Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui - Mecklenburgisches Staatstheater
Der Geist der Pest
21. September 2024. Will einer wie er gerade Ministerpräsident werden in einem ostdeutschen Bundesland? Regisseur Martin Nimz hält sich in seiner Brecht-Inszenierung klug zurück mit allzu plakativen Verweisen – und landet umso überzeugender im Hier und Heute.
Von Michael Laages
21. September 2024. Auch jetzt, 83 Jahre danach, ist die Anstrengung zu spüren – es fiel dem Stückeschreiber auf der Flucht und im Exil nicht eben leicht, das Schreckgespenst der Zeit in eine Fabel für die Bühne zu zwingen. Der von Deutschland angezettelte Weltkrieg war 1941 fast zwei Jahre alt, vor acht Jahren hatte das deutsche Wahlvolk einen gewissen Adolf Hitler aus Braunau, einem niederösterreichischen Städtchen am Inn, zum Herrscher gewählt; drei Jahre vorher hatten in den Pogromen vom November 1938 jüdische Gotteshäuser gebrannt, waren jüdische Geschäfte zerstört worden.
Und Bertolt Brecht war geflohen: erst nach Dänemark, dann nach Finnland. Jetzt sollte es bald weitergehen in die USA – und Brecht gab sich vorsichtshalber schon mal große Mühe, den zukünftigen Gastgebern das nationalsozialistische Kriegs- und Terror-System daheim so zu erklären, dass auch Amerika es verstehen würde.
Rechtsradikales Polit-Personal
So (und mit Hilfe der Ko-Autorin Margarethe Steffin) entstand die Fabel um den Kleinkriminellen Arturo Ui, dessen Aufstieg – meinte Brecht – "aufhaltsam" gewesen wäre: "die Völker wurden seiner Herr", im letzten Augenblick; "jedoch" (so spricht der Epilog) "dass keiner uns zu früh da triumphiert – der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch".
Amerika hatte damals kein Interesse am Ui. Erst 1958 zeigte Peter Palitzsch das Stück – erst im Westen, in Stuttgart, dann im Osten, am Berliner Ensemble. Da war Brecht schon tot. Natürlich wurde das Stück als Warnung gelesen – und so ist es wieder in Zeiten, da rechtsradikales Polit-Personal gewählt werden will in politische Führungspositionen, gerade in Thüringen und Sachsen, morgen in Brandenburg, irgendwann demnächst auch in Schwerin, wo das Mecklenburgische Staatstheater die Spielzeit eröffnet mit Brechts "Arturo Ui". Aber das Team um Regisseur Martin Nimz hütet sich vor allzu markanter Zeitgenossenschaft; versucht halt zu "sehen" statt zu "stieren" (wie es ja auch heißt im Epilog) – und denkt sofort vom Stückbeginn an darüber nach, woher wohl der Hitlerismus, diese Geißel nicht nur des vorigen Jahrhunderts, tatsächlich gekommen sein könnte – welcher Schoß also vorher schon fruchtbar war.
Bevor also die Konzern-Chefs im "Trust", dem Unternehmensverbund der Gemüsehändler, räsonnieren über die schwächelnde Konjunktur im Handel mit "Karfiol" (also Blumenkohl) und anderem Gemüse, zeigt die Inszenierung die Geburt des Ui aus dem Geist der Pest – unten aus einem singenden schwarzen Engel heraus purzelt ein in sich gekrümmtes Wesen in Embryo-Gestalt, langsam kollert es die bühnenbreite Treppe herunter, die Sonia Hilpert in die alte Druckerei der Schweriner Volkszeitung hineingebaut hat, jetzt die "M*Halle" des Staatstheaters in Schwerin. Dieses Wesen bewegt sich zunächst nur auf Händen und Füßen, wird gelegentlich auch als kleiner Affe tituliert. Zum Sprechen ist es zunächst noch unfähig, hat aber schon blaue Box-Handschuhe an. Ein lokaler Gang-Chef nimmt diesen Kaspar Hauser unter die eigenen Fittiche – die Kreatur wird zum angenommenen Sohn des brandgefährlichen Mörders und Erpressers Ernesto Roma.
Ernsthafte Tragödie
Wer sich der politischen Parallelen in der realen Geschichte einigermaßen bewusst ist, staunt ein wenig – denn schon immer galt als eines der ärgsten Probleme in Brechts Ui-Stück die Art und Weise, wie der Autor die Figur des Hitler-Förderers Ernst Röhm verherrlichte, dieses männerbündlerischen, homosexuellen Landsknechtsführers, dessen SA-"Sturm-Abteilungen" zur frühen Leibgarde des verurteilten Straftäters Hitler wurden.
Hier ist nun tatsächlich alles, was Hitler ist und wird, Teil von Röhms geistig-emotionalem Erbe. Und dass der aufstrebende, vom Wirtschaftstrust mehr und mehr geförderte Neu-Politiker den Ur-Freund Röhm später opfern muss, um weiter aufsteigen zu können, wird zur ernsthaften Tragödie. Mit den neuen Partnern Giri (Göring) und Givola (Goebbels) ist die mörderische Killer-Bande nun komplett – und übernimmt erst die Macht in Chicago (also Deutschland) und dann auch in der Vorstadt Cicero; das ist Österreich. Unter Druck und Gewalt wählen nun hier wie dort die deutsch-österreichischen Kälber ihre Metzger selber.
