Gesänge von Abschied und Schuld

11. Juni 2022. Wenig Glitzer, dafür Strohballen und eine gute Portion Nachdenklichkeit gibt's zum Auftakt des großen Theatertreffens der Freien Szene: beim "Impulse"-Festival in Nordrhein-Westfalen. Unter dem Eindruck von Corona und Klimakrise zeichnen Arbeiten Porträts der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft.

Von Cornelia Fiedler

"Extinction Room (Hopeless)" von Sergiu Matis beim "Impulse"-Festival 2022 © Robin Junicke

11. Juni 2022. Wisst ihr noch, "Ice Age", als ein Knäuel zankender Dodos über ein Kliff stürzte und einer der letzten Vögel dieser Art am Rande kommentierte, "there goes our last female"? Als das Aussterben noch zum Quieken komisch und Zynismus die Haltung der Stunde war? Jetzt tragen die Dodos, Bartgeier und Nonnenkraniche Jeans und Hoodie, auf der Wiese vor dem Ringlokschuppen. Sie staken durchs Gras, rucken mit den Köpfen, recken die Hälse, wirbeln, gurren, flattern, schnarren, springen, kauern, tanzen.

Die Performance "Extinction Room (Hopeless)" von Sergiu Matis ist eine der Eröffnungs-Inszenierungen des "Impulse"-Theaterfestivals 2022. Es ist ein ästhetischer, zugleich sehr unmittelbarer, trauriger Abend, kein abgeklärter. Das scheint hier insgesamt die künstlerische Haltung der Stunde. Ein Ritual mit den Stimmen ausgerotteter oder aussterbender Vogelarten, mit Menschen, die sie nicht ersetzen können, mit dunklen Gesängen von Abschied und Schuld.

Dankbarkeit nach Corona

Provokation, fieser Humor, Krach, Pamphlete, Lametta – war alles schon mal mehr beim Theatertreffen der Freien Szene. Es ist ein freundlich ruhiger Festivalauftakt, der spürbar werden lässt, dass keine leichte Zeit hinter allen Beteiligten liegt. Draußen, auf Biergartenbänken und Strohballen, ohne Glitzer dafür mit Sekt und Buffet für alle, mit Redner*innen, die eher suchend ihre Corona-Bilanzen ziehen, sich noch immer über physische Kopräsenz freuen und viel, viel, viel danken. Selbst dass der Bund seine klägliche Fördersumme angesichts der gesammelten Krisen nicht erhöht, und Claudia Roth ihren Besuch kurzfristig abgesagt hat, wird von Festivalleiter Haiko Pfost fast milde konstatiert.

Höhere Fördersummen bekommt "Impulse" dennoch ab diesem Jahr: Das Land NRW, die beteiligten Städten und die Kunststiftung NRW geben insgesamt 200.000 Euro mehr. Was damit passiert? Pfost und sein Team haben sich entschieden, es schlicht zu nutzen, um die eingeladenen Künstler*innen und die Mitarbeitenden etwas angemessener zu bezahlen, erzählt er im Gespräch. Ein kleiner Schritt raus aus der Prekarisierung der Szene.

Heiko Pfost 2022 805 Robin Junicke uSeit 2018 künstlerischer Leiter der "Impulse": Haiko Pfost bei der Eröffnung 2022 © Robin Junicke

Hat denn nun, wie im 2020 von "Impulse" spontan initiierten und durchaus wegweisenden Corona-Reflexionsbuch gefordert, ein "Lernen aus dem Lockdown" stattgefunden? Pfost lacht ein bisschen, auch das ist keine neue Frage. Das Bilanzziehen stehe noch aus, ebenso wie dieses "Ende von Corona", an das wir damals alle noch glaubten. Positiv sei auf jeden Fall, dass "die Förderinstitutionen jetzt anders ansetzen, es gibt Fair-Pay- und Nachhaltigkeits-Regelungen und vor allem endlich längerfristige Förderungen", sagt Pfost.

Lehrstunde in Aneignung: "Lovesongs" von Daniel Dominguez Teruel

Zurück zu den Showcases, den neun eingeladenen Leuchtturmprojekten der freien Szene. Auf Provokations-Potenzial lässt "Lovesong" von Daniel Dominguez Teruel hoffen. Sein Thema: nationale Symbole, Flaggen, Hymnen – durchexerziert am Beispiel Deutschland.

