Der Kirschgarten - Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Und alle singen mit
18. Februar 2024. Evgeny Titov erzählt mit Anton Tschechows "Der Kirschgarten" mal unsentimental, mal rührend von Transformationsprozessen.
Von Shirin Sojitrawalla
18. Februar 2024. Am Ende spiegelt sich das ganze Drama in Lopachins Gesicht. Gleichermaßen erschöpft wie sehnsuchtsvoll hängt er im Stuhl, der Kirschgarten gehört jetzt ihm, die Geschichte wiederholt sich nicht, sondern die Verhältnisse kehren sich um. Während hinter ihm die frühere Gutsbesitzerin Ranjewskaja mit ihrem Bruder und ihrer Tochter um die Wette jammert, ist Michael Birnbaums Lopachin sehr still geworden. All das, was auf dem Spiel steht, äußert sich im sachten Zucken seines linken Mundwinkels. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil man sonst an diesem Abend nicht nur einmal gern sehr laut "weniger ist mehr!"gerufen hätte.
Zum letzten Gefecht
Die Ankunft der Gutsbesitzerin mit ihrer Entourage gestaltet sich in Wiesbaden nämlich wie der Einzug eines hysterischen Hühnerhaufens. Gelächter, Gewieher, schlapper Slapstick und Auf-ihn-mit-Gebrüll-Schauspiel. All das vollzieht sich im reizvoll abgewohnten Ambiente eines irre hohen Raumes, eine Mischung aus Tanzsaal und Verlies. Nur hoch oben gibt es ein Fensterchen, sonst ist alles blickdicht wie ein Grab. Der Putz schält sich bereits von den Wänden, die Bodenplatten heben sich. Eine dem Verfall geweihte Welt. Links ein Klavier, rechts hinten ein Schrank, weiter vorne ein Tischchen mit einem Spiegel darauf, drumherum viele Stühle, alles scheint mal unschuldig weiß gewesen zu sein. Damals.
Jetzt bestimmt die Farbe Grau Möbel und Seelen. Der Regisseur Evgeny Titov inszeniert Anton Tschechows "Kirschgarten" als Gespensterballett. Lauter Untote versammeln sich bei ihm zum letzten Gefecht. Die verschuldete Gutsbesitzerin muss sich dem ehemaligen Leibeigenen Lopachin geschlagen geben. Neue Zeiten brechen an. Anne Lebinsky spielt die Ranjewskaja in akzentuierter Grandezza, zu Anfang als zierkirschenhafte Erscheinung, später als souverän Trauernde. Ihr Sohn ist einst auf dem Gut ertrunken, auch das trieb sie ins Ausland. Immer mal wieder ist an diesem Abend davon die Rede, doch man wartet vergeblich darauf, dass Lebinsky dem Schmerz über das verlorene Kind Ausdruck verleiht.
Mit Verve und Bücher-Buckel
Benjamin Krämer-Jenster glänzt als Gutsbesitzer Simeonow-Pischtschik und gibt ihn als überhitztes Männchen, das mit einem hingeworfenen "halb so schlimm"die Traurigkeit eines ganzen Lebens auskostet. Er versteht es, den Menschen aus der Figur zu schälen. Wie auch Maria Wördemann als Warja, deren Feinnervigkeit sich in nervösem Kratzen ausdrückt. Fantastisch auch die überkandidelten Auftritte der Schauspielerin Margit Schulte-Tigges, die als Gouvernante wie ein Fabelwesen vorbeizieht. Titov arrangiert das Ensemble immer wieder neu im Raum. An einem der schönsten Momente stimmt die Gutsbesitzerin ein russisches Lied an und nacheinander singen alle mit. Und auch wenn man nicht versteht, was sie singen, begreift man, dass es ein Früher gab, das alle vereint.
