Autorentheatertage Hamburg 2009 - Die Lange Nacht der Autoren
Denk ich ans Thalia, dann denke ich an...
von Daniela Barth
Hamburg, 9. Mai 2009. Die Nacht steht für das Irrationale, das Geheimnisvolle, die Vergänglichkeit, den Abschied. Sie kann idyllisch sein oder martialisch. In nächtlich-diffuser Dunkelheit mutiert manch' bei Tageslicht analytischer Diskurs zur sentimentalen (Nacht-)Schwärmerei, erblühen manch' abstruse Phantasien zur bizarren Realität. Die Nacht ist eine Gauklerin. Im Thalia Theater war sie gestern außerdem über fünf Stunden lang ganz prosaisch die Arbeitszeit von Theatermachern.
Die neunte war die letzte Hamburger "Lange Nacht der Autoren", denn mit Intendant Ulrich Khuon geht auch das Autorentheatertage-Festival, das sich auf die Fahnen schreibt, die aufregendsten Inszenierungen deutscher Gegenwartsdramatik nach Berlin einzuladen. Zum Abschied wurde es daher gewissermaßen nostalgisch: Statt eines Wettbewerbs von Nachwuchsautoren mit Werkstatt-Inszenierungen standen vier Uraufführungen von Dramatikern auf dem Plan, die bei den Autorentheatertagen in den vergangenen acht Jahren ihre Spuren hinterließen und die Maßstäbe setzten.
Finaler Uraufführungsdreier
Armin Petras, Anja Hilling, Lukas Bärfuss und René Pollesch haben im Auftrag des Thalia Theaters jeweils ein Stück geschrieben. Auftakt der Uraufführungen war Petras' Rose – oder Liebe ist nicht genug am 25. April in der Gaußstraße. In der gestrigen "Langen Nacht der Autoren" kam es zum finalen Uraufführungsdreier.
Das ausgesprochen Spannende, Schöne und Wunderbare an so einem Theater-marathon ist, dass er einem so deutlich vor Augen führt, wie verschieden doch die künstlerischen Handschriften sein können; wie weit theatralische Zugriffe tatsächlich auseinanderliegen können. Programmatisch für die Autorentheatertage ist von jeher die Konstellation von Regisseuren, Autoren, Schauspielern – ein Punkt, den die Festivalmacher in diesem Jahr forciert haben als eine Art Klassentreffen unter Theatermachern mit durchaus sentimentalem Anklang.
Andreas Kriegenburg, der bereits 2005 Anja Hillings "Protection" im Rahmen der Autorentheatertage inszenierte, setzte also folgerichtig ihr neu entstandenes Auftragswerk "Radio Rhapsodie" in Szene. Lukas Bärfuss' Stück "Amygdala – Vollständige Fragmente einer unvollständigen Stadt" inszeniert Stephan Kimmig, der auch bei Bärfuss' Uraufführung von "Der Bus (Das Zeug einer Heiligen)" Regie führte. Und René Pollesch betrieb wie gewohnt in Eigenregie eine wiederbelebte Arbeitsbeziehung mit den Schauspielern, die mit ihm schon das Stück "Die Welt zu Gast bei reichen Eltern" zur Bühnenreife brachten.
"Radio Rhapsodie": Bitterer als Acetylreste im Zahnfleisch
Am 3. September um 14.10 Uhr geht das Paradies unter. Ein Eiland fernab vom Massentourismus, ein Eldorado für Tiere und Verrückte. Das Leben in dieser Idylle konzentriert sich in der Psychiatrie. In dieser Anstalt gibt es ein mediales Selbsthilfeprojekt, eine Radiosendung, live ausgestrahlt, moderiert und produziert von den entstellten Ex-Schönheiten und Insassen Hirsch Amor und Psychomaus, ein Liebespaar, das den Tod herbeisehnt.