Erstmal gibt's aber Pop auf die Ohren, zum Hitradio zieht eine Putz-Taube im goldenen Jumpsuit mit einer Scheuer-Saugmaschine ihre Kreise. Sie ist in feindlicher Umgebung: auf den Boxentürmen sind Spikes angebracht, der klassische Schutz gegen das "Ungeziefer der Lüfte". Sie putzt bestimmt 10 Minuten, das Publikum fängt an zu quatschen, weil es offenbar keine Kunst sieht, die Bewegungen werden müder, umständlicher. Plötzlich läuft im Radio Cem Caracas Song „Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen an.“ Auf einmal ist Ruhe. Auf einmal ist klar, wie wunderbar wir gerade mitgespielt haben, bei der Marginalisierung, beim Othering, der Ent-Menschlichung der Person mitten auf der Bühne.

Lovesongs2 805 Robin Junicke u"Lovesongs" von Daniel Dominguez Teruel © Johannes Treß

Was folgt ist ein musikalisch-choreographisches Spiel um Identifikation und Aneignung, unterbrochen durch Dunkelheit, Lärm, Schüsse. Vier professionellen Fahnenschwinger*innen schwenken und werfen mit irrer Präzision schwarzrotgoldene Flaggen, das ist leider hübsch und damit planvoll unangenehm. Ganz ruhig werden "Die Moorsoldaten" gesungen, eine Erinnerung an die Tödlichkeit des deutschen Nationalismus, an die gern verdrängte Frage nach der Kunst nach Auschwitz.

Und immer weiter und weiter wird die deutsche Nationalhymne verfremdet, angeeignet, transponiert, orientalisiert, musikalisch zerlegt, verschmolzen mit Barock- und Popmusik, bis sie quasi verschwunden ist. Bis auch die Flagge weg ist, und nur noch die junge Frau da, die sie geschwungen hat, die jetzt mit leeren Händen Nichts in die Luft wirft.

Bessere Zukunft? "The Kids Are Alright" von Simone Dede Ayivi & Kompliz*innen

Das ist klug, klar, hochmusikalisch und viel weniger Kampfprojekt als erwartet. Darum geht es nicht. "Lovesong" reflektiert aus postmigrantischer Perspektive die seltsame Konstellation aus offener Gesellschaft plus Postnazismus, mit der wir so selbstverständlich leben.

Da knüpfen auch Simone Dede Ayivi & Kompliz*innen an. "The Kids Are Alright" ist eine Video-Klang-Rauminstallation über den Wunsch, die Kinder sollten es einmal besser haben. Dieses Mantra schwebt über Flucht, Migration, Neuanfang. Es wabert durch Schulen und Wohnzimmer, über Spielplätze und Arbeitsstätten, als Versprechen, als Erfolgsdruck, als Angst vor dem Scheitern in einem Land, in dem Unterkünfte für Geflüchtete brennen, aber auch als Antrieb und als Erfüllung.

TheKids Mayra Wallraff"The Kids Are Alright" von Simone Dede Ayivi & Kompliz*innen © Mayra Wallraff

Die meisten eingeladenen Produktionen verorten sich explizit politisch, viele nehmen marginalisierte Perspektiven ein, postmigrantisch, queer, feministisch, inklusiv. Passend dazu hat sich die "Impulse"-Akademie sehr Grundsätzliches vorgenommen, erzählt Pfost: "Die Frage nach sicheren und unsicheren Räumen. Aber auch nach dem Verhältnis von einem politischen zu einem ästhetischen Raum. Wo haben wir in der Kunst diese Grenzen überschritten? Und wo müssen wir die Sphären wieder ein Stück weit trennen, weil wir zu sehr Angst haben, einen Fehler zu machen?"

Barrieren im Care-Bereich: Michael Turinskys "Precarious Moves"

Eigentlich war geplant, dass Michael Turinsky das Festival begleitet und als Betroffener einen Realitätscheck vornimmt, ob und wie gut hier Barrierefreiheit und Inklusion funktionieren. Er musste absagen, seine Lage als Künstler mit Behinderung habe sich zugespitzt. "Im Zuge des Personalmangels im Care-Bereich", findet er schlicht keine Begleitung fürs Festival, ein weiterer Skandal im Schatten der Coronakrise. Turinskys Showcase "Precarious Moves" ist am 18.6. eimmal wie geplant zu sehen, die weiteren Vorstellungen können nur als Video gezeigt werden.

