Yellow Line - Juli Zehs und Charlottes Roos' schräges Flüchtlingsdrama in einer Inszenierung aus Zagreb und eine Bilanz der Braunschweiger Theaterformen 2012
Show mit gekaperter Kuh
von Michael Laages
Braunschweig, 10. Juni 2012. Schlicht zu bedauern war das Festival-Team, das sich da gerade elf Tage lang – und diesmal wieder in Braunschweig – um "Theaterformen" bemüht hatte; das kleine und sehr besondere Treffen internationaler Theatermacher kommt ja so konzentriert wie zielstrebig (und mal mit mehr, mal mit weniger Glück) der recht klar definierten Aufgabe nach, extrem unterschiedliche Spielarten des theatralischen Ausdrucks zu präsentieren.
Eher selten geht es dabei um "Stücke" im konventionelleren Sinne – aber ausgerechnet die kroatischen Partner des gastgebenden Staatstheaters, durch Unterstützung des "Wanderlust"-Fonds der Bundeskulturstiftung mit Braunschweig verbandelt, bescherten dem Festival gleich zwei wirklich fundamentale Missverständnisse, und das Schlimmste zum Schluss: Regisseur Ivica Buljan fand mit dem Ensemble des z/k/m-Theaters aus Zagreb überhaupt keinen Zugang für "Yellow Line", die Auftragsarbeit von Juli Zeh und Charlotte Roos. Schlimmer noch – die Inszenierung sah so aus, als habe Buljan sich darum auch gar nicht bemüht.
Ein Zivilisationsflüchtling der grundsätzlichen Sorte
Immerhin fällt im Stück eine Kuh vom Himmel. Was vor fünfzehn Jahren einem japanischen Fischer im Ochotskischen Meer wohl tatsächlich geschah, bricht hier über einen Ägypter herein, dessen Boot gerade das Mittelmeer zu queren versucht; von Europas pingeligen Grenzkontrolleuren wird er bestenfalls als Wirtschaftsflüchtling, schlimmstenfalls als Terrorist verdächtigt, während er immer nur nach einem gewissen Herrn Mubarak fragt, der mit im Boot gewesen sein soll. Um den echten Ex-Staatschef geht's aber nicht – Zeh und Roos wollen vielmehr die Geschichte der Kuh erzählen und wie sie in das Flugzeug kam, aus dem heraus sie Herrn Asch-Schamich (so heißt der Ägypter) ins Boot fiel.
Paul ist schuld daran – der ist ein Zivilisationsflüchtling der grundsätzlicheren Sorte, der das eigene Leben Schritt für Schritt mehr und mehr reglementiert sieht und darum zum Beispiel keine "Yellow Line", keine gelbe Linie mehr akzeptiert, Sicherheitsabstand hin, Privatsphäre her. Auf der Flucht vor der Welt, wie sie ist, und nach vergeblichen Versuchen öffentlicher Provokation kapert er dort, wo einst die heimische Idylle war, eine Kuh, um sie zeichensetzend nach Afrika hinüber zu fliegen. Das Flugzeug gerät in Stürme, und der Pilot schmeißt natürlich als erstes die Kuh raus … so weit, so sonderbar.
Katzenmusik
Zu sonderbar offenbar für Ivica Buljan – der lässt sich für nicht eine Minute in fast zwei Stunden auf die Motive von Zeh und Roos ein und bricht stattdessen eine Art Pop-Show vom Zaun; getreu der Strategie, dass, was nicht verstanden werden kann oder soll, wenigstens gesungen werden muss. Alle Ensemblemitglieder aus Zagreb (und Tobias Beyer als Braunschweiger Ensemble-Alibi für die "Kooperation") sind auch musikalisch tätig und schrammeln mehr schlecht als recht auf den Instrumenten herum; die Katzenmusik, die dabei entsteht, war sicher selbst in Kroatien schon vor längerer Zeit mal modern.
Zudem beginnt das szenische Gewurschtel dieser Show mit Kuh auf einer Kunst-Auktion, wo moderne Meister die eigenen Werke zugunsten all der Profi-Profiteure versteigern, die die arabischen Aufstände finanziert haben … das hätte eine schöne grobe Polemik werden können. Aber auch die hat Buljan wohl nicht wirklich interessiert. Was aber dann? Nur die Fördergelder aus dem deutschen Fonds "Wanderlust"?
Was bisher geschah: "Landscape with the Fall"
Die Ergebnisse ihres "Pioniere"-Programms sollten die Braunschweiger dringend evaluieren – denn auch Ivana Sajkos Text "Landscape with the Fall", zur Festival-Eröffnung inszeniert von der Braunschweiger Haus-Regisseurin Daniela Löffner, war ja nicht eben ein Glücksfall. Fern aller theatralischen Motive, jammert hier eine werdende Mutter über das Elend der Welt im Allgemeinen und der Männer, genauer: des eigenen Manns im Besonderen; und wie gern sie sich (wenn sie ein Vöglein wär') vom Balkon aus erheben würde – über den Alltag der darbenden Stadt, in der sie leben muss, und erst recht über die Bootsflüchtlinge, die im Hafen noch auf Zukunft hoffen, bevor sie schließlich als Fackeln im Meer versinken.
