Goethes Faust - allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie - Schauspiel Hannover
Gründgens' Sandale
9. März 2024. Das Duo Barbara Bürk und Clemens Sienknecht steht für Klassikerüberschreibungen der besonderen Art. Denn sie verpassen den Stoffen nicht bloß neue Texte, sondern auch Musik. Jetzt war Goethes "Faust" an der Reihe. Und der Nachtkritiker jauchzt: Was für ein Theatervergnügen!
Von Andreas Schnell
9. März 2024. Sie nahmen sich schon "Effi Briest" und "Anna Karenina" vor, Hebbels "Nibelungen" und Dostojewskys "Schuld und Sühne". Jetzt haben Barbara Bürk und Clemens Sienknecht in Hannover ihre Methode auf Goethes "Faust" angewandt. Spielten bisherige Inszenierungen allerdings im Setting eines Rundfunkstudios, verfrachten Bürk und Sienknecht die Geschichte des sinnsuchenden Gelehrten und seines Pakts mit dem Teufel nun ins Gelsenkirchener Wohnzimmerbarock, wo der 1. Goethe-Club e.V. von Knaackenburg bei Drangstedt den 100. Jahrestag "des Goethe-Gedenksteins" begeht. Mit Diavortrag.
Abgefeimte Perfektion
Sienknecht führt in Samtanzug und kunstvoller Föhnwelle als Generalsekretär, Präsident und Botschafter des Vereins durch den Abend, an dem, so kennt man es von dem infernalischen Duo, viel musiziert und reichlich Schabernack um den ehrwürdigen Theater-Gassenhauer getrieben wird, inklusive Prüfung der Textkenntnis des Publikums. Zu gewinnen gibt es dabei eine Sandale von Gründgens aus der Vorstellung vom 3. Mai 1962 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Kirchenallee. Es soll ja nichts unterschlagen werden, auch der Herrgott nicht, der aus einem Loch im Bühnenboden emporgefahren wird.
Mit abgefeimter Perfektion performt das Ensemble die ambitionierte Laienhaftigkeit, angeführt von Sienknecht, der den zweitklassigen Conferencier enorm präzise gibt und halbgelehrt die Tiefen des Werks auslotet: "Mit bedächtger Schnelle – merken Sie? Das ist ja ein kleiner Widerspruch. Es geht um Pole. Spüren Sie's nochmal nach. Irre, was Sprache so machen kann." Irre auch, was Bürk und Sienknecht drumherum ersonnen haben. Das Ensemble dankt es mit großer Lust am Spiel.
Ekstase und Nostalgie
Die Vorlage bleibt dabei mit all ihren in den (nicht nur) bildungsbürgerlichen Alltagsgebrauch eingezogenen Sinnsprüchen immer nachvollziehbar, und was sie birgt, nehmen Bürk und Sienknecht durchaus ernst, wie wir am Ende sehen werden. Bis dahin unterhält die Inszenierung mit einer Fülle von teils bizarren Einfällen, rasanten Szenenwechseln, wunderbaren Kostümen und viel Musik, wobei Hits der Disco-Ära eine größere Rolle spielen. Sie mögen für Ekstase und Nostalgie zugleich stehen und damit auch auf etwas über "unser" Verhältnis zum "Faust" sagen, der mit all seinen Derbheiten, Brutalitäten und Grenzüberschreitungen in Klassen- und Wohnzimmern gehobener Milieus und solcher, die es gern wären, für deutsche Leitkultur steht. So ganz sicher mag man sich aber dann auch nicht sein, nicht immer offenbart das Liedgut tiefere Bezüge.
Das tut aber der Freude keinen Abbruch. Bürk und Sienknecht haben ihre "Faust"-Betrachtung mit vielen großen kleinen Einfälle gespickt. Da sind die schon in anderen Abenden exerzierten Jingles fiktiver Werbepartner, ein großer Kunststoffhirsch, der zwischen Zimmerpflanzen vor dem Fenster steht, oder die Präsentation eines "Tribute To Faust"-Albums, auf der die größten Rock- und Pop-Hits zu hören sind. Aus Van Halens "Jump" wird "Faust", F. R. David singt "Faust don't come easy to me" und AC/DCs "Highway To Hell" wird – klar doch – ein "Highway To Faust". Und wenn das Grammophon beim Abspielen einer "Originaldarbietung" einer Aufnahme leiert, intoniert das Ensemble das so punktgenau, dass man vor Ehrfurcht erblassen würde, wäre es nicht so schön.