Unterhaltungsradio mit pseudophilosophischem Tenor trifft hier auf Zwänge, Abnormitäten und Realitätsverschiebungen. Auf Sodomie der göttlich Schönen, Vergewaltigungen des hässlichen Triebtäters, Stalking des komplexbehafteten Jugendlichen, verkorkste Schauspielerbiographien und persönlichkeitsgespaltene Möchtegern-Stars. In dieser Enklave der zivilisatorisch Verstörten werden ihre Grenzen ausgelotet und überschritten. Gesendet wird bis zum Schluss, live übertragen bis zu den letzten vier Stunden und acht Minuten. Und dieses Ende wird "bitterer als Acetylreste im Zahnfleisch". Und die Protagonisten begreifen es als Countdown zum schnellen Glücklichsein: "Wer jetzt nicht liebt, wird nie begreifen."
In seiner verwirrenden Vielschichtigkeit, in der versatzweisen Andeutung unterschiedlichster – nicht gerade origineller – Themen, Geschichten und Perspektiven vermag Anja Hillings Stück in Regisseur Kriegenburgs Realisierung nicht zu überzeugen. Nette Spielereien wie schwebende Sonnenschirme oder ein waberndes Plastikfolienmeer retten den von Klischees strotzenden Text schon gar nicht. Und neben dem dramaturgischen Gerüst der Radiosendung – die Station hängt Kriegenburg über die Bühne – etabliert er einen etwa 30-köpfigen Chor aus Schauspielstudenten, die augenscheinlich noch mit der Massenchoreographie in Liegestühlen zu kämpfen haben und Texte enthusiastisch zwar, aber eben herausbrüllen – alles in allem hatte das (leider) Werkstattcharakter.
"Amygdala": Pökeli, Pökela – Altruismus immerdar
Lukas Bärfuss' "vollständige Fragmente einer unvollständigen Stadt" hingegen sind, um mit dem aktuellen Pollesch zu reden, "der Oberhammer". In Szene gesetzt hat es Stephan Kimmig: mit einem Traum-Ensemble! Sagenhaft, wie der Funke vom tiefgründig schwarzhumorigen Text des Schweizer Dramatikers auf Inszenierung und Darstellung überspringt und ein wahrhaftes Feuerwerk an Schauspielkunst und –lust entzündet. Ohne dabei ins lächerlich Flache abzukippen und die Figuren zu denunzieren. Die Aufführung im karg gehaltenden Bühnenbild mit dem Charme eines Kellerlabors (Drehbühne mit Bretterverschlägen und alten Monitoren) ist verstörend, beklemmend und höchst amüsant zugleich.
Bärfuss seziert auf intelligente, hintersinnige und herrlich ironische Weise das Unbewusste. Er setzt Triebe und Urängste in den urbanen Kontext. Die Amygdala befindet sich im menschlichen Gehirn und spielt eine zentrale Rolle bei der emotionalen Bewertung von Situationen, sie ist eine Art Alarmanlage in Gefahrensituationen. Bärfuss' Akteure stehen alle unter starker Anspannung. Zwei Männer haben sich (wegen des Geldes) als Probanden für einen altruistischen Labortest zur Verfügung gestellt. Es geht um die Erforschung der Bedeutung selbstloser Gewalt für menschliche Gesellschaftsformen.
Bärfuss schildert das menschliche Versagen auf bemerkenswerte Weise: Die beiden Probanden pökeln eine Drogendealerin in Salz ein, um sie zu berauben. Einer Frau steht im Wald ein wildes Tier gegenüber; es sieht ihr direkt in die Seele, doch da, wo sie sich selbst vermutete, ist nichts. Ihr Ehemann befindet sich derweil in anderen Nöten: die Ehre, eine international gefeierte Koryphäe der Hirnphysiologie in seiner Forschungsabteilung empfangen zu dürfen, stürzt den Wissenschaftler in irrsinnige Selbstzweifel, die ihn seelisch in Rumpelstilzchen-Manier schier zum Explodieren bringen.
