Surrealismus for Future

4. März 2023. Johan Simons löst ein, was er am Anfang seiner Bochumer Intendanz versprochen hat: Er macht den Klimawandel zum Thema – mit Luis Buñuels surrealistischer Parabel als Folie und einer bezwingenden kindlichen Stimme als Botin des Kommenden.

Von Max Florian Kühlem

Sandra Hüller in "Der Würgeengel", inszeniert von Johan Simons in Bochum © Armin Smailovic

4. März 2023. Ja, gut, das hier ist eine neue Zusammenarbeit von Johan Simons und Sandra Hüller, und irgendein wichtiger Theaterpreis ist bestimmt noch übrig, den man den beiden verleihen könnte. Aber wirklich interessant sind im Schauspielhaus Bochum an diesem Abend nicht unbedingt die Momente, wenn Sandra Hüller seufzt und stöhnt, sich windet, schreit oder Popsongs singt. Sondern die, in denen Mina Skrövset, ein kleines Mädchen mit großer Brille, auf die Bühne stapft und faszinierende Fakten aus der Natur präsentiert, die die Menschheit drauf und dran ist, zu zerstören.

Auf Greta Thunbergs Spuren

Schon als Johan Simons 2018 als Intendant in Bochum antrat, nannte er den Klimawandel als ein Thema, das seine Intendanz sicher bestimmen werde. Kurz vor dem Start seiner ersten Saison hatte zum ersten Mal ein Schulmädchen mit dem Schild "Schulstreik für das Klima" vor dem Schwedischen Reichstag demonstriert. Am Tag der Premiere des "Würgeengels" ist aus Greta Thunbergs Protest längst die weltumspannende Bewegung Fridays For Future gewachsen, die am globalen Klimastreik-Tag auch in Bochum einen Demo-Zug mit mehreren tausend Menschen in der Nähe des Schauspielhauses vorbeiziehen lässt.

Der Wuergeengel c Armin Smailovic 10 Kein Ausweg aus dem Klassenzimmer: Roman Kanonik, Anne Cathrin Buhtz, Marius Huth und Alexander Wertmann spielen Luis Buñuel © Armin Smailovic

Der Regisseur, der seine Bochumer Intendanz für ein grandioses Alterswerk nutzt, schafft es an genau diesem Tag endlich, ein wirkungsvolles Stück über den Klimawandel auf den Spielplan zu setzen, ohne dass der Begriff am Abend ein einziges Mal fallen würde. Ein bisschen erinnert das an das letzte Kapitel von W.G. Sebalds "Die Ringe des Saturn", in dem es scheinbar nur um den regelrechten Wahn des Seiden-Anbaus geht, dem Europa im 18. und 19. Jahrhundert verfallen war – aber eigentlich handelt es vom Holocaust.

Eine Gesellschaft in der Stagnation

"Der Würgeengel" ist also nur auf den ersten Blick eine Theater-Adaption von Luis Buñuels gleichnamigem, surrealistischem Filmklassiker aus dem Jahr 1962. Es geht um eine Abendgesellschaft, die nach einer Feier den Raum nicht verlassen kann beziehungsweise, wie es im Programmheft formuliert ist, "den Absprung nicht findet". Denn es gibt kein offensichtliches Hindernis im Außen, die Menschen halten sich selbst für außerstande, die Schwelle zu übertreten, einen Übergang zu schaffen, eine Veränderung herbeizuführen.

Diese Situation ist aus sich selbst heraus schon ein treffendes Bild für die heutige Gesellschaft, die die Fakten über die zerstörerische Kraft ihrer Form des Lebens und Wirtschaftens ziemlich klar vor sich liegen hat, aber den Übergang scheut, aus Angst vor Veränderung erstarrt. Da hätte es nicht unbedingt noch ein Klassenzimmer als Bühnenbild (Johannes Schütz) gebraucht.

Der Wuergeengel4 805 Armin Smailovic uUnbehagen im Wohlstandskollaps: Roman Kanonik, Sandra Hüller, Anne Cathrin Buhtz und Alexander Wertmann © Armin Smailovic

Die Figuren, die auf den zu kleinen Stühlen an den zu kleinen Tischen Platz nehmen, tragen in Angela Obsts Textfassung die gleichen Vornamen der Schauspieler*innen aus Bochum und dem koproduzierenden Schauspiel Leipzig. Sie tauschen sich über ihr Unbehagen aus, das sich mehr und mehr zu nackter Angst entkleidet. Leider wird so, flankiert von zwei Live-Musiker*innen an einer Kirchen- und einer Hammond-Orgel, viel geschrien, gezetert und gestöhnt, was die Intensität nicht unbedingt steigert, sondern eher Distanz schafft.

Das Ensemble singt gemeinsam Psalmen (immerhin stammt die Figur des "Würgeengels" aus der Bibel), die von der innigen Liebe zu Jesus zeugen und die menschliche Vergänglichkeit thematisieren. Sandra Hüller darf, wie eingangs erwähnt, auch Popsongs singen. Es sind Songs von Low, Portishead oder Billie Eilish, die verschiedene Generationen depressiver Teenager auf dem Bett liegend und an die Decke starrend gehört haben.

