Flaschenpost in die Vergangenheit

7. Oktober 2023. Mable Preach hat sich mit ihren Arbeiten einen Ruf als empowernde Protagonistin eines emanzipatorischen Theaters erarbeitet. Ihr neues Projekt "I am. We are" am Schauspiel Hanover ruft dazu auf, sich mit den eigenen Vorfahren zu beschäftigen und aus ihrer Geschichte Ideen für die Zukunft zu entwickeln.

Von Jens Fischer

Mable Preachs "I am. We are" am Schauspiel Hannover © Isabel Machado Rios

7. Oktober 2023. Klar, die Zeiten sind schlecht. Der Klimawandel und die Folgen, Corona, Krieg, Inflation, Gender Gap und so weiter. Die Welt im Dauerkrisenmodus. Menschen zwischen 16 und 25 Jahren blicken laut aktueller Studien höchst pessimistisch in die Zukunft. Um nicht in Stress, Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Selbstzweifel, ohnmächtige Angst oder Depressionen zu verfallen, schlägt Regisseurin Mable Preach vor, die Suche nach sich selbst aufzunehmen. Indem man Verortung in der Vergangenheit sucht, "die Energien der Vorfahren voll und ganz" erfährt, tankt man Kraft, Ideen, Fantasien, Utopien, mit denen man sich gegen die delirierenden Probleme engagieren sowie eine Zukunft realisieren kann.

Also tanzen in der Stückentwicklung "I am. We are" am Schauspiel Hannover vier junge BIPoCs für ein angepeilt junges Publikum auf der Suche nach den eigenen Wurzeln durch ghanaische Wälder. Irgendwo soll ein geheimnisvoller See bei Vollmond entstehen und als Briefkasten für Flaschenpost an Schwarze tote Held:innen fungieren.

Preach hat sich in Hamburg mit ihrer Arbeit auf Kampnagel sowie mit dem Kultur- und Jugendverein Lukulule den allerbesten Ruf als Protagonistin eines emanzipatorischen Theaters erarbeitet und das auch schon in Hannover mit "K(no)w Black Heroes" bewiesen, einer Recherche zu Schwarzen Erfinder:innerinnen, die von der weißen Geschichtsschreibung ausgeblendet worden sind. Die recherchierten Namen waren Kicks für die "Be proud of your past"-Didaktik: "for a powerful future".

Aufruf zum ehrlichen Umgang

Darum geht es nun wieder: Positiv besetzte historische Persönlichkeiten, die einem irgendwie ähneln, gilt es als Motivations- und Selbstverständigungshelfer zu erkennen. Preach schafft dafür eine Bühnensituation mit Anklängen an Afropop-Flair und hat Lernstoff sowie eine klare Botschaft zu offerieren. Drumherum arrangiert sie Denglisch-Dialoge im Jugend-Jargon sowie sehr gelungene Songdarbietungen und auch mal eine Gedicht-Rezitation.

Die recht eindimensional gescripteten Figuren lässt das Ensemble liebevoll lebendig werden, weich in den Bewegungen und wach im Miteinander. Herausragend in Artikulation, Präsenz, Spielenergie und Gesang ist Precious Wiesner (Afia). Christine Grant (Abbla) kontert ähnlich überzeugend mit lässiger Eleganz, während Marguerite Gowole (Ruby) und Saikou Louis Suwareh (Chin) die Unerfahrenheit bei ihrer ersten großen Staatstheaterrolle deutlich anzumerken ist. Das Publikum bewegt sich im unbestuhlten Ballhof 2 hin und her zwischen drei bespielten Treppenpodien in Betonanmutung.

Kraft schöpfen aus der Vergangenheit: das Ensemble in "I am. We are" am Schauspiel Hannover © Isabel Machado Rios

Die Aufführung startet mit Kennlernplaudereien. Ruby erzählt als Tochter eines abgeschobenen Afrikaners und einer deutschen Mutter davon, in eine Adoptivfamilie gegeben worden zu sein, der es missfiel, dass sie als "mixed Mädchen" wie ein "bunter Hund" auffiel. Deswegen wurde versucht, ihr das "Schwarzsein aus-zu-erziehen". Rubys Vorbild ist daher die ähnlich aufgewachsene, 1996 freiwillig aus dem Leben geschiedene May Ayim, Schriftstellerin und Aktivistin afrodeutscher Initiativen. "Ihr ehrlicher Umgang mit der eigenen Identitätskrise" ist Rubys Anknüpfungspunkt.