"JFK" oder Und wenn ich an dich denke, denke ich nur noch an das Projekt der kommunistischen chinesischen Partei, die Arbeit am kommunistischen Projekt aufzugeben und sich an den Aufbau des Kapitalismus zu machen, du Arsch, du!
Pinkfarbene Mickeymouse-Tapete, Glitzerkostüme und ein Text vom Postkommunismus-Kenner Boris Groys – dies sind Zutaten zu René Polleschs heiter-dynamisch kommentierendem Nachspiel "JFK" zur "Langen Nacht der Autoren", in dem sich der Autor und Regisseur auch selbst aus seinem Stück "Fantasma" zitiert. Nicht zu vergessen natürlich diverse Projektionsflächen für Live-Videoeinspielungen aus den Kulissen.
Der Titel setzt sich aus den Initialen der Schauspielervornamen zusammen: Mit Judith Hofmann, Felix Knopp und Katrin Wichmann entwickelte der Experte für wortgewaltige paradoxe Gedankenvermittlung jenes diskursive Stück. Trotz Dixieland, komödiantisch jazzigem Sprechgesang des Protagonisten Felix, der sich "auf der Metaebene befindet und da nicht mehr runter kommt" sowie diverser parodistischer Elemente kann man "JFK" einen tendenziellen Tiefgang nicht absprechen – zumindest in die Gedankenwelt eines Schauspielers, der sein Stichwort verpasst hat.
Wenn man sich auf Polleschs provokante Diskursvermischung einzulassen vermag. Denn was der chinesische Postkommunismus mit dem verfehlten Leben und Lieben der "JFK", die Geschichten spielen, weil sich dadurch "ihre Leben auch berühren", zu tun hat, erschließt sich kaum, wenn man sich dem "ständigen Wechsel von Gedanken" nicht öffnet. "In der Vorstellung" dürfen wir denn also "Erkenntnisse machen", die besser sind als im "authentischen Matsch".
Lange Nacht der Autoren 2009
Radio Rhapsodie (UA)
von Anja Hilling
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Anna Macholz, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Harald Baumgartner, Sandra Flubacher, Claudius Franz, Katharina Matz, Jörg Pose sowie dreißig SchauspielstudentInnen.
Amygdala. Vollständige Fragmente einer unvollständigen Stadt (UA)
von Lukas Bärfuss
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Oliver Helf, Kostüme: Katharina Kownatzki, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Olivia Gräser, Moritz Grove, Peter Jordan, Hans Löw, Helmut Mooshammer, Angelika Thomas, Victoria Trauttmansdorff.
JFK (UA)
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne und Kostüme: Janina Audick, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Judith Hofmann, Felix Knopp, Katrin Wichmann.
www.thalia-theater.de
Mehr über die Autorentheatertage? Wir berichteten über die Premiere von Rose – oder Liebe ist nicht genug und waren auch bei der Langen Nacht der Autoren 2008 und 2007 dabei.
Kritikenrundschau
Mit Ulrich Khuon verlassen auch die "Autorentheatertage" das Thalia Theater Hamburg, und bei Monika Nellissen von der Welt (11.5.) stellen sich Verlustängste ein: "Wird es künftig nie wieder ein Festival mit der neuesten zeitgenössischen Dramatik am Thalia geben?" Es sei aber "beileibe nicht alles künstlerisches Gold" gewesen, "was in den insgesamt 28 Vorstellungen (...) glänzte." Auch nicht in der Langen Nacht der Autoren. In ihrer "Radio Rhapsodie" sei etwa Anja Hilling "auf halber Strecke zum Tsunami die Luft ausgegangen. Da muss noch ordentlich nachgebessert werden. Doch Regisseur Andreas Kriegenburg hat hinreißend poetische Bilder von solch luzider Klarheit entworfen, dass wir uns an ihnen nicht satt sehen können." Und auch Lukas Bärfuss' "Amygdala" habe einen "nur partiell mitgenommen". René Pollesch "JFK" immerhin sei "eine rasante Achterbahnfahrt durch gedankliche Paradoxien und gelebte Wirklichkeit, die in der gefilmten Welt des Theaters enorm belustigen".