Untergehende Inselstaaten

Deshalb sind es tatsächlich regelrecht erlösende Momente, wenn Mina Skrövset (die sich in Bochum mit Tabea Sander abwechselt) die Bühne betritt und ein Kurzreferat über Perlboote hält, kleine Kopffüßer, Wunder der Natur, die zum Beispiel vor der Küste des südpazifische Inselstaats Vanuatu vorkommen. Vanuatu hat den Internationalen Gerichtshof angerufen, um zu klären, wer für die Versäumnisse im Klimaschutz haftbar gemacht werden kann. Ihre Folgen betreffen zwar die ganze Welt. Aber zuerst gehen Inseln wie Vanuatu unter. In einem zweiten Vortrag geht es um Bienenvölker, die ein neues Zuhause suchen und dabei mit der eigenartigen Schwarmlogik vorgehen, die keine Anführer und Klassenschranken kennt. Selbst die Königin wird eingereiht und dem Ziel untergeordnet.

Das Mädchen spricht mit einer natürlichen Präsenz, die den Raum erfüllt und tatsächlich alle anderen auf der Bühne Agierenden in den Schatten stellt. Es klagt nicht an, es präsentiert bloß wissenschaftliche Fakten über die Wunder der Natur, von der wir Menschen uns inspirieren lassen könnten, die wir aber nicht schützen, sondern zerstören. Vielleicht hat es am Vormittag auch die Schule bestreikt, um sich einem wichtigeren Thema zu widmen und für seine Zukunft auf die Straße zu gehen. Gut, dass es noch genug Energie für diesen Theaterabend hatte, der mit Standing Ovations und Bravo-Rufen bedacht wird.

 

Der Würgeengel. Psalmen und Popsongs
nach dem Film von Luis Buñuel
Textfassung von Angela Obst
Regie: Johan Simons, Bühne: Johannes Schütz, Kostüm: Katrin Aschendorf, Lichtdesign: Bernd Felder, Video: Voxi Bärenklau, Musik: Moritz Bissmann, Steven Prengels, Sounddesign: Will-Jan Pielage, Dramaturgie: Angela Obst, Marleen Ilg.
Mit: Moritz Bossmann, Anne Cathrin Buhtz, Marius Huth, Sandra Hüller, Roman Kanonik, Mina Skrövset / Tabea Sander, Laura Wasniewski / Christopher Bruckman, Alexander Wertmann.
Premiere am 3. März 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 Kritikenrundschau

"Dem Regisseur und seinem Team ist ein aufregender, außergewöhnlicher Theaterabend gelungen, kurz und bewegend", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (online 5.3.2023). Vieles an der Inszenierung sei ominös und dunkel symbolisch, besitze einen geradezu spirituellen Touch. Mit der Figur des Mädchen bekenne Simons "seine Sympathie für 'Fridays for Future', warum auch nicht? Das Theater darf auch frohe Botschaften haben."

Es sei ein Abend, der sich sehr um Sandra Hüller drehe, meint Christoph Ohrem im WDR 3 (4.3.2023). Der aber "aufgrund einer großen Komplexität" dafür sorgen dürfte, dass der ein oder andere abgehängt werde. Ohrem ist sich nicht ganz sicher, ob Simons den Stoff in der Inszenierung "bis zum Ende ausdekliniert" habe.

"Während Buñuel noch der Bourgeoisie in Frack und Abendkleid den Zerrspiegel vorhielt, ist das Drama in Johan Simons Interpretation längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen", schreibt Sven Westernströer in der WAZ. "All dies ist richtig gut gespielt: Theaterstar Sandra Hüller fügt sich leichtfüßig ins Ensemble aus Bochumer und Leipziger Schauspielern mit ein. (...) Garniert mit " Psalmen und Popsongs" , so der Untertitel, bekommt der Abend gelegentlich sogar etwas Schwungvolles." Frei von Schwächen sei er aber nicht. "So erschließt sich nur schwerlich, warum Johan Simons die Handlung in ein Klassenzimmer mit viel zu kleinen Möbeln verlegt. Da hat Bühnenbild-Legende Johannes Schütz schon spannendere Räume gebaut. Auch die schwarz-weißen Videos im Hintergrund gewähren kaum neue Innenansichten oder überraschende Perspektiven."

"Virtuos setzt Regisseur Johan Simons den Besteckkasten des absurden Theaters ein, zeigt Erstarrung, Handlungslosigkeit, Verwirrtheit. Stellenweise erinnert dies an die legendären Theaterabende von Christoph Marthaler“, so Dorothea Marcus vom Deutschlandfunk (4.3.2023). Teils sei die Inszenierung zu bombastisch geraten, ziehe sie sich etwas zu eitel in die Länge, sei die Symbolik überdeutlich. Der Abend begebe sich zwar in philosophische Tiefen, wirke zuweilen jedoch wie oberflächlich improvisiert.

