bis Marthaler
Das Vorhaben dieser Stückentwicklung erscheint anmaßend: In drei Bildern, einer Art Bühnentriptychon, soll nicht weniger als die komplette Entwicklungsgeschichte der Menschheit erzählt werden. Herausgekommen ist ein ungewöhnlicher Abend, der mit vielerlei Mitteln spielt, mit Videos arbeitet, immer wieder Textpassagen einstreut, den Aktionen der Beteiligten vor allem im Mittelteil viel Raum gibt. "Choreografisches Bildtheater" hat Fabian das Ganze benannt.
Am Beginn eine Art Galeerensituation. Wir sehen zehn Ruder, die in den roten Raum ragen, ein Trommler gibt drängend den Rhythmus vor. Dann aus dem dunklen Untergrund erst leiser, dann immer weiter anschwellender Chorgesang. Man sieht Schemen von Menschen, die wieder im Dunkel verschwinden. Nach 15 Spiel-Minuten eine erste Pause, in der es, so eine Stimme aus dem Off, einen Kommentar von Joseph Beuys zur Lage der Nation gebe. Man hört, mal geflüstert, mal geseufzt, sein "Ja, ja, ja, nee, nee, nee". Wie die Inszenierung überhaupt spielerisch vielerlei von dem einflicht, was die Kunstgeschichte in alter wie neuer Zeit hervorgebracht hat, von Michelangelos David-Figur bis zu anrührenden Lied-Passagen aus Marthaler-Inszenierungen und Ruben Östlunds preisgekröntem "The Square"-Film.
Wimmelbild des unausweichlichen Miteinanders
Am Beginn des zweiten Teils eine bühnenfüllende Video-Animation mit Spielszenen aus 2000 Jahren Geschichte: Da steht das römische Reiterheer neben einer Kreuzigungsszene, eine mittelalterliche Gerichtsszene neben roten Fahnen, der französische Maler-Impressionist samt Modell neben vier Ausdruckstänzerinnen. Auch der Trommler ist wieder dabei, hinter seinem Instrument taucht für Momente ein Mini-Nazi auf. Dieser Hauptteil spielt in einem Schlafsaal. Hier müssen sie nun alle miteinander auskommen: Der Nazi, der Jude und der Muslim. Der Heizer, der Bonze, der Pastor. Die Reisende, die Blinde und der Beamte. Über allem die Frage: Was bleibt von radikalen Ideologien, wenn das Miteinander unausweichlich ist?
Es scheint wie auf einem Wimmelbild, und es ist faszinierend zu sehen, wie die drei Schauspielerinnen und neun Schauspieler eine Vielzahl kleiner und kleinster Geschichten erzählen. Das ganze mal archaisch-animalisch, dann wieder sehr fein gesetzt. Es gibt eine Sintflut und den Tanz auf dem Vulkan, aber auch vielerlei Versatzstücke aus Geschichte und Alltag. Und immer wieder wechselnde Rollen. Da legt der Nazioffizier irgendwann seine Kleider ab, um in den Rock der 1900-Frau zu schlüpfen und dann zu einer Art japanischem Kämpfer zu werden. Da gibt es den schlüpfrigen Priester und den Offizier, der den Juden nicht ohne gelben Stern gehen lässt.
Wir müssen wieder zu leben lernen
Da geht es aber für Momente auch um die die Mühen einer Flüchtlingsfrau mit den deutschen Behörden, genauso wie um die Nöte der Hiesigen, sich in der alltäglichen Fülle der Angebote nicht mehr entscheiden zu können, aber auch um den Druck der Miethaie auf das öffentliche Leben. Schließlich in all dem Hin und Her, Auf und Ab eine Durchsage: "Werte Fluggäste, es wurde ein herrenloser Koffer gefunden. Bitte begeben sie sich …" Und bloß keine Panik. Es ist eben jenes Gepäckstück, das die Dame in Schwarz irgendwann nicht mit auf das überfüllte Boot nehmen durfte. Detonation.