Auch der Film lässt erahnen, wie er sein Publikum in Präsenz heraus- und überfordert. Auf einer weißen Fläche, ungeschützt, mit minimaler Requisite verhandelt Turinsky Gin Tonic und Mobilität, Rollstühle und Sozialismus, Freiheit und die gesellschaftlichen Kräfte, die sie einschränken. Turinskys Performance verlangt Geduld. Sie bietet dafür das widerständige Potenzial eines Körpers an, der das irre Tempo des Spätkapitalismus nicht bedienen kann und will.

Precarious Michael Loizenbauer u"Precarious Moves" von Michael Turinsky © Michael Loizenbauer

Es ist zu früh für eine Einschätzung, nach nur vier Showcases. Aber Einschätzung lautet der journalistische Auftrag. Dies also unter Vorbehalt: Es fällt auf, das Corona Spuren hinterlassen hat, Erschöpfung, Burnout, Zweifel am Weiter-so. Es fällt auf, dass die freie Theaterszene gerade überbordend produktiv ist. Es fällt auf, dass die Künstler*innen es dennoch kaum schaffen, sämtliche Förder-, Open-Air- und Digitalprojekte abzuarbeiten, die anzunehmen die Pandemie sie gezwungen hat.

Es fällt auf, dass auch hier die Publikumsreihen nicht ganz voll sind. Es fällt auf, dass dies medial überdramatisiert wird, während "die Leute vielleicht einfach mal wieder Urlaub machen wollen", so Haiko Pfost. Es fällt auf, dass niemand hier mehr Lust hat, künstlerisch um den heißen Brei, aka die großen Katastrophen unserer Zeit, herum zu reden: Klimaerhitzung, Ausbeutung, Menschenfeindlichkeit. Es fällt auf, dass anstelle von zynischer Abgeklärtheit eine neue Offenheit und Unmittelbarkeit die künstlerischen Arbeiten prägt.

 

Extinction Room (Hopeless)
von Sergiu Matis
Konzept und Choreografie: Sergiu Matis, Choreografische Mitarbeit: Martin Hansen, Manon Parent, Soundinstallation und Komposition: Antye Greie aka AGF, Text: Philip Ingman, Sergiu Matis, Mila Pavićević, Artenrecherche: Philip Ingman, Dramaturgie: Mila Pavićević, Sound: Martin Lutz, Produktionsleitung: 4Culture Association, Distribution: Danila – Freitag, Agentur für Performative Künste.
Mit: Performance: Sergiu Matis, Nicola Micallef, Manon Parent.

Lovesongs
von Daniel Dominguez Teruel
Konzept, Musik, Szenografie: Daniel Dominguez Teruel, Stimme: Mona Steinwidder, Nouri
Zink: Lilli Pätzold, Barockposaune: Alexandra Mikheeva, Dalton Harris, Sabine Gassner, E-Gitarre: Homero Alonso Langbein, Fahnen: Hans Konrad, Felix Schlaich, Lisa Schlaich, Gerhard Schlaich, Betreuung: Ines Schlaich, Taube: Mia Hadžikadunić, Daniel Dominguez Teruel, Künstlerische Mitarbeit, Styling: Golo Pauleit, Dramaturgische Beratung: Adnan Softić, Probenleitung Chor: Eva Spaeth, Technische Leitung, Lichttechnik: Florian Vitez, Tontechnik: Benjamin Kurz.

The Kids Are Alright

von Simone Dede Ayivi & Kompliz*innen
Konzept: Simone Dede Ayivi, Video: Jones Seitz, Bühnenbild: Theresa Reiwer, Sound, Musik: Katharina Pelosi, Licht: Frieder Miller, Produktionsassistenz, dramaturgische Mitarbeit: Selma Böhmelmann, Ausstattungsassistenz: Chris Erlbeck, Kamera Außenaufnahmen: Thomas Machholz,
Expert*innen: Nabila Bushra, Fatma Kar, Lenssa Mohammed, Dan Thy Nguyen, Kadir Özdemir,
Produktionsleitung: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro, Technische Produktion: Gefährliche Arbeit.

Precarious Moves
von Michael Turinsky
Performance, Choreografie, Text, Lyrics: Michael Turinsky, Musik, Lyrics: Tian Rotteveelstage, Bühne, Kostüm: Jenny Schleif, Licht: Sveta Schwin, Fotografie, Video: Michael Loizenbauer, Dramaturgische Beratung: Gabrielle Cram, Produktion: Anna Gräsel.

www.impulsefestival.de

 

Lesen Sie auch das programmatische Interview mit dem künstlerischen Leiter der "Impulse" Heiko Pfost bei seinem Amtsantritt.

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