Alle drei völlig unabhängig in Auftrag gegebenen Werke der Langen Nacht kreisten "um verschiedene Formen des Wahnsinns, um das Leben in psychischen Parallelwelten", beobachtet Frauke Hartmann in der Frankfurter Rundschau (11.5.): "Was auch immer das für das Gegenwartsdrama heißen mag." Vor allem in Anja Hillings "Radio Rhapsodie" werde überdeutlich, "wie nah die poetische Sprache des Dramas dem Wahn, der veränderten oder gebrochenen Wahrnehmung von Wirklichkeit sein kann". Andreas Kriegenburg erweise sich "mit seiner bildmächtigen Fantasie als genialer Regisseur" für Hilling, er setze ihr mit seiner Bühne "eine schwebende, schillernde Leichtigkeit entgegen und spielt auf Risiko." Lukas Bärfuß wiederum führe in "Amygdala" eine Versuchssituation vor, "in der er die Beteiligten zum Wahnsinn und zur Gewaltbereitschaft treibt oder als Gefährdete entlarvt". Stephan Kimmig habe dieses "pointiert gebaute Stück" als "rasante, schwarze Komödie inszeniert". Polleschs "JFK" schließlich sei "nicht nur sehr lustig, sondern auch ein Wahnsinn".
Auf Deutschlandradio (10.5.) ist Hartmut Krug der Ansicht, dass Andreas Kriegenburgs "Kunstfertigkeiten" Anja Hillings "Radio Rhapsodie" leider verkitschten, ein Stück, "das zwar nicht zu ihren besten gehört, doch als Denkmodell einige Schärfe besitzt" und in dem es "um ein Bild für unsere Welthaltung" gehe. Bärfuss "Amygdala" dagegen beschäftige sich auf "zugleich tiefgründige wie komödiantisch direkte Weise mit menschlichen Verhaltensweisen bei gesellschaftlichem Stress. Bärfuss gelang ein intelligentes Stück, das ein wunderbares Angebot für spielfreudige Schauspieler ist und in Hamburg von diesen mit Wonne für sich und die Zuschauer genutzt und von Stephan Kimmig wirkungskräftig und sensibel inszeniert wurde." Gegen dieses Stück habe René Polleschs 'JFK' "keine Chance" gehabt. Polleschs Stück "variiert so routiniert wie uninspiriert sein Diskursmaterial über die Wirklichkeit des Schauspielers und das Schauspielen. Das ganze macht inszenatorisch wie dramaturgisch den Eindruck, als habe Pollesch mal eben seinen Zettelkasten ausgeschüttet."
Jedes Stück der Langen Nacht "handelte auf seine Weise vom Traum der Liebe, von ihrer Unmöglichkeit. Vom Wahnsinn der Welt im Angesicht ihres Untergangs", meint Klaus Witzeling im Hamburger Abendblatt (11.5.). Den Schauspielern sei es gelungen, "aus keinesfalls leichtgewichtigen Themen ein komödiantisch funkelndes Feuerwerk zu zaubern." In "Radio Rhapsodie" hätten "findige Techniker und ein kluger Regisseur, inspiriert durch Pina Bauschs (Alb-)Traum-Tanztheater und Robert Wilsons Bildermagie, Hillings prätentiös symbollastigen Text vor dem Untergang bewahrt". Bei Lukas Bärfuss' "Amygdala" hätten Spieler und Regisseur durch Text-Umstellungen ein Maximum an Verdichtung für die irren Situationen" erzielt. Und glänzend habe "die Steigerungsdramaturgie des Abends" funktioniert: "Die Stücke wurden gegen Mitternacht zunehmend kürzer und lustiger. René Polleschs 'JFK' (…) erhöhte noch den Stimmungspegel. (…) Der pure Spaß, nicht nur für Theater-Insider."
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