Leben des Galilei - Konstanze Lauterbach poliert Bertolt Brechts Gelehrtenspiel am Schauspiel Essen auf
Fernrohr des Fortschrotts
von Gerhard Preußer
Essen, 24. Juni 2017. Ein riesiger schwarzer Weihrauchkessel schwingt zu Beginn der Inszenierung bedrohlich in Richtung des Publikums und stößt graue Dampfwolken aus. Oh weh, hier droht uns die katholische Kirchenmacht. Die Bühne (Ann Heine) ist eine mehrfach gekrümmte, schiefe Fläche, Rutschbahn und Bodenwelle. Ach ja, hier fällt es schwer, aufrecht und sicher zu stehen. Alles ist parat für den Schaukampf zwischen dem Forscher Galilei und dem fortschrittsfeindlichen Papsttum. Etliche Einfälle bietet Konstanze Lauterbachs Inszenierung auf, um Bertolt Brechts schon lange kanonisierten Schulschmöker "Leben des Galilei" am Essener Schauspiel unterhaltungsgerecht aufzupolieren. Keine Schonzeit für Brecht, hier werden ihm Beine gemacht.
Milchprodukte spielen beim gefräßigen Galilei eine große Rolle: er wäscht sich am Anfang mit Milch, sein spätes Hauptwerk, die "Discorsi", versteckt er in einem holländischen Käselaib, zum Schluss wird er von seiner kirchenfrommen Tochter Virginia mit der Milch der frommen Denkart übergossen – vergeblich. Das Fernrohr, mit dem er sich in Venedig ein höheres Gehalt erwirbt und in Florenz die Jupitermonde als Beweis für das heliozentrische Weltbild entdeckt, ist bühnenfüllend riesig.
Lateinisch für den Lacheffekt
Um hindurchzusehen, muss man auf den Bauch sich legen. Die Professoren, die endlich sehen sollen, was sie nicht glauben, verweigern jeden Durchblick mit einer Debatte über das Weltbild des Aristoteles, die um des Lacheffektes willen genüsslich lange in klangvollem, aber dem Publikum wohl unverständlichem Lateinisch geführt wird. Wir sind also genauso traditionsfern und technisch versiert wie der ungebildete Linsenschleifer Federzoni.
In der Szene, in der die Kirchenvertreter auf das Ergebnis des päpstlichen Astronomen Clavius warten, der Galileis Annahme überprüfen soll, torkeln halbnackte Mönchsstatisten auf dem unebenen Bühnenboden, rotten sich mitunter zu Sprechchören zusammen, bevor auch Clavius zugeben muss: Galileis Lehre stimmt. Während die Pestszene fehlt, kommt der Karneval zu seinem vollen Recht: Bunte Gestalten tanzen über die Bühne, zaubern, zischen, singen. Hier wird pflichtgemäß der zugehörige Song der Bühnenmusik Hanns Eislers von den Schauspielern angedeutet. Sonst dominieren balkanische Blasmusik und italienische Opernarien vom Band die untermalende Musikspur.
Im Mittelpunkt von allem steht immer: Galilei (Axel Holst), zunächst als ungebärdiger Kraftmensch, dann als vorsichtig kalkulierender Forschungsstratege und schließlich als gebrochener Verräter mit minimaler Restschläue. In seinem (der Berliner Fassung von 1955 folgenden) Schlussmonolog wankt er, kurzatmig, mühsam sprechend – ein selbstanklägerischer Ekelmensch, der uns warnt, wenn es alle so machen wie er, wird aus dem Fortschritt Fortschrott. Die letzte, zaghaft optimistische Szene, in der Galileis Schüler Andrea die "Discorsi" über die Grenze nach Deutschland schmuggelt, ist gestrichen.
Wahrheit als Ereignis
Trotz des erfrischend respektlosen Umgangs mit Lehrmeister Brecht: Die nötige Distanz des Schauspielers zum Text ist veräußerlicht. Aktion, Bühnenbild, Requisite, Choreographie – in allem wird Brechts Forderung der Verfremdung des Bekannten übererfüllt. Nur der Umgang der Schauspieler mit der Sprache bleibt an der Technik der identifikatorischen Aneignung kleben. Sätze werden durch Erregung beglaubigt, nicht durch den Gestus der Überzeugung. Brechts Texte als Gedankensätze zu sprechen und nicht als emotionale Aufwallungen, fällt schwer. Am schmerzhaftesten zu erleben in der Szene mit dem kleinen Mönch: leere Rhetorik.
Eine verständliche Geschichte mit vielfältigen, lebendigen Mitteln erzählt, das findet sein Publikum. Aber wo bleibt der Anspruch des Theaters auf Zeitdiagnose oder -kritik? Galilei in den Rahmen der Reformation zu stellen, wie es das Programmheft tut, ist eine nette Verbeugung vor dem Luther-Jubiläums-Jahr, reicht aber wohl nicht als Bezug zur Gegenwart.
Die Verantwortung des Wissenschaftlers – heute kein großes Thema mehr. Gibt es irgendwo irgendeine Diskussion über die Verantwortung der Wissenschaftler in der militärtechnischen Forschung? Eher um die Verantwortung der Politik für die Wissenschaft, siehe Donald Trumps Kürzungen der Etats für Klimaforschung und Geisteswissenschaften oder die Diskussionen um die gesetzlichen Regelungen der Gentechnik.
"Die Wahrheit ist ein Kind der Zeit" sagt Galilei bei Brecht. "Eine Wahrheit ist ein Ereignis", meint der französische Philosoph Alain Badiou. Ein Ereignis ist dieser "Galilei" in Essen nicht, und die Wahrheit auf der Bühne müsste irgendwie anders aussehen, aber ein Erfolg wird er schon werden.
Leben des Galilei
Von Bertolt Brecht
Regie: Konstanze Lauterbach.
Musikalische Leitung: Achim Gieseler, Bühne: Ann Heine, Kostüme: Claudia Charlotte Burchard, Dramaturgie: Jana Zipse.
Mit: Axel Holst, Alexey Ekimov, Ines Krug, Stephanie Schönfeld, Stefan Migge, Jan Pröhl, Thomas Büchel, Philipp Noack, Jens Winterstein, Stefan Diekmann, Sven Seeburg, Rezo Tschchikwischwili.
Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause
www.schauspiel-essen.de
"Mit schmissigen Balkansounds, Hanns-Eisler-Sounds und Operneinspielungen nimmt der gestraffte Abend trotz langer Dialoge immer wieder Fahrt auf", so Martina Schürmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (26.6.2017). Brechts Verfremdung und ein wenig Kurzweil wisse Lauterbach geschickt in Einklang zu bringen: "Kein düsteres Pest-Szenario, aber burlesker Karneval."
"Am Grillo-Theater gelingt ein ansehnlicher, streckenweise kunterbunter, aber doch ereignisarmer Abend", findet Elisabeth Elling im Westfälischen Anzeiger (26.6.2017). Was der Text heute an Aussagekraft gewinnen könnte, werde mit einem Wortspiel abgehakt: "Fortschrott". Stattdessen werde ein Schulklassiker "oberflächlich aufgepeppt, manchmal durchaus unter Spannung gesetzt (wenn alle auf die Glockenschläge als Zeichen für Galileos Unterwerfung warten) und knallig ausstaffiert wie die Karnevalsgesellschaft".
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Für Menschen, die gerne möchten, dass die Wahrheit ein Ereignis ist, also Badiou recht hat mit seiner Behauptung, ist das Entdecken einer Wahrheit allerdings in der Regel ein Ärgernis.