Dieser "Kirschgarten"gestaltet sich als mal ergreifender, mal lärmender Menschenzoo. Den Regiehammer lässt Titov diesmal im Schrank und vertraut auf sein Ensemble, präzise Lichtwechsel und musikalische Stimmungen. Dass "Der Kirschgarten"eigentlich eine Komödie ist, sieht man, abgesehen von ein paar unlustigen Albernheiten, in Wiesbaden nicht, was kein Schaden ist. Dafür erzählt der Abend mal unsentimental, mal rührend von Transformationsprozessen, die keinen Stein auf dem anderen lassen. Jede der Figuren findet ihren eigenen Umgang damit, der ewige Student Trofimow etwa wälzt wilde Theorien. Lukas Schrenk gibt ihm mit Verve und Bücher-Buckel. Manch anderer ertränkt seine Verlustangst in sprudelnden Getränken und inhaliert Zigarettenrauch wie einen letzten Wunsch.
Schaurig schönes Geisterhaus
Womöglich befindet man sich hier auch auf gar keinem Gut mehr, sondern in einem Toll- oder Irrenhaus mit extravaganten Gestalten, die verrückt spielen. Erst schlüpft ein Liebespaar ins Klavier, später eine Tanzgesellschaft in den Kleiderschrank. Am Ende ziehen sie alle von dannen, der neue Besitzer Lopachin schließt hinter sich zu. Einen aber haben sie wieder einmal vergessen, den ollen Diener Firs. In Wiesbaden verkörpert Rainer Kühn den hinfälligen Alten mit Schopenhauer-Haarkranz und -koteletten. Während die anderen über die Bühne scharwenzeln, schlurft er mühsam von A nach B. Als zum Schluss keiner außer ihm mehr da ist, bettet er sich in die große Schublade des Schranks wie in einen Sarg. Jetzt gehört er zum Inventar. Das gilt auch für die Geschichten der anderen Bewohner. Sie alle beseelen dieses schaurig schöne Geisterhaus.
Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Erstaufführung der deutschen Übersetzung von Wolf Christian Schröder
Inszenierung: Evgeny Titov, Bühne: Duri Bischoff, Florian Schaaf, Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer, Frank Schönwald, Musik: Moritz Wallmüller, Licht: Steffen Hilbricht, Dramaturgie: Wolfgang Behrens.
Mit: Anne Lebinsky, Lena Hilsdorf, Maria Wördemann, Christian Klischat, Michael Birnbaum, Lukas Schrenk, Benjamin Krämer-Jenster, Margit Schulte-Tigges, Felix Strüven, Christina Tzatzaraki, Rainer Kühn, Paul Simon.
Premiere am 17. Februar 2024
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause.
www.staatstheater-wiesbaden.de
Kritikenrundschau
In der "Kirschgarten"-Inszenierung Evgeny Titovs sei "längst alles verloren, wenn das Stück beginnt", berichtet Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (19.2.24, €). "Umso leidenschaftlicher" tue man hier so, "als werde schon noch alles gutgehen". Der Regisseur nutze eine neue Übersetzung, die das Geschehen "behutsam in Richtung Heute" rücke. Teile des Personals seien "ein wenig überzeichnet – als wolle Titov die Chance wahren auf Komödie", so die Kritikerin. "Die feuchtfröhlichen Szenen" des Stückes weckten indes "eine Tanz-auf-dem-Vulkan-Assoziation".
Bettina Boyens von der Frankfurter Neuen Presse (19.2.2024) lobt "feinsinnige szenische Klammern", die aus Evgeny Titovs Tschechow-Inszenierung "großes Theater machen". Sie schreibt: "In dem heruntergekommenen Weiß des ehemals herrschaftlichen Guts von Duri Bischoff blühen keine Kirschbäume mehr, sondern gefährlicher Hausschimmel, der unter dem abgeplatzten Lack und den aufgebrochenen Bodenplatten sichtbar ist. Auch Assoziationen an ein fensterloses Gefängnis oder eine Nervenheilanstalt entstehen, wenn die nach Jahren zurückkehrende Gutsherrin mit ihrer hysterisch lärmenden Entourage aus Paris einfällt."
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