Das Lied vom Unsichtbarwerden

15. Oktober 2023. Wie Frauenleben in einer patriarchalen Gesellschaft aufs Minimalmaß zurechtgestutzt werden, erzählt die südkoreanische Autorin Cho Nam-Joo in ihrem millionenfach verkauften Roman. Mit feiner Ironie und einer chorischen Gruppe solidarischer Frauen inszeniert Marie Schleef seine Uraufführung.

Von Cornelia Fiedler

"Kim Jiyoung, geboren 1982" von Marie Schleef am  Schauspiel Köln © Tommy Hetzel

15. Oktober 2023. Kein Ton dringt aus der Geige, nur kratzige, harte Streichgeräusche. Violinistin Jae A Shin, deren Musik Marie Schleefs Uraufführung von "Kim Jiyoung, geboren 1982" wesentlich mittragen wird, eröffnet den Abend tonlos. Mit etwas, das klingt wie die Möglichkeit eines Liedes, das aber nicht realisiert werden kann. Damit ist alles gesagt, noch bevor ein einziges Wort fällt: Wir werden sehen, wie ein Frauenleben Stück für Stück seiner Spielräume beraubt und auf ein schmerzhaft normales Maß zurechtgestutzt wird.

Trotz dieser düsteren Setzung ist Marie Schleefs Adaption des Romans von Cho Nam-Joo nicht deprimierend. Es wird sogar ziemlich viel gelacht im Depot zwei des Schauspiels Köln. Dort hat Bühnenbildnerin Seongji Jang große Knautschelemente in allen Farben verteilt, die an zerlaufende Fruchtgummis erinnern. Insgesamt elf Frauen* und Mädchen treten in grauen Oversize-Sakkos an, um herauszufinden, warum die junge Mutter Jiyoung eines schönen Erntedank-Tages komplett aus der Rolle gefallen ist. Sie hat plötzlich angefangen, mit der Stimme ihrer eigenen Mutter zu sprechen und so ihren herrischen Schwiegereltern die Meinung gegeigt.

Leises Gegengewicht zur patriarchalen Gesellschaft

Der koreanisch-deutsche Cast, Nicola Gründel, Kristin Steffen und Kotti Yun, beginnt mit der Spurensuche schon vor der Geburt der Protagonistin – beim Schicksal ihrer Mutter Misuk. Diese musste im Alter von 14 Jahren die Schule abbrechen und in einer Fabrik arbeiten, um das Studium ihrer Brüder mitzufinanzieren. Und das, obwohl sie in der Schule viel besser war als die Jungs.

Tragen schwer an ihrem Los als Frauen: Kristin Steffen, Kotti Yun, Nicola Gründel (v.l.) © Tommy Hetzel

Die drei Spielerinnen berichten im Wechsel und deuten hier und da kurz eine Emotion, Haltung oder Szene an – all das unaufgeregt und mit schöner Ironie. Ihnen stellt Schleef eine diverse Gruppe von Frauen und Mädchen zur Seite, die weitere Rollen übernimmt. Zum Beispiel die der alten Frau, die Jiyoung beisteht, als sie an der Bushaltestelle von einem Mitschüler bedrängt wird. Manchmal aber sind die Statistinnen auch einfach nur da. Als ein leises, freundliches Gegengewicht zur notwendigen Darstellung einer patriarchalen Gesellschaft.

Eine Welt jenseits von Seoul

Jiyoungs Leben wird hier, wie im Roman, betont sachlich erzählt, als eine schlaglichtartige Reihung von leider allzu vertrauten Begebenheiten: Wie ihre Mutter ihr einmal erzählt, sie habe Lehrerin werden wollen, und die Tochter furchtbar lachen muss, weil das für sie unvorstellbar ist. Wie ihr jüngerer Bruder sein Essen immer als Erster bekommt, und damit auch die größten Fleischstücke. Wie in ihrem ersten Job die Männer trotz schlechterer Leistung an ihr vorbei befördert werden.

Marie Schleef, die mit der Long Durational Performance "NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+" 2021 zum Theatertreffen eingeladen war, findet klare, berührende, aber nie kitschige Bilder. Einmal schenkt Jiyoungs Mutter ihr und ihrer Schwester eine Weltkarte. Die drei sitzen eine Zeitlang ganz eng aneinander geschmiegt da, blicken versonnen auf die imaginäre Karte. Die Töchter sollen wissen, wie viel mehr Städte und Länder es gibt, jenseits der Enge Seouls.

