Porsche oder Bugatti?

10. Juni 2023. Zum Auftakt des Impulse-Theaterfestivals schickt Turbo Pascal in "Verkehrte Welt" Kinder in den Verkehr, während "Justitia! Identity Cases" Identitätsfragen auseinandernimmt und neu zusammensetzt.

Von Dorothea Marcus

Justitia! Identity Cases © Christine Miess

10. Juni 2023. Vor dem Bahnhof Köln Messe/Deutz, auf dem Ottoplatz, ist die Geräuschkulisse beeindruckend. Züge quietschen, eine sechsspurige Straße rauscht, gegenüber wird gerade das LVR-Hochhaus abgerissen. Nur wenige Schritte weiter tobt seit Monaten ein erbitterter Streit von Anwohnern und Geschäftsleuten, ob die Straße Deutzer Freiheit autofrei sein soll oder nicht. Momentane Tendenz: Der Verkehrsversuch wird aufgehoben, Autos dürfen wieder durchfahren.

Was läuft verkehrt im Straßenverkehr?

Mitten in dieser kommunalen Gemengelage steht vor dem Bahnhof seit einigen Tagen ein Autoscooter – mit nur einem Fahrgefährt, bunten Luftballons, Soundanlage. Und wenn die Zeit gekommen ist, heben die vier Performerinnen von Turbo Pascal ihre Megafone, um die Welt mit treibendem Jahrmarktspop und unbequemen (Kinder)-Fragen zu stören: "Was läuft verkehrt im Straßenverkehr? Gibt es zu viele Autos? Sind die Autos zu laut? Oder läuft verkehrt, dass die Fahrradwege nicht gut ausgebaut sind? Sind die Erwachsenen zu gestresst, weil sie immer pünktlich kommen müssen?"

"Verkehrte Welt" gehört zu den Auftakt-Veranstaltungen des Theaterfestivals Impulse, das bis zum 18. Juni in Köln, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr herausragende Produktionen der freien darstellenden Künste aus dem deutschsprachigen Raum zeigen. Was hier gastiert, wird wahrgenommen, gefördert, diskutiert. Turbo Pascal zählen zu jenen Gruppen, die regelmäßig eingeladen werden.

Impulse2023 Verkehrte Welt 2 RobinJunicke u"Verkehrte Welt" © Robin Junicke

Zu ihrer ersten "Verkehrte Welt"-Aufführung ist eine Schulklasse gekommen, etwa zehn Jahre sind die Kinder alt. Zwei der Performerinnen laufen über die Straße und machen mit Leuchtwesten den Feldversuch, bloß nicht nachmachen: Wie wenige Menschen sitzen pro Auto drin? Mehr als zwei sind es fast nie. Und wieviel Platz haben die Autos? Mehr als zwei Drittel. Und welches Auto an der Ampel fährt schneller an?

Zwar findet die letzte Frage die meiste Aufmerksamkeit, aber die Beweisführung ist dennoch eindeutig: Irgendetwas läuft schief in der Welt, ist ungerecht. Ob das die Zuschauerkinder ebenso sehen, ist allerdings eine andere Frage. In bewährter interaktiver Inquisitionsmanier, in lässig-souveränem Ansprachemodus, bewegen sich Bettina Grahs, Angela Löer, Eva Plischke und Margret Schütz nun durch die Kinderschar und zwingen sie spielerisch dazu, sich zu verhalten: Wer kann sich ein Leben ohne Führerschein vorstellen? Der soll in die eine Ecke laufen. Und wer will unbedingt ein Auto besitzen? Und was würden sie dann mit dem Auto machen?

Ändere die Welt?

Wer nun denkt, dass die neue Generation die Welt retten wird, muss leider enttäuscht werden. Gerade mal eine Handvoll Mädchen kann sich vorstellen, kein Auto zu haben, einen Führerschein brauchen natürlich alle, und die meisten Jungs träumen von Porsches, Bugattis oder Lamborghinis, um selbstverständlich ihre Kinder damit in die Schule zu fahren. Am nächsten Tag, bei der offiziellen Premiere, deutlich kleinere Kinder und eher linksliberale Eltern sind am Start, sieht die Sache wieder etwas anders aus: Nur ein einziger Junge auf weiter Flur bleibt in der Ecke mit den Autos stehen.

Spannend, wie Turbo Pascal die Kinder spielerisch zur Reflexion bewegen. Ehe sie sich‘s versehen, sitzen sie in kleinen Grüppchen zusammen und diskutieren Visionen für die Zukunft, diskret animiert von den Performerinnen, die die Ergebnisse anschließend verkünden. Für Peinlichkeiten und Schüchternheit ist keine Zeit, jedes Kind ist hier automatisch beteiligt. Was als Verkehrsvision herausspringt? Unbedingte Utopien. Warum sich nicht lieber in Flugzeugen bewegen und auf Dächern landen und starten? Extra Fahrstreifen für Kinder, wo sie bereits jetzt – Führerschein natürlich bereits ab sechs Jahren möglich – in Ruhe fahren können, gerne bunt bemalt und mit Blumen bepflanzt? Am Ende rasen, springen, tanzen die Kinder zu der coolen, aufpeitschenden Musik über die Autoscooter-Fläche, auf imaginierten Trampolin-Kinderspuren, fahren Flugautos oder echte, haben sichtlich Spaß gehabt.

