Ich bin aus Luft gemacht

24. März 2024. Daniel Kehlmann verlegt die Figur Till Eulenspiegel in seinem Roman "Tyll" aus dem Mittelalter in den Dreißigjährigen Krieg. Der Schelm wird zum Überlebenskünstler. Das Theater Lüneburg zeigt den Roman in einer Gemeinschaftsproduktion von Schauspiel, Oper und Tanz. Als eindrückliches Plädoyer für die Kunst.

Von Falk Schreiber

Daniel Kehlmanns "Tyll" am Theater Lüneburg © Jochen Quast

24. März 2024. Till Eulenspiegel ist eine norddeutsche Figur. Auch wenn die biografischen Daten nicht gesichert sind, ist es wahrscheinlich, dass das Vorbild für die später in Schwänken verewigte Gestalt um 1300 bei Braunschweig geboren wurde und 1350 in Mölln starb: "Ein kurtzweilig lesen von Dil Ulenspiegel, geboren vß dem land zu Brunßwick, wie er sein leben volbracht hat", beginnt ein anonym verfasstes Volksbuch aus dem 16. Jahrhundert.

Und auch wenn Daniel Kehlmann den Geburtsort in seinem 2017 erschienenen Roman "Tyll" nach Süddeutschland verlegte, bedient das Theater Lüneburg einen lokalen Bezug, wenn es "Tyll" für die Bühne adaptiert. Ist dieser lokale Bezug wichtig? Vielleicht schon.

Zwischen Jahrmarkt und Kriegspanorama

"Tyll" ist eine besondere Produktion im Lüneburger Spielplan, weil sie als Gemeinschaftsproduktion aller an dem Dreispartenhaus Beschäftigten konzipiert ist. Also: Musiktheater, zu einer Komposition von Generalmusikdirektor Thomas Dorsch, der auch am Pult steht (und die Lüneburger Symphoniker druckvoll, vielleicht ein bisschen zu sehr auf den Effekt hin antreibt). Tanz von Ballettdirektor Olaf Schmidt, der am Haus ein nicht uninteressantes Tanztheaterverständnis auf der Basis klassischer Bewegungssprache pflegt. Und Schauspiel, in einer Inszenierung der Schauspieler Gregor Müller und Philip Richert, unterstützt durch eine "Szenische Beratung" von Intendant Hajo Fouquet und Chefdramaturg Friedrich von Mansberg.

Praktisch hat das zur Folge, dass die Figur Tyll auf drei Darsteller aufgeteilt ist: auf Tenor Karl Schneider, Tänzer Clément Coudry-Herlin und Schauspieler Niklas Schmidt. Ständig sind alle drei auf der Bühne, agieren gemeinsam und zeigen dabei auch fachfremd gehöriges darstellerisches Potenzial, darüber hinaus ist die Zusammenarbeit der drei Sparten allerdings nicht wirklich prägend für den Abend.

Mit Humor durch die Leiden des Dreißzigjährigen Krieges: Niklas Schmidt, Karl Schneider und Clément Coudry-Herlin in der dreigeteilten Rolle des Tyll, dahinter hockend: Elisa Reining © Jochen Quast

Im Grunde nämlich wechselt Hilke Bultmanns intelligente Bühnenfassung die einzelnen Sparten inhaltlich ab: Tylls Kindheit wird als Oper erzählt (in der Dorschs Musik zweifellos ihre postmodern einleuchtenden Momente hat), die Kapitel, in der der Titelheld im Gefolge von "Winterkönig" Friedrich (John Armin Sander) durch die Lande zieht (Kehlmann hat die ursprünglich im Mittelalter verortete Geschichte mehr als 300 Jahre später in den Dreißigjährigen Krieg verlegt), werden als Schauspiel performt, die mythischen Passagen, in denen der Jesuit Doktor Kircher (Steffen Neutze) den letzten Drachen Norddeutschlands jagt, um die Pest zu bezwingen, sind Tanz.

Nur im Prolog und im Epilog sind tatsächlich alle Sparten vereint, eine Jahrmarktszene der eine, ein apokalyptisches Kriegspanorama der andere Abschnitt, und vielleicht sagt es auch etwas über diesen Abend, dass das Inszenierungskonzept gerade hier zu sich selbst kommt: Es geht um Unterhaltung auf der einen Seite, um Tod und Leiden auf der anderen, und wie das hier durchgeführt wird, ist schon ziemlich geschickt gemacht.