Flucht in andere Personen

Kim ist der häufigste Nachname in Südkorea, Jiyoung war der beliebteste Vorname des Jahres 1982. Was die Autorin Cho Nam-Joo in ihrem Roman schildert, ist, genau wie der Name ihrer Protagonistin, absoluter Standard. Das Buch löste in Südkorea eine scharfe Kontroverse aus, weil es gesellschaftliche Abgründe schildert, die alle kennen, aber niemand benennt: dass sexualisierte Gewalt Teil des Alltags ist, dass die Schuld an Übergriffen den Frauen zugeschoben wird, dass Care-Arbeit selbst in fortschrittlichen Familien bei den Müttern und Töchtern liegt, dass Korea den größten Gender-Pay-Gap unter den OECD-Mitgliedstaaten aufweist.

Kim Jiyoung 2 TommyHetzel ujpgEine, die viele Frauen* ist. Kristin Steffen und Statisterie © Tommy Hetzel

Wie der Roman ordnet auch die Inszenierung wissenschaftlich ein, was Jiyoung passiert. Auf einer grauen Wolke, die symbolschwer über der Bühne hängt, werden Quellenangaben eingeblendet. Einerseits wird klar, dass Korea in einigen Punkten deutlich konservativer ist als die deutsche Gesellschaft. Andererseits sind die Muster in beiden Ländern erschreckend ähnlich. Als Jiyoung schwanger wird und entgegen ihrer Überzeugung kündigt, wird ihr die kognitive Dissonanz zwischen Wissen und Handeln unerträglich. Sie verkörpert, ohne dass es ihr selbst bewusst ist, andere Frauen. Ihr Mann sucht ihr psychiatrische Hilfe, obwohl natürlich nicht sie kaputt ist, sondern die Gesellschaft. In der Inszenierung übernimmt hier plötzlich eine Männerstimme aus dem Off die Erzählung und die Definition – der bitterste Moment des Abends. Es ist Jiyoungs Psychiater, ein freundlich reflektierter Typ, der ungebrochen weiter Karriere macht, während seine Frau, selbst Professorin, mit den Kinder zu Hause bleibt. Noch eine Stimme, die verstummt.

 

Kim Jiyoung, geboren 1982
Nach dem Roman von Cho Nam-Joo
In der Übersetzung von Ki-Hyang Lee und einer Fassung von Marie Schleef
Regie: Marie Schleef, Dramaturgie: Sibylle Dudek, Bühnenbild und Übertitel: Seongji Jang, Kostüme: Ji Hyung Nam, Live-Musik: Jae A Shin, Licht: Jürgen Kapitein, Körpertraining: Arzu Erdem-Gallinger.
Mit: Nicola Gründel, Kristin Steffen, Kotti Yun, Jae A Shin (Live-Musik), Andrea Voß (Soufflage); Statisterie in wechselnder Besetzung: Nina Jaunich, Swaantje Reichstein, Jane Dunker, Gisela Pflughaupt, Elsalam Yohanes, Ada Eze, Zoe Camara, Nadine Kubitza, Marilene Mostert, Leila Schwarz, Tarik Teklu, Tamara Ebner.
Premiere am 14. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspiel.koeln

Kriitikenrundschau

"Zwar spielt das Stück in Korea, doch in Jiyoungs Erfahrungen dürften sich Frauen auf der ganzen Welt wiederfinden", meint Carolin Raab in der Kölnischen Rundschau (16.10.2023). In der "packenden Darstellung" stecke sehr viel Gefühl. Die rein weibliche Besetzung könne als "subversives Element" in der Inszenierung gelesen werden: "Die Männer in Jiyoungs Welt werden ohnehin schon überall bevorzugt und nehmen, sowohl in der Familie als auch in der Arbeitswelt, die dominanten Rollen ein. Doch die Bühne ist ganz klar in der Hand der Frauen. Die einzige männliche Stimme gehört Jiyoungs Psychiater, der jedoch nie zu sehen ist, sondern ins Off verbannt wird", schreibt die zufriedene Kritikerin.

"(...) die Leichtigkeit, mit der Yun, Gründel und Steffen sich die Identitäten zuwerfen, der parodistische Spaß, mit dem sie manspreadende und mansplainende Abteilungsleiter, beleidigte Ehemänner oder um die ausbleibende Nachkommenschaft besorgte Schwiegermütter spielen, konterkariert sehr schön mit der realen Wut, die sie an den überdimensionierten Fruchtgummi-Teilen auslassen. Auch wenn es sie selbstredend nicht aufhebt", findet Kritiker Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (16.10.2023). Der Abend zeige: "Das Leben von Kim Jiyoung, geboren 1982, das ganz normale Frauenleben, in Südkorea oder anderswo, es ist kaum auszuhalten."

 

 

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