"Die fünf Menschen in diesem Klassenzimmer sind im Loop unserer Krisen gefangen. Kriege, Katastrophen, der Klimawandel beeinflussen unser Lebensgefühl, lassen angesichts unserer Machtlosigkeit verzweifeln - das zeigt dieser Abend eindrucksvoll", schreibt Ronny von Wangenheim in den Ruhr Nachrichten (6.3.2023). "Hoffnung und Zuversicht könnten " Psalmen und Popsongs" bringen - so auch der Untertitel des Abends, der mehr Leichtigkeit verspricht, als er hält." "Es ist ein konzentrierter Abend, der auch den Zuschauern einiges abverlangt."

"Den surrealen Kommentar auf die Bourgeoisie formt Johan Simons am Schauspielhaus Bochum um zu einer atmosphärisch dichten Parabel auf eine Gegenwart der Krisen", so Ralf Stiftel vom Westfälischen Anzeiger (7.3.2023). "Auf bizarre Art hält der Abend uns einen Spiegel vor. Es fällt der Begriff 'Klima', es wird 'Kanonendonner' erwähnt. Aber das wird nicht betont, es liegt am Zuschauer, ob und wie er die apokalyptische Gegenwart von Seuchen, Krieg und Verwüstung wiederfindet. Aber angesprochen wird man von dieser empfindlichen Zeitdiagnose."

Joachim Lange von der Freien Presse (14.3.2023) erlebte einen "virtuos komödiantischen Theaterabend". Doch werde es auch für Momente todernst. Ein Hauch von Weltuntergangsstimmung wehe durch den Raum.

"Simons spielt mit seinem starken aus beiden Häusern stammenden Team emotionale Zustände in einer unsichtbaren, aber äußerst präsenten Extremsituation durch", schreibt Dimo Rieß in der Leipziger Volkszeitung (13.3.2023). "(E)in musikalischer, ein oft sogar heiterer Abend, der nichts beim Namen nennen muss, um seine Dringlichkeit zu entfalten."

Für Stefan Petraschewsky vom MDR (11.3.2023) war die Inszenierung "vielleicht am Ende auch eine Liebeserklärung an die unperfekte Gattung Mensch". "Ein sehr tröstlicher Abend in diesen Zeiten."

"Ohne den Klimawandel explizit zu thematisieren, wird die Koproduktion mit dem Schauspiel Leipzig zu einer treffenden Parabel für den Umgang mit Krisen. Es herrscht rasender Stillstand, der sich immer weiter beschleunigt, aber nirgendwo hinführt", schreibt Lara Wenzel in nd.DerTag (12.3.2023)

 

 

Kommentare  
Würgeengel, Bochum: Fremdkörper
Als Theaterabend bleibt die „Würgeengel“-Adaption recht statisch und zäh. Wie ein Fremdkörper wirken die kurzen Gastauftritte der Friday for Future-Aktivistinnen (Mina Skrövset / Tabea Sander wechseln sich bei den Vorstellungen ab), zu plakativ an den Rest des Abends angeklebt wirken ihre Lecture Performances über aussterbende Tierarten.

Die Koproduktion von Schauspielhaus Bochum und Schauspiel Leipzig lohnt sich als Theaterabend kaum, überzeugt jedoch als Sandra Hüller-Konzert. Die Starschauspielerin, die mit Simons seit Jahrzehnten und schon an den Münchner Kammerspielen eng zusammenarbeitet, performt „Psalmen und Popsongs“, wie der Untertitel des Abends lautet. Begleitet von Laura Wasniewski an der Kirchenorgel und Moritz Bossmann an der Hammondorgel singt Hüller gemeinsam mit dem restlichen Schauspiel-Quartett (Buhtz/Kanonik aus dem Leipziger Ensemble, Wertmann/Huth aus dem Bochumer Ensemble) mehrere von Johann Sebastian Bach vertonte Psalmen. Vor allem glänzt Hüller bei ihren Pop-Soli von „Girls just wanna have fun“ von Cyndi Lauper bis „My Future“ von Billie Eilish.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/03/19/der-wurgeengel-schauspielhaus-bochum-kritik/
Würgeengel, Bochum: Zumutung
Einfach nur eine Zumutung, wie leider oft von Simons. Die Kritik wird jubeln , ich bin gegangen...
Der Würgeengel, Bochum: Sandra Hüllers Erfolg
Völliger Nonsens, das ist schon eine Kunst!!
Einzig und allein Sandra Hüller hat mich zum ersten Mal richtig überzeugt! Ihre variable Darstellung und vor allem ihr Gesang hat mich stark beeindruckt und verhindert, dass ich die Vorstellung vorzeitig verlasse. So gesehen doch ein Erfolg!
Der Würgeengel, Bochum: Schade
Das Finale ist hoch poetisch. Sandra Hüller singt toll - sogar im Liegen! Der Rest ist äußerst zäh, fade und eher plump. Anleihen beim absurden Theater erfreuen den Zuschauer, das Surreale bleibt auf der Strecke.
Bunuels Original von 1962 ist in seiner Rätselhaftigkeit und Vielschichtigkeit dieser spannungslosen, blutleeren Neuinszenierung an Aktualität, Witz und Grauen bei Weitem überlegen. Schade für Bochum.
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