Ein Schelm in Kriegszeiten

Darüber hinaus baut der Abend auf Schauwerte, ohne vollkommen in ihnen zu versinken: eine so abstrakte wie zweckdienliche Bühne (Ausstattung: Barbara Bloch), Kostüme, die die Figuren zu düsteren, einheitlich gekleideten Zombies machen, Ballettensemble, Opernchor und Extrachor, die als Händler, Dorfgemeinschaft, Zirkusleute alles geben, im Wissen, dass sie hier an einer Produktion beteiligt sind, die das Theater im positiven Sinn an seine Grenzen führt.

Zudem sind die Frauenfiguren interessant: Beate Weidenhammer, die Tylls Gefährtin Nele mit trotzigem Selbstbewusstsein gibt, die Tänzerin Rhea Gubler, die kurz solistisch aus der trüben Dorfgemeinschaft ausbricht. Und nicht zuletzt wartet die Inszenierung mit einer Unzahl von raffiniert gebauten Szenen auf, von denen die interessanteste das Zusammentreffen von Friedrich mit dem Schwedenkönig Gustav Adolf (Jan-Philip Walter Heinzel) ist: ein ironisches Machttänzchen, das nicht den Fehler macht, sich auf der eigenen Ironie auszuruhen.

Düsterer als in alten norddeutschen Eulenspiegel-Schwänken: das Ensemble auf der Bühne von Barbara Bloch © Jochen Quast

Wobei diese Passage die einzige ist, die die (vor allem durch Erich Kästners komödiantische 1938er-Bearbeitung geprägte) Eulenspiegel-Erwartungen erfüllt. Ein Scherzreigen ist der Abend nämlich ganz und gar nicht: Kehlmann erzählt nicht von subversiven Späßen, er erzählt vom Krieg, als Schelmenroman in der Tradition des "Simplicissimus", und die Lüneburger Inszenierung führt diese Spur weiter. Es fließt Blut, es gibt Hunger, Tod und Leid.

Und es ist interessant, welchen Ausweg Dramaturg von Mansberg aus diesem Alptraum empfiehlt: die Kunst. Tyll nämlich ist Künstler, Überlebenskünstler, und er kommt nur deswegen halbwegs unbeschadet aus der Geschichte raus, weil er seine Kunst pflegt. "Ich bin aus Luft gemacht", singt Schneider in der Schlussarie, "mir passiert nichts (…) Ich lache, weil ich nicht sterbe."

"Ihr werdet uns noch nötig haben!"

Und hier schließt sich der Kreis zum Lokalbezug. Wenn nämlich Tyll mittels Kunst aus dem Alptraum von Krieg, Krankheit und Leid ausbrechen kann, dann kann das auch ein immer wieder finanziell unter Beschuss stehendes Stadttheater. "Die Zeiten werden nicht besser", sagt dieser Abend, "Ihr werdet uns noch nötig haben." Und die Souveränität, die szenische Phantasie und die dramaturgische Klugheit, mit der er das sagt, machen dieses Statement tatsächlich relevant.

 

Tyll
nach Daniel Kehlmann
Bühnenfassung von Hilke Bultmann, Musik von Thomas Dorsch
Musikalische Leitung: Thomas Dorsch, Regie: Gregor Müller, Philip Richert, Choreografie: Olaf Schmidt, Szenische Beratung: Hajo Fouquet, Friedrich von Mansberg, Ausstattung: Barbara Bloch, Dramaturgie: Hilke Bultmann, Friedrich von Mansberg.
Mit: Karl Schneider, Clément Coudry-Herlin, Niklas Schmidt, Beate Weidenhammer, Elisa Reining, Mario Klein, Kirsten Patt, Steffen Neutze, Andrea Marchetti, Eric Keller, Paula Rohde, Matthias Herrmann, Hannah Rang, John Armin Sander, Jan-Philip Walter Heinzel, Matthew Sly, Vicent Muñoz Amo, Júlia Cortés, Samuël Dorn, Rhea Gubler, Irene La Monaca, Hugo Prunet, Claudia Rietschel außerdem Opernchor, Extrachor, Ballettensemble.
Premiere am 23. März 2024
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theater-lueneburg.de

 

Kritikenrundschau

"Verderben viele Köche den Brei? Das nicht. 'Tyll' erzählt ja auch eine Geschichte voller Brüche um einen unsteten Charakter. Fouquet und sein kommender Nachfolger Friedrich von Mansberg hielten sich im Regie-Team zudem im Hintergrund.“ Gregor Müller und Philip Richert rückten nach vorn. „Sie bändigen die Masse an Akteuren, formen aus vielen Puzzleteilen ein ästhetisches Ganzes und finden immer wieder zu symbolstarken, auch poetischen Szenen", schreibt Hans-Martin Koch vom Winsener Anzeiger (24.3.2024). "'Tyll' wirkt in seiner Fülle und seinem künstlerischen Reichtum nach, auch als flammendes Plädoyer für die Kunst, das Theater."

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