#WirSindHierNichtRenePollesch

9. März 2024. Viel Leute rasen im Großraumbüro auf der Metaebene durch das Fegefeuer der Gegenwart. Unterstützt von Slapstick, Kalauern und einem spielwütigen Ensemble hat David Gieselmann sein neues Stück uraufgeführt. Eine News-Revue mit Verneigung vor dem gerade verstorbenen René Pollesch.

Von Kai Bremer

"En woke" von David Gieselmann am Theater Bielefeld © Philipp Ottendörfer

9. März 2024. Als David Gieselmann Ende der 1990er Jahre anfing, fürs Theater zu schreiben, hat er seine Stücke häufig selbst inszeniert. Das hat sich eigentlich grundlegend geändert. In Bielefeld, wo seine Texte immer wieder von verschiedenen Regisseuren auf die Bühne gebracht wurden, hatte gestern sein neustes Stück "En woke" Premiere. Anders als bisher hat es der Autor zusammen mit den Schauspieler:innen Nicole Lippold, Doreen Nixdorf, Rosalia Warnke und Faris Yüzbaşıoğlu entwickelt. Eine Rückkehr zu den eigenen Theateranfängen also?

Inhaltlich sicherlich nicht. Das Stück macht von Beginn an klar, dass es im Hier und Jetzt spielt, da es live mit den 20-Uhr-Radionachrichten eines Lokalsenders einsetzt. Die vier Darsteller:innen sind zu Beginn Josephine (Doreen Nixdorf), Jeanette (Nicole Lippold), Agnetha (Rosalia Warnke) und Angelo (Faris Yüzbaşıoğlu). Poppig-grell eingekleidet sitzen sie offenbar in einer Art Großraumbüro vor ihren Schreibtischen und schlagen die Zeit tot. Janette etwa reiht Quietsche-Entchen auf ihrem Schreibtisch hintereinander.

Bitte ein Bällebad

Allmählich kommen die vier miteinander ins Gespräch. Auf Janettes Schreibtisch liegt ein Stift, der vielleicht einmal einer Simone gehört hat, an die die Erinnerung aber verblichen zu sein scheint. Eine konkrete Handlung entwickelt sich daraus aber nicht, vielmehr nehmen die vier rasch weitere Rollen an: "Vielleicht kennen Sie mich, mein Name ist Sarah Wagenknecht vom 'Bündnis Sarah Wagenknecht', früher Twitter. Ich meine: Früher bei den Linken."

"En woke" nimmt in den folgenden 70 Minuten die Schlagzeilen der letzten Tage auf und kommentiert sie pointiert. Sowohl wesentliche Protagonisten der Bundespolitik als auch Stars und Sternchen bekommen ihr Fett weg. Zwischendurch werden kommunale Themen angerissen (die "Ergebniskrise" von Arminia Bielefeld etwa, aber auch die Junkies am örtlichen Bahnhof und der Stadthalle).

'Wokeness' zieht sich dabei nicht leitmotivisch durch alle Szenen. Wenn sie aufgerufen wird, wird sie meist performativ ironisiert. Jeanette ist die, die angesichts der ganzen Nachrichten allmählich "newsmüde" wird und selbstironisch fragt: "Kann mir bitte jemand ein Bällebad einlassen?" Das passiert selbstverständlich nicht. Aber Josephine/Doreen Nixdorf zögert nicht, einen Karton voller Tischtennisbälle über ihr auszugießen.

Keine Angst vorm Kalauer

In den diversen Szenen harmonieren die vier Darsteller:innen wunderbar miteinander. Gleichzeitig haben sie keine Scheu vor Slapstick und Kalauern, so dass der eh nicht all zu lange Abend viel Spaß macht. Das liegt natürlich auch daran, dass Gieselmann das komödiantische Handwerk souverän beherrscht. Als die tagespolitische Satire sich allmählich abzunutzen droht, wuchten die vier auf der Bühne einen mächtigen schwarz-grauen Pappmaché-Baumstamm in den Bühnenvordergrund und hauen Stammtisch-Witze der anderen Art raus: "Ich bin halt schon ziemlich stamm."

en woke 01 philippottendoerferGanz schön woke hier: Rosalia Warnke, Doreen Nixdorf, Nicole Lippold, Faris Yüsbasiyoglu © Philipp Ottendörfer

Das ist zwar platt, trifft aber nicht nur den – zugegebenermaßen – derben Humor des Kritikers, sondern auch den des übrigen Publikums. Gleichzeitig führen Gieselmann und die vier vom Theater Bielefeld in ihrer News-Revue ein ums andere Mal vor, dass selbst solide Schenkelklopfer nicht davon leben müssen, dass sie auf Kosten von Minderheiten gehen oder Dritte diskriminieren müssen.

Verneigung vor René Pollesch

Ergänzt wird das Spiel – wie sollte es in einer guten Komödie anders sein – durch eine wohl dosierte Portion Metatheatralität: "Hashtag Wir-sind-hier-nicht-René-Pollesch". Zunächst entsteht der Eindruck, dass Polleschs überraschender Tod auch nur eine Nachricht der letzten Tage unter vielen war, auf die kurz angespielt wird. Schließlich aber erinnern sich die vier wieder an Simone: "Vielleicht ist sie ja hier noch irgendwo." "Wer?" "Simone" "Oder René" Gleichzeitig versammeln sich Josephine, Jeanette, Agnetha und Angelo unter einem Schirm, unter dem es zu regnen beginnt, ehe die Bühne dunkel wird.

Mit diesem poetisch-absurden Schlussbild zeigen Gieselmann und die Bielefelder Darsteller:innen nicht nur, wie aussichtslos es ist, trotz 'Newsmüdigkeit' den frustrierenden Nachrichten zu entkommen. Mit "En woke" kehrt David Gieselmann vielleicht auch zu seinen Anfängen zurück, vor allem aber zieht er seine Mütze und verneigt sich vor René Pollesch.

En woke
von David Gieselmann
Uraufführung
Inszenierung: Ensemble mit David Gieselmann und Lisa Brehe-Krokowski, Bühne: Annette Breuer, Jürgen Höth, Licht: Sebastian Hanneforth, Dramaturgie: Ralph Blase.
Mit: Nicole Lippold, Doreen Nixdorf, Rosalie Warnke, Faris Yüzbaşıoğlu.
Premiere am 8. März 2024 
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.theaterbielefeld.de

 

Kritikenrundschau

Stefan Keim vermisst im WDR (11.3.2024) eine Art Rahmenhandlung und Rollen. Die Idee, eine tagesaktuelle Komödie zu machen und über die Spielzeit weiterzuentwickeln, findet Keim großartig. Aber dass ohne Regie inszeniert werde, erweise sich als Problem, weil viele Gags nicht so zünden, wie sie es auf den Proben vermutlich getan haben.

Verwirrung auch bei Burgit Hörttrich im Westfalenblatt (11.3.2024): "Die Minuten auf der Digitaluhr laufen davon, die Protagonisten in ihren schrill-bunten Kostümen suchen nach Gewissheiten zwischen Irrtümern, Falschnachrichten und Verwerfungen." Allerdings: "Was soll das alles nur?" Da bleibe dann nur ein Satz von Bertold Brecht als (beina- he) Schlusswort: "Der Vorhang zu und alle Fragen offen." Immerhin habe sich das Publikum sehr amüsiert.

 

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