Diese Aufklärung hat noch Kraft

2. März 2024. Das 1721 uraufgeführt Stück und seinen Autor kennt heute kein Mensch mehr. Zu Unrecht, wie diese Wiederentdeckung von Roberto Ciulli beweist, der fast neunzigjährigen Theaterlegende. Denn zu