Sajkos Text poetelt finster vor sich hin und zitiert dabei mindestens zwei starke Bilder – eben Breughels "Landschaft mit dem Fall des Ikarus" von 1558 und den Feuersturm, in dem der deutsche Zeppelin "Hindenburg" in New York vor 75 Jahren unterging. Regisseurin Löffner hat sich darum entschlossen, ihrerseits "Bilder" zu gestalten auf der Bühne, und zwar radikal und nur das – aller Text kommt vom Braunschweiger Ensemble (inklusive Alibi-Kroate) aus der ersten Publikumsreihe, und immer wieder gehen einzelne oder mehrere hinauf und knallen viel bunte Farbe an bühnenhohe Papierbahnen. Ein Happening – mehrere Lagen hintereinander ergeben, immer wieder herunter gerissen, bunt beschmiert, einen prächtigen Papierberg auf der Bühne: das ist Sajkos mittelmäßiger Text.
Auch das gab es: Highlights
Gleich zwei Mal also kam keine Übereinkunft zwischen Text und Regie zustande – wie gut also, dass das "Theaterformen"-Festival eigentlich etwas ganz anderes will: Spielweisen zeigen, wie sie vielleicht noch nie und nirgends zu sehen waren. Auch da war die Bilanz der 13. Ausgabe eher durchwachsen – Highlights waren "Freetown", die von der freien Gruppe Dood Paard grandios selbstquälerisch zwischen lauter leeren Dosen zelebrierte Gardinenpredigt dreier niederländischer Touristinnen, die an den Stränden der ärmsten Länder Afrikas schnelle Erotik suchen und sich dabei noch immer für die Gutmenschen aus der reichen Welt halten, oder "Springville", eine stumme und sehr finster-komische Performance von Miet Warlop, in der Menschen zu Maschinchen mutieren und einer nach dem anderen quasi "explodieren", bevor sich auch ihr Haus in Nichts und Rauch auflöst.
Schwer enttäuschend geriet dagegen die äußerst mürbe Geschichtenerzählerei in der neuen Produktion von Forced Entertainment: Da stürmt gar nichts in "The Coming Storm", und das Ensemble lebt zunehmend von der Legende. Auch Rimini Protokoll scheint mit der Braunschweiger Reprise des 100 Prozent-Formats gerade nicht ganz auf der Höhe der Zeit zu sein.
Letztlich doch: ein Ereignis
Mal saß das Braunschweiger Publikum in einem Schaufenster und sah der nicht sehr aufregenden Echtes-Leben-Imitation von Natascha Rajkovic und Bobo Jelzic zu, mal blieb es eher ratlos vor Erinnerungen an mexikanische Revolten im Puppenspiel-Format und vor unausgegorenen Publikumsbeschimpfungen aus Slowenien – es gehört aber durchaus zum Charme der "Theaterformen", dass sich Kunst und Kundschaft zuweilen völlig fremd bleiben dürfen: bitte bloß kein Mainstream!
Derweil hatte Christoph Marthaler mit der Basler Produktion "Meine faire Dame" (wie zur Premiere ja auch hier zu lesen war) an frühe Glücksmomente angeknüpft; auch Braunschweig profitierte davon. Wie sich ja Hannover und jetzt Braunschweig jeweils grundsätzlich für ein paar Tage mittendrin fühlen dürfen im Labor des neueren Theaters – beispielhaft für ein regionales Festival, werden "Theaterformen" so immer wieder zum Ereignis.
Yellow Line
von Juli Zeh und Charlotte Roos
Regie: Ivica Buljan, Bühne: Lovro Artukovic, Kostüme: Ana Savic Gecan, Dramaturgie: Dino Pesut, Komposition: Mitka Vrhovnik Smrekar, Choreographie: Marinko Petricevic.
Mit: Tobias Beyer, Goran Bogdan, Jadranka Dokic, Ksenija Marinkovic, Frano Maskovic, Barbara Prpic, Jur Radnic, Lucija Serbedzija, Nina Violic, Vedran Zivolic.
www.theaterformen.de
www.zekaem.hr/
Landscape with the Fall
von Ivana Sajko
Regie: Daniela Löffner, Bühne und Kostüme: Claudia Kalinski, Dramaturgie: Katrin Breschke.
Mit: Moritz Dürr, Sven Hönig, Hanno Koffler, Klaus Lembke, Hans-Werner Leupelt, Doris Šarić-Kukuljica, Mattias Schamberger, Louisa von Spies, Martina Struppek.
www.staatstheater-braunschweig.de
Kein großer Wurf aus einem Guss sei "Yellow Line", sondern eine Mischung aus Thesendrama und Groteske, schreibt Martin Jasper in der Freien Presse (12.6.2012) und in der Welt (13.6.2012). Obwohl die Schauspieler aus Zagreb "mit viel Engagement und Wucht" spielten, gebe es "nur eine Tonlage, für subtilere Zwischentöne und leise Momente fehlt den Kroaten der Sinn".
Einen "späten Höhepunkt" hat hingegen Stefan Arndt entdeckt, wie er in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (12.6.2012) schreibt. Stück und Inszenierung balancierten "auf der Grenze zur Groteske, werden aber nie albern". So sei der Abend "gleichzeitig verrückt und bedenkenswert".
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