Lange nicht mehr so viel Spaß gehabt!
Dabei hat das alles immer mindestens doppelten Boden: Dass es drei Gretchen gibt, ist ein Trick straight aus dem sogenannten Regietheater. Und ganz am Ende wird es doch noch ernst, als Gretchen im Gefängnis den Rettungsversuchen Fausts widersteht, wissend, dass das ihr Ende bedeutet. Das ist kein pflichtschuldiger Tribut an den Internationalen Frauentag, der mit der Premiere zusammenfällt, sondern eine dramaturgisch sauber hergeleitete Schlusspointe.
Die allerdings wenig überraschend doch noch kassiert wird: "Der Sinn des Faust liegt im Ermessen des Betrachters", zitiert Sienknecht zum Ende ein freilich frei erfundenes "enfant terrible" der Goethe-Forschung. Fanfare, der Vorhang fällt (zu früh) – ein Triumph. Lange nicht mehr so viel Spaß gehabt im Theater. Eventuelle Abnutzungserscheinungen des Bürk-Sienknecht-Komplexes konnte zumindest ich als Neuling in dieser wunderbaren Welt nicht entdecken, außer vielleicht, dass das bis in die kunstvoll hemmungslose Überambitioniertheit allzeit so formvollendete Musizieren ab und an Selbstzweck zu sein scheint.
Goethes Faust – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie
von Barbara Bürk und Clemens Sienknecht nach Johann Wolfgang von Goethe
Uraufführung
Regie: Barbara Bürk, Clemens Sienknecht, Bühne und Kostüme: Anke Grot, Musik: Clemens Sienknecht, Dramaturgie: Lovis Fricke.
Mit: Tabitha Frehner, Anja Herden, Caroline Junghanns, Toben Kessler, Max Landgrebe, Friedrich Paravicini, Clemens Sienknecht.
Premiere am 8. März 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www. staatstheater-hannover.de
Kritikenrundschau
Obwohl Bürk und Sienknecht seit 2015 diverse Abende mit dem gleichen Konzept, derselben Gag-Struktur und diesem programmatischen Untertitel inszenierten, sei "Goethes Faust, allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie" im Schauspiel Hannover große Unterhaltung, so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (11.3.2024): "Man spürt die Wiederholung, aber ein Ermüdungseffekt ist nicht da."
"Irgendwo zwischen Mummenschanz und Musical lauert da doch viel Musenkuss", so Stefan Gohlisch in der Neuen Presse / Hannoversche Allgemeine Zeitung (11.3.2024) – "und auch eine durchaus ernsthafte Auseinandersetzung". Diese "aus dem Vollen der Komik schöpfende Überschreibung" erlebte ihre ekstatisch bejubelte Uraufführung ausgerechnet am Weltfrauentag: "Wenn Herdens Gretchen am Ende Faust ihr 'Heinrich, mir graut vor dir' vor die Füße wirft, liegt darin die Verachtung und Müdigkeit ganzer Generationen an Frauen."
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Warum ich das schreibe? Weil ich die Hannoveraner um diese Inszenierung wirklich beneide, hier in Dresden ist es öde geworden. Aufdringliches Belehrungstheater, kein echtes Drama nirgendwo, von Sienknechtscher Leichtigkeit kann man nur träumen...
ich kann Sie beruhigen. Der Abend war nach laaaaanger Zeit genau das, was sie beschrieben haben: eine gewisse Leichtigkeit, große Spielfreude und ein Augenzwinkern. Und es tat gut, das auch mal wieder erleben zu dürfen. Die letzten Inszenierungen im Schauspiel - vielleicht bis auf die Inszenierungen von Marie Bues’ „Nora“ - hatten davon herzlich wenig.