Martin Nimz (der in Schwerin auch mal Schauspieldirektor war, noch viel früher auch in der Intendanz von Christoph Nix am Staatstheater in Kassel) gelingt eine überaus kompakte Inszenierung des komplikationsreichen Stückes. Sie gewinnt viel dadurch, dass sie sich nirgends verrennt in dekorativem Gangster- und Unterwelt-Kabarett, das ja oft beschworen wird, zuletzt in Leipzig. Die Treppe wird zum ansatzweise abstrakten Bild vom Aufstieg, und Hildegard Altmeyers Kostüme gehen noch einen klugen Schritt weiter – alle tragen schwarze Trainingsanzüge, die auf der Rückseite mit den Worten "Club" (für die Gangster) und "Trust" (für die Wirtschaftsmagnaten) markiert sind; die rechte Frontseite der Anzüge ziert jeweils senkrecht der Name der Figur. Und Ui ist der weiße Rabe, der Sonderling in diesem Fight-Club. Oder der weiße Hai.
Sehr von heute und hier
Und noch ein paar Schritte weiter weg vom handelsüblich-parodistischen Gangster-Milieu führt Arturo Ui hier selber – denn Astrid Meyerfeldt spielt ihn, eine der kostbaren Heldinnen aus Frank Castorfs früher Zeit in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Meyerfeldt exekutiert den Text ungewöhnlich scharf und streng. Zuvor hatte das sprachlos blubbernde Wesen noch Stehen, Gehen und Sitzen sowie öffentliches Sprechen gelernt, hier bei einem der Trust-Bosse – Schwerins Urgestein Jochen Fahr übernimmt auch die Szene vom Schauspiel-Unterricht, und sie ist ziemlich komisch! Überhaupt: das Ensemble – den kühl-konzentrierten Ton der Nimz-Inszenierung tragen auch Marko Dyrlich als Roma, Jennifer Sabel als Giri, Jonas Steglich als Givola und vor allem der Gast Andreas Haase als bestechlicher Alt-Politiker Dogsborough; womit ja Hindenburg gemeint ist, Militär und Präsident im Niedergang der Weimarer Republik. Studierende der Ernst-Busch-Schule fügen sich ein, und unter den Schweriner Jung-Talenten fällt besonders Wassilissa List auf.
Der Premieren-Beifall ist schon fast verrauscht, da fügt Jochen Fahr noch den bekannten Epilog an – wie im eleganten Party-Schnack bei der Wahlparty ist diese Warnung dann eben doch sehr von heute und hier; und unvermeidlich. Denn wie fruchtbar der Schoß ist, ist gerade zu sehen.
Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui
von Bertolt Brecht
Regie: Martin Nimz, Bühne: Sonia Hilpert, Kostüme: Hildegard Altmeyer, Dramaturgie: Nina Steinhilber.
Mit: Johann Born, Vincent Brusdeylins, Marko Dyrlich, Jochen Fahr, Andreas Haase, Wassilissa List, Astrid Meyerfeldt, Sebastian Reck, Jennifer Sabel, Jonas Steglich, Marthe-Luise Urbanek, Till Timmermann, Frank Wiegard.
Premiere am 20. September 2024
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.mecklenburgisches-staatstheater.de
Kritikenrundschau
Die Botschaft des Stücks sei so aktuell wie nie – "und kam auch beim Publikum an", schreibt Werner Geske in der Ostsee-Zeitung (23.9.2024). Regisseur Nimz rücke besonders das Wie der Ui'schen Machtergreifung ins Zentrum. "Im Gegensatz zu Brecht ist Ui bei ihm aber weder eine Hitler-Parodie, noch der zu Beginn des Stückes bereits bekannte Gangsterboss. Stattdessen entsteigt er, mehr Kreatur als Mensch, dem Schoß des Engels der Pest", schreibt Geske, lobt die "überzeugende Ensembleleistung" und die "überwältigende Astrid Meyerfeldt" in der Titelrolle.
"Ernsten Dingen wie Machtgier, Betrug, Skrupellosigkeit, Mord spürt Regisseur Martin Nimz nach. Mit den von Hildegard Altmeyer schwarz kostümierten Figuren, die ihre Namen vorn und ihre Jobs auf dem Rücken tragen, arrangiert er meist strenge, rituell anmutende Tableaus", schreibt Manfred Zelt in der Schweriner Volkszeitung (23.9.2024). Vor allem setze Nimz auf eine interessante Variante der Titelfigur. "Mit komödiantischen Tupfern" zeichne Astrid Meyerfeldt als Ui "das Porträt einer anschwellenden Radikalisierung". Der Rest des Ensembles bringe "mit Energie nahe, wie Macht kalkuliert, Lüge zur Wahrheit umgeschminkt wird", so Zelt – und hat noch ein Extra-Lob zu vergeben: "Marko Dyrlich als rabiater Roma, reif für jeden Tatort."
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