Memento mori und Spaß dabei

24. Juni 2023. Zwei Uraufführungen von Manuela Infante und Alessandro Schiattarella eröffnen das Festival Theaterformen. Während draußen der Sturm wütet, stehen die Zeichen im Saal auf Empowerment und heitere Melancholie. Sogar der Tod verliert hier seinen Schrecken.

Von Jens Fischer

 

"Was ihr nicht sehen könnt" von Manuela Infante © Katrin Ribbe

24. Juni 2023. Feucht schimmert der Boden. Die Sonnenanbeter- und Klappstühle harren der Besetzer. Verrammelt ist die Bar. Das zum Kühlen sommerschweißiger Füße hergerichtete Wasserbecken spiegelt nur die grimmige Wolkendecke. Zur Eröffnung der diesjährigen Theaterformen erscheint als ungebetener Gast das Unwettertief Lambert. Dabei ist für die Besucher extra die Prinzenstraße vorm Schauspielhaus Hannover gesperrt, mitten auf die Fahrbahn hat das britische Kollektiv "The DisOrdinary Architecture" ein Treffpunkt-Deck installiert, plastikblau gerahmt, plastikblau ausgelegt, plastikblau bestrahlt. Aber nicht die Plastikvermüllung der Ozeane soll so kritisiert, sondern das "Making waves"-Motto illustriert werden. Für das auch Wellen auf Planen gemalt sind und eine Sitzbank in Wellenform daherkommt.

"How do you feel?"

Das verweist aber weniger auf inhaltliche Setzungen der 13 gezeigten Produktionen aus zehn Ländern, ist eher PR-symbolisch gemeint. Wellen wolle man schlagen, etwas in Bewegung bringen, Veränderungen stiften, sagt die künstlerische Leiterin Anna Mülter dann im regensicheren Schauspielhausfoyer zu ihrer dritten Festivalausgabe. Während der Taube Performer Daniel Kotowski als "Feeler" durchs Publikum stolziert, per Handy "How do you feel?" fragt und einlädt, eine Antwort einzutippen. Aber auch Gebärdendolmetscher, auf deren Westen "DGS to go" steht, können hinzugebeten werden, um in den Dialog kommen.

Denn abseits der Wellenrhetorik möchte das Festival wirklich etwas: Barrierefreiheit und Inklusion steht bei Mülter ganz oben auf der Agenda. 2023 geht es ihr darum, Begegnungen hörender und tauber Menschen ebenbürtig zu ermöglichen und gerade deren Kunst als stark visuell geprägten und dank der weltweit über 300 Gebärdensprachen per se höchst performativen Ausdruck einer Minderheitenkultur zu feiern, die zeitgenössische Theaterformen inspirieren könne. Mit an Bord ist daher die taube Gastkuratorin Rita Mazza.

WasIhrnichtsehenkoennt1 805 Katrin Ribbe uDas Wetter ist das kleinste Problem © Katrin Ribbe

Schnell noch die Sektkelche leergenippt, schon hält das vor den Türen tobende Gewitter auch auf der Schauspielbühne Einzug. Die Eskalation des Wetters von sanft sommerbrisiger Schmeichelei hin zu sturmdurchtobten Starkregenattacken wird beschrieben, während ein kauzig brillantes Komiker-Trio in einer verwüstenden Illusionslandschaft mit herausgeächztem Kraftaufwand versucht, das Windkraftanlage-Bühnenbild und damit "die Zukunft" abzubauen, wie sie so drauflos fabulieren.

Bis die gesamte Bühnenmaschinerie in Wallungen gerät und zeigt, was sie kann, während die Stimmen der Spieler, traktiert mit Hall, Verzerrung und Verstärkung, zu apokalyptischem Lärm anschwellen. Später wird auch mal die Nulllinie des Lebens und der Schmerz existenzieller Einsamkeit in nervenzerrende Klangblähungen übersetzt. Mit "Was ihr nicht sehen könnt" ist diese Uraufführung der chilenischen Regisseurin und Autorin Manuela Infante betitelt, ein Stammgast bei Mülters Theaterformen.

Achtung Blutsauger!