Im dritten Teil ein großes Trommel-Happening, mit furioser Steigerung. Auch die Schauspielerinnen und Schauspieler werden dabei zu Schlagwerkern. Über allem noch einmal, wie schon oft zuvor, eingesprochene Textpassagen, mit Aufforderungen wie "Wir müssen wieder zu leben lernen", "Nieder mit Hass und Unterdrückung", "Mehr Menschlichkeit". Was normalerweise plakativ klingen könnte, fügt sich hier in einen Abend, der durch seine Klang- wie Bildgewalt zu bemerkenswerter Wirkung findet.
Terra In Cognita
Choreografisches Figurentheater von Jo Fabian
Uraufführung
Regie/Choreografie/Bühne/Kostüme/Video: Jo Fabian, Musikalische Leitung: Hans Petith, Schlagwerk-Einstudierung, Sounddesign: Lars Neugebauer, Dramaturgie: Lukas Pohlmann.
Mit: Ilona Raytman, Lisa Schützenberger, Michaela Winterstein, Michael von Bennigsen, Kai Börner, Rolf-Jürgen Gebert, Gunnar Golkowski, Thomas Harms, David Kramer, Boris Schwiebert, Axel Strothmann.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, zwei Pausen
www.staatstheater-cottbus.de
"Indem Jo Fabian versucht, für die Auseinandersetzung mit der heutigen politischen Situation eine eigene Theatersprache zu finden, gelingt ihm ein über weite Strecken beeindruckender Abend. Zwar überzeugt der nicht immer, doch er fordert das Publikum mit vielen starken Momenten und einigen surrealen Passagen", schreibt Hartmut Krug in der Lausitzer Rundschau (25.3.2018). Fabian zeige in einer Zeitreise, was die Menschheit antreibe.
"Nach der Premiere ist man beruhigt: Es funktioniert, es reicht für den großen Saal und es bewegt." Fabian gelinge wirklich ein fundamentales Theaterereignis, jubelt Andreas Herrmann in den Dresdner Neuesten Nachrichten (29.3.2018). Er begibe sich auf eine neue Stufe des von ihm erfundenen 'spektralen Theaters', "das vor allem durch die Ruhe, mit der er Sinneswirkung zulässt, fasziniert". Zum Schluss schreibt Herrmann: "Natürlich ist das plakativ, dennoch ist dieser jeweils individuelle, aber kantische Ausbruch als Aufbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit vielleicht die einzige (wie letzte) Chance vor der Apokalypse, die in verschiedenen Arten unter mehreren Tarnkappen lauert – hier dargeboten als Kraftakt mit dem Wissen um ein starkes Ensemble – und gewinnt bei jedem Nachdenken eine neue Facette."
"Vergangenes, Gegenwärtiges und vielleicht auch Künftiges steht nebeneinander. Und keiner macht sich die Mühe, es auseinanderzuklamüsern", schreibt Lena Schneider vom Tagesspiegel (3.4.2018) über eine "Arbeit mit Bekenntnischarakter". Jo Fabians Abend liefere Musik und Bilder, "die sich einbrennen, unverhohlen auf Emotionen abzielen".
"Ist Theater nicht ein bisschen mehr", fragt Stephanie Lubasch in der Märkischen Oderzeitung (6.4.2018). "Bekannt ist Jo Fabian als ein Maler auf der Bühne. Nun liefert er nur ein paar Skizzen ab."
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"Wir müssen wieder zu leben lernen", "Nieder mit Hass und Unterdrückung", "Mehr Menschlichkeit"
gegen teile und herrsche - gegen die "kultivierung von freund/feind=schwarz/weiß-bildern" ... in einer stadt, deren menschen damit ERFAHRUNGEN haben!!!
möge JEDER das unbekannte in seinem kopf erfühlbar machen ... bravo!