In wildesten Träumen

Chin erzählt, seinem Namen gemäß, strahlend vom nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe. Abbla widmet ihre "Storytime" Queen Nzinga, die im heutigen Angola den mörderischen Kolonialisten aus Portugal einst Paroli bieten konnte. Afias Kurzvortrag feiert Queen Abla Pokou. Im 18. Jahrhundert opferte sie den Göttern ihren Sohn, um ihr Volk in ein sicheres Siedlungsgebiet (der heutigen Elfenbeinküste) führen zu können. Afia kramt zudem Ehrenbekundungen für den Philosophen Anton Wilhelm Amo aus der Tasche, den ersten afrikanischen Akademiker in Deutschland. Und alle singen: "We stand on the shoulders of giants / We honor their legacy with defiance / We will not be silenced or oppressed / We will rise up and be our best / I am. We are. Our ancestors' wildest dreams."

IAMWEARE 2 Isabel Machado Rios uSchulter an Schulter in "I am. We are" © Isabel Machado Rios

Das alles ist lehrreich und interessant. Auch das kurze Nachdenken, was denn wäre, wenn kein undurchdringliches Kraftfeld aus Intoleranz mehr lähmte und nicht mehr gegen strukturellen Rassismus und Diskriminierungen gekämpft werden müsste. Stichworte zu aktuellen Debatten blitzen auf, etwa Kritik am Modewort "Dekolonisierung", die fortgesetzte Ressourcen-Ausplünderung Nigers durch Frankreich und dass Deutschland erst 2021 die Schuld anerkannt hat für den Völkermord in Namibia. Schließlich gehen Fragen ans weiße Hannoveraner Publikum: Was war die Berliner Konferenz von 1884/1885? Wie viele Jahre dauerte die deutsche Kolonisierung des afrikanischen Kontinents? Antworten kommen keine vom Premierenpublikum. Betretenes Schweigen. Chin muss soufflieren.

Kleine Lehrstunde

Schließlich Vollmondstimmung – die eingeflaschten Briefe werden ins Zuschauer:innenmeer gerollt. Und nun? Abbla erklärt, BWL studieren zu wollen, Chin möchte seine Bilder ausstellen, Ruby will ihren Vater suchen und Afia sie dabei begleiten. Der retrofuturistische Ansatz zur Selbstbestimmung ist in "I am. We are" deutlich ernster, homogener, ruhiger, aber weniger mitreißend verspielt als in "K(no)w Black Heroes", ja, fast schon langweilig überdeutlich entwickelt. Wobei die Geschichten nur aneinandergereiht, nicht dramatisch verwoben werden in der minimalistischen Handlung. Auch kommt das Ensemble kaum richtig ins Interagieren. Dass Jugendliche diese trotzdem sympathische Fortsetzung von Schule mit Theatermitteln anregend aufklärerisch kickt, bleibt zu hoffen. Denn Empowerment wärmt in miesen Zeiten.

I am. We are – their wildest dreams
ein Projekt von Mable Preach
Regie: Mable Preach, Bühne: Dennis Stoecker, Kostüme: Gianna-Sophia Weise, Dramaturgie: Elvin İlhan. 
Mit: Marguerite Gowole, Christine Grant, Saikou Louis Suwareh und Precious Wiesner.
Premiere am 6. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

Kritikenrundschau

Der Abend sei "durchaus lehrreich, etwa wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer mit ihrem Nichtwissen über afrikanische Geschichte konfrontiert werden", schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen (9.10.2023). Da zeigten sich dann "die kolonialen Kontinuitäten. Denn wir wissen nur wenig." "Schauspielerische Fähigkeiten" stünden an dem Abend nicht im Zentrum, schließlich gehe es "nicht um Wohlklang, sondern um Protest". 

"Der retrofuturistische Ansatz zur Selbstbestimmung ist lehrreich mit humorvollem Ernst entwickelt. Dass Jugendliche diese sympathische Fortsetzung von Schule mit Theatermitteln anregend aufklärerisch kickt, bleibt zu hoffen", schreibt Jens Fischer in der taz (24.10.2023). "Dazu sind ein paar Denglisch-Dialoge im Jugend-Jargon arrangiert sowie sehr gelungene Songdarbietungen und auch mal eine Gedicht-Rezitation inszeniert. Vier recht eindimensional gescriptete Figuren lässt das Ensemble dafür liebevoll lebendig werden, weich in den Bewegungen, woke im Miteinander."

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