Die drei Mimen kommen wie bleiche Beckett-Endspieler daher, geben sich jedoch bald als Vampire zu erkennen, die als Bühnenarbeiter in der Nachtschicht jobben und sich vom dummerweise anwesenden Publikum nun zu Unterhaltungsangeboten genötigt sehen. Also lehrtheatern sie ein bisschen. Erklären halt die Windturbinen-Metapher und dass sie selbst als unglücklich erschöpfte Figuren für unsere Gesellschaft stehen. Mehr muss man doch nicht sagen. Das Publikum kann gehen. "Sie waren ganz wunderbar. Das ist doch Kunst. Bezahlen, Verstehen, nach Hause." Aber alle Zuschauer bleiben lächelnd, schmunzelnd, lachend den unwilligen Entertainern treu.

Also sprechtanzen sie weiter in gekonnt improvisiert wirkendem Duktus durch diverse Modethemen – Christians (Nils Rovira-Muñoz) Outing kommt zur Sprache, Balthasar (Torben Kessler) verhöhnt Menschen, die immer auf Handys starren, es geht um Effizienzwahnsinn, Wissenschaftskritik, Klimawandel, Kommerzialisierung und so weiter. Die ewig lebenden Toten zelebrieren auch eine chorische Schreitherapie und erinnern an ihren Ruf, aufgrund der Ernährungsweise für Sex und Gier zu stehen. Victoria (Helene Krüger) beschreibt ihren Initiationsbiss als Vergewaltigung, ist aber auch damit beschäftigt, die infektiösen Kollegen am Sturm zu den Bluttankstellen im Parkett zu hindern.

WasIhrnichtsehenkoennt2 805 Katrin Ribbe uSturmfest und erdverwachsen © Katrin Ribbe

Das alles ist mal Slapstick-putzig, mal humorig absurd, mal hintergründig albern, mal schlurfig langweilig – oder rührend ernst. Immer wieder lodert als Kernthema die Angst vor der Fragilität des Konstrukts Gesundheit auf. Infante erklärt im Programmflyer den Vampir als eine Kreatur, die aus dem Tod zurückkehrt, um uns daran zu erinnern, dass Krankheit, Verfall oder Tod etwas sei, das wir nicht verdrängen, verleugnen, begraben können in der Hoffnung, dass es dadurch verschwinde. Es geht also um das Verständnis des Lebens als Krankheit zum Tode wie es Søren Kierkegaard mal beschrieben hat.

Leichtfüßig am Abgrund

Um damit einen Umgang zu finden, schlagen die müden drei die selbst praktizierte Entschleunigung vor und rezitieren so lang wie schlapp unter einem riesigen Mond aus dem Essay "Über das Kranksein" von Virginia Woolf. Darin wird Krankheit als Möglichkeit beschrieben, endlich mal aus der Zeit zu fallen – "unverantwortlich und unbeteiligt und vielleicht zum ersten Mal seit Jahren imstande, um uns zu schauen, hineinzuschauen – den Himmel, zum Beispiel". Der dann auf einem riesigen Prospekt ins Bühnenlicht gerückt und mit der Botschaft des Abends geschmückt wird: "Nur die Darniederliegenden sind es, die wissen, was die Natur schließlich kaum zu verbergen bemüht ist – dass sie am Ende siegt."

Um das zu formulieren, musste Woolf ihr Leben lang mit schweren Depressionen und psychischen Zusammenbrüchen kämpfen, was ihre Neudeutung von Krankheit doch wenig attraktiv erscheinen lässt. Dass die Passagen und der ganze Abend aber nicht traurig bis verzweifelt, sondern im leichtfüßigen Gründeln freudig entspannt machen, kennzeichnet dieses lustvoll verspielte, letztlich locker-lustigste Memento mori seit Langem.

Zer brech lich2 1200 Clemens Heidrich u"Zer-brech-lich" von Alessandro Schiattarella und Ensemble © Clemens Heidrich

Alessandro Schiattarellas Inszenierung "Zer-brech-lich" ist die zweite Theaterformen-Uraufführung. Dabei wird fröhlich inkludiert und gezeigt, dass eine körperliche Einschränkung nicht als Behinderung gelesen oder als Manko überspielt werden muss, sondern als Vorteil, als das Besondere herausgestellt und als eigene Qualität ästhetisch genutzt werden kann. Verstanden auch als Gegenentwurf zu nivellierten Körperidealen, die "toxische Illusionen" sowie "von unserer kapitalistischen Gesellschaft perpetuierte Vorurteile" seien, wie die Performerinnen betonen.