Auch wenn nicht klar ist, wie viel sie vom menschenfeindlichen Verkehrskollaps der Welt verstanden haben, auf den die Performerinnen zwar diskret manipulativ hinwirken, aber auch immer weder andere Perspektiven einfließen lassen: "Ein gutes Straßennetz ist gut für die Wirtschaft. Die Menschen müssen Autofahren! Obwohl sie es gar nicht wollen! Immer nur Verbote und Einschränkungen!" Kein Abend für FDP-Wähler. Spannend und wegweisend ist auf jeden Fall, wie sich das Projekt in den zwei Impulse-Wochen weiter mit Initiativen der Stadt Köln verbindet: Am letzten Festival-Sonntag ist es Ziel der riesigen Fahrraddemo "Kidical Mass".

Und dann auch noch Fördergelder einstreichen!

Und dann geht’s – natürlich mit dem Zug – direkt nach Düsseldorf, zum bahnhofsnahen FFT, wo die Eröffnung des "Showcase"-Teils des Festivals stattfindet. Inspiriert wurde "JUSTITIA! Identity Cases" passenderweise vom Bestseller "Identitti" der Düsseldorfer Autorin und Kulturwissenschaftler Mithu Sanyal, ist aber auch ein vierjähriges Rechercheprojekt am Brut Wien, flankiert mit vielen Workshops. Was hier reales Festival-Panel ist und was Theater, wird bewusst performativ verwischt. In politisch korrekter Moderatoren-Gründlichkeit stellt Performer Gin Müller die Teilnehmer*innen vor, in dem es um "Theater, Gericht und Identitäten" geht.

Gerade hebt die mexikanische Performerin Edwarda Gurrola als indigene Aktivistin "Icnoyotl Gonzalez" mit fast schon karikaturalem Outfit, Rock und Blume im Haar an, weiße Ausschlussmechanismen in weißen Gerichten zu analysieren, da wird sie auch schon von der Roma-Queer-Aktivistin Jelena Serifović neben ihr (Sandra Selimović) des Identitätsdiebstahls bezichtigt: Gonzales ist in Wirklichkeit ein Kind weißer privilegierter Eltern, hat sich angeblich nur aus Empathie als Indigene verkleidet. Darf sie das – und damit auch noch Fördergelder einstreichen?

Impulse 2023 BRUT Justitia 3 ChristineMiess u"Justitia! Identity Cases" © Christine Miess

Die Szene verwandelt sich in einen Gerichtssaal, eingeblendet auf Video, die Moderatorin (Mariama Nzinga Diallo) wird zur Richterin. Souverän und eloquent argumentieren sie nun die Verwerfungen und Spaltungen heutiger Tage, diskutieren Rassismus, Klassismus, Kolonialismus, kulturelle Aneignung. Wenn Menschen Geschlecht ändern können, warum nicht auch race? Und ist die angeblich so real diskriminierte Romni Serifovic in perfektem Wienerisch nicht in Wirklichkeit viel privilegierter aufgewachsen, lässig perfekt in Selbstdarstellung und Wortergreifung? Ab wann ist vor sich her getragene Minderheitszugehörigkeit Schutzschild, Fake, Behauptung – und verwandelt sich in Vorteile?

Heiter, komplex, cool

Twitter-Tiraden und Shitstorms rattern über die Bildschirme, Fake-Radioreportagen werden eingeblendet, zwischendurch tanzen die vier, führen ein Mini-Musical auf, Selmović (die als Rapperin auch Teil von Mindj Panther ist) rappt seltsam Frauenfeindliches (Nur an deinen fetten Titten will ich ersticken – du sagst du liebst mich immer noch für mich bist du ein schwarzes Loch) – und Gin Möller wirft Fragen zu Transidentitäten und -Transitionen ein.

Charmant ist, dass hier zwischen Darstellern und Rollen nur marginale Identitätsunterschiede gibt, alle Performerinnen sind auch im wirklichen Leben zugleich Aktivistinnen ihrer Bühnensache sind. Zum Schluss, alle Argumente und Theorien sind auf hohem Komplexitätsgrad ausgetauscht, ist das Publikum zur Abstimmung aufgefordert per QR-Code – und entscheidet sich, der Fake-Indigenen die Schuld zuzuweisen: Empathie und Immersion mit Indigenen – vielleicht, aber in ihrem Namen Fördergelder abgreifen – geht gar nicht. Ein heiterer, komplexer, cooler Abend, der die Absurdität der Identitätsdebatten vor Augen führt, aber zugleich ihre Dringlichkeit vertritt. Gerne hätte man ihn mit ein paar CDU-Funktionären gemeinsam gesehen. Aber so wird nun im kleineren Künstler:innenkreis fröhlich aufs Festival angestoßen.

 

Verkehrte Welt
Konzept: Turbo Pascal, Idee: Haiko Pfost, Wilma Renfordt, Von und mit: Bettina Grahs, Angela Löer, Eva Plischke, Margret Schütz, Ausstattung: Janina Janke, Musik: Friedrich Greiling.
Eine Koproduktion mit Turbo Pascal und COMEDIA Theater Köln in Zusammenarbeit mit der studiobühneköln. Mit wissenschaftlicher Begleitung durch das Department Kunst und Musik der Universität zu Köln.

JUSTITIA! Identity Cases
Konzept, Performance: Gin Müller, Performance: Edwarda Gurrola, Mariama Nzinga Diallo, Sandra Selimović. Dramaturgie, Regie: Gin Müller, Natalie Ananda Assmann, Selina Shirin Stritzel, Andreas Fleck.
Eine Koproduktion von Verein zur Förderung der Bewegungsfreiheit und brut Wien.

www.impulsefestival.de

 

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