"Wir sind keine Spießer. Wir sind normal."

15. September 2023. Sarah Nemitz und Lutz Hübner, das meistgespielte Dramatiker:innen-Paar des deutschsprachigen Raumes, widmet sich in seinem neuesten Bühnentext einem anderen Paar. Ein Well-Made-Zielgruppenstück über das mittelschichtige, heterosexuelle Blaupausen-Leben. Ab und an stolpert es in kleine Abgründe.

Von Katrin Ullmann

Die Uraufführung "Was war und was wird" von Sarah Nemitz und Lutz Hübner in der Regie von Sewan Latchinian an den Hamburger Kammerspielen © Anatol Kotte

15. September 2023. Jeder habe ein Alter, das perfekt zu ihm passe, sagt Theo einmal. "Und ich merkte, dass dieser Zeitpunkt für mich gekommen war." Da ist er ungefähr Ende 60. Ist ein zufriedener Rentner, der sich um seine Enkelkinder kümmert – mehr als jemals um seine eigenen Kinder – und der geduldig seine an Krebs erkrankte Frau Anke umsorgt. Da reist er zu seiner Tochter nach Brüssel, da sucht seine Schwiegertochter bei ihm Rat. Bei ihm, dem "alten weisen Mann". In seiner Generation und in dieser Geschichte gibt es diesen noch.

Über Jahrzehnte sind sie aneinander gewachsen 

Stephan Benson spielt ihn mit höchster Glaub- und Liebenswürdigkeit. Und kurioserweise ist dann auch in der Inszenierung der Moment gekommen, in dem Rolle und Spieler perfekt zueinander passen. Da fügen sich die hellgraue Hausjacke (Kostüme: Celina Blümner) und das zerzauste Haar höchst organisch zu einem rührenden alten Mann, der nur ein bisschen unsicher geht, und dabei vor allem Liebe verströmt.

Bis zu diesem Zeitpunkt ist man mit Theo und Anke (Nina Kronjäger) im Schnelldurchlauf durch deren Lebenszeit gereist. Es ist eines, in dem Palästinensertücher um Hälse gewickelt wurden und neonfarbene Stulpen um Waden, in dem Michael Jackson die Charts bewohnte, es Festnetztelefone mit Wählscheibe gab und das Internet eine unwägbare Neuerfindung war. In dem Tequila rapido den ersten Vollrausch verantwortete, Studentenpartys mit einem Kassettendeck bestritten wurden und es früh und ungewollt das erste Kind gab.

Über Jahrzehnte sind sie aneinander gewachsen, Theo und Anke. Als Paar und als Eltern. Mit klassischer Rollenaufteilung: "Wir sind keine Spießer, wir sind normal." Sie bleibt zuhause, er geht zur Arbeit. Ein Funken Gleichberechtigung blitzt auf, als er die Kindergeburtstage übernimmt: wieder eine Schatzsuche. Krisen hat es natürlich immer mal gegeben, genauso wie die üblichen Gereiztheiten.

Es begann mit Ghettoblaster in der Hand und Rollschuhen an den Füßen © Anatol Kotte

Lutz Hübners und Sarah Nemitzs jüngstes Theaterstück skizziert exemplarisch ein Leben, ein klassisches, mittelschichtiges, ein heterosexuelles. Mit Vater, Mutter, Kindern, mit Eigenheim und Garten. Das Dramatiker*innen-Duo hat "Was war und was wird" eigens für die Hamburger Kammerspiele geschrieben, einem Privattheater im Stadtteil Rotherbaum. Alsternah, reich an weißen Villen und doch auch noch in Uni-Nähe. Und, man wird den ganzen Abend den Gedanken nicht los: Entstanden ist ein Well-Made-Zielgruppenstück. Eines, das ein gutbürgerliches Publikum 50 plus abholt. Mit der Geschichte über ein Paar aus ihren Reihen.