Die Lettin Victoria Antonova, die Italienerin Alice Giuliani und die in Algerien geborene Laila White stellen sich selbst und ihre diversen Körper vor, verstehen die Narben als krass coole Tattoos, Diskriminierungen als Kraftquelle und die erlebte eigene Verletzlichkeit wie bei Infante als zu akzeptierende Wirklichkeit, ja, als Zeichen des Menschseins. Alle singen mehr oder weniger oder gar nicht gekonnt einige um die aufgemachten Sujets kreisende Songs von Gina Été, die Richard Schwennicke mit Beats und Sounds in ziemlich beliebige Popgewänder in Übergröße kleidet. Dazu sind die Performerinnen interagierend unterwegs, erkunden und erobern Möglichkeiten eines eigenen Motionskanons. Auch lassen sie sich zu symbolischen Szenen hinreißen wie das Durchbrechen von (Schaumstoffquader-)Wänden.

Dramaturgisch, musikalisch und choreografisch weiß die Arbeit dabei nicht durchweg zu überzeugen. Wie sie allerdings Behinderung sichtbar macht, sie temporär zum Tanzen, Klingen und Sprechen bringt, besticht als humorvolles Miteinander-Empowerment. Es wird in der nächsten Spielzeit mit der Produktion "Breaking point" fortgesetzt.

Was ihr nicht sehen könnt
von Manuela Infante
Text, Konzept und Regie: Manuela Infante; Konzept, Musik und Sounddesign: Diego Noguera; Bühne und Licht: Rocío Hernández; Kostüme: Annabelle Gotha; Dramaturgie: Camila Valladres, Johanna Vater.
Mit: Torben Kessler, Helene Krüger und Nils Rovira-Muñoz.
Kooperation mit dem Schauspiel Hannover
Premiere am 23. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

Zer-brech-lich
von Alessandro Schiattarella und Ensemble
Regie, Choreografie: Alessandro Schiattarella; Musikalische Leitung: Richard Schwennicke; Bühne: Margarete Albinger; Kostüme: Giulia Marcotullio; Licht: Uwe Wegner; Dramaturgie: Martin Mutschler; Songwriting: Gina Été; Xchange: Matthias Brandt / Daniel Riedel.
Mit: Victoria Antonova, Alice Giuliani und Laila White.
Kooperation mit dem Schauspiel Hannover
Premiere am 23. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.theaterformen.de

 

Kritikenrundschau

"Das Klischee des Vampirs, und mit ihm jede Erwartungshaltung an den Abend, wird bedient und entzaubert", schreibt Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (24.6.2023) über "Was ihr nicht sehen könnt". Es gebe "Mythen in Tüten, gerührt und geschüttelt, streckenweise sehr unterhaltsam" (…) "Es ist, sagt dieses Stück, okay, auch mal nicht zu funktionieren, erschöpft zu sein, überfordert und todmüde", so Gohlisch: "Lebendiger als hier kann man das kaum illustrieren."

"Dramatik ist die Erlebniswährung des Theaters." Wenn sie fehle, werde es schwierig. "Aber dafür meist auch ein bisschen anspruchsvoll", schreibt Ronald Meyer-Arlt hin- und hergerissen in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (24.6.2023) über "Was ihr nicht sehen könnt". "Ausdrücklich wurden die Zuschauerinnen und Zuschauer dazu ermuntert, die Vorstellung bei Bedarf zu verlassen und dann gestärkt, erfrischt oder erleichtert zurückzukommen. Kaum jemand machte von dem Angebot Gebrauch." Das möge auch dem Thema geschuldet sein: "Krankheit geht uns schließlich alle an." Und das Zitieren des Virginia-Woolf-Essays am Ende sei dann auch noch "ein berührender Moment".

Infante mache "aus den komplex verflochtenen Bedeutungssträngen des Vampirismus" weniger eine Erkundung der Verwandlungen "als eine Mitleidserzählung", so TIll Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (27.6.2023). Was lustig-unterhaltend gemeint sei, werde "in der langen Publikumsansprache mit ein paar Slapsticknummern aber eher zu einer sehr müden Veranstaltung, die interessante Horizonte ausgrenzt". Alessandro Schiattarellas "Zer-brec-lich" wiederum käme nicht "über das Niveau von eitlen Albernheiten" hinaus. Für Briegleb "hinterließen die ersten vier Tage das unzufriedene Gefühl, das hinlänglich von jedem Missionars-Theater bekannt ist. Der Wunsch, niedrigschwellig Botschaften an die Menschen zu bringen, die von Betroffenen selbst formuliert werden, verschiebt die Gewichte von der Kunst zur Didaktik."

 

 

 

 

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