Die nervige Parkplatzsuche

Tatsächlich ist "aus ihren Reihen" wörtlich zu verstehen. Denn für seinen ersten Auftritt schlängelt sich dieses Paar tatsächlich durchs Parkett. Es diskutiert laut und zu spät kommend über die nervige Parkplatzsuche und die Kosten und Nutzen eines Programmhefts. Dann nimmt es zwei Theaterplätze auf der Bühne ein. Fürs Publikum ein Spiegelbild. Ein fröhliches Winken noch zu den Bekannten hier links und da hinten, ein sanftes Tätscheln auf ihren Oberschenkel und schon spielen sie los. Spielen ihr eigenes Leben als Theaterstück. In kurzen Szenen und im warmen Licht der Erinnerung, mit einem Soundtrack und einer Spielemacherin (Alexa Harms), die Requisiten schiebt, Musik auflegt und auch mal eine kleine Rolle spielt.

Spanien, eine Flasche Ouzo, Kinds-Zeugung

Nina Kronjäger und Stephan Benson spielen mit viel Empathie für ihre Figuren und überzeugen zugleich als austauschbares Mittelschicht-Paar. Da wird getanzt, geschwelgt und geweint. Da werden mit wenigen Accessoires die achtziger Jahre wiederbelebt, werden Jugendbilder projiziert und Kuscheltiere weggeräumt. Da erzählen Sonnenhüte und bunte Hemden vom Spanien-Urlaub, eine Flasche Ouzo und ein verstolperter Tanz von der Zeugung des zweiten Kindes. Mit wenigen Mitteln schafft Sewan Latchinian, der Regisseur und künstlerische Leiter des Theaters, Atmosphäre. Gekonnt klischeehaft. Bewusst nicht auserzählt. Manche romantische Szene gerät ihm in dieser Uraufführung fast filmisch, manch kriselnder fehlt der nachvollziehbare Konflikt.

Was war 2 1200 Anatol Kotte uDie kleinen Ausbrüche im Mittelschichts-Urlaub © Anatol Kotte

Letzteres mag auch am Text liegen. Nur selten bricht dieser aus. Dann gebiert er eine Sexfantasie mit der Babysitterin, die Theo erfindet, oder erzählt von einer jugendlichen Partynacht mit sexuellen Übergriffen, wie sie Anke erlebt hat. Doch diese Ausreißer verpuffen genau so schnell wie sie erzählt werden. Auf die Protagonist:innen und ihre Geschichten haben sie offenbar keinerlei Auswirkung. Diese leben (erstmal) weiter. Später ersinnen sie sich in eine mögliche Zukunft, probieren ein "als ob" und ziehen Bilanz. Sie tanzen einen Tanz mit dem Tod, denken über den Sinn des Lebens nach und darüber, wo eigentlich die Zeit geblieben ist. Dann ist ihr Spiel des Lebens vorbei und sie sitzen wieder auf ihren Theatersesseln und streichen das Programmheft glatt. "Wir gehen in der Pause", versprechen sie einander. Und bleiben natürlich doch bis zum Schluss.

 

Was war und was wird
Von Lutz Hübner und Sarah Nemitz
Regie und Bühne: Sewan Latchinian, Kostüme: Celina Blümner, Dramaturgie: Anja Del Caro.
Mit Alexa Harms, Stephan Benson, Nina Kronjäger.
Uraufführung am 14. September 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.hamburger-kammerspiele.de

Mehr zum Thema: Im Juli 2021 waren Sarah Nemitz und Lutz Hübner Gäste unserer Video-Gesprächsreihe Neue Dramatik in zwölf Positionen.

 

Kritikenrundschau

Von einem "Ereignis" schwärmt Peter Helling auf NDR Kultur (15.9.23): "Man staunt, schüttelt mit dem Kopf, ist berührt und wird nachdenklich." Das "reife Ehepaar um die 50" auf der Bühne sehe seinem eigenen Leben zu, so der Kritiker, "und wir sehen uns im Spiegel". Die Darsteller:innen Nina Kronjäger und Stephan Benson spielten "lebendig und glaubhaft". Der Abend tarne sich als Ehekomödie, öffne aber "einen Tunnel durch die Zeit" und stelle "die vielleicht wichtigste Frage des Lebens: 'Bleibst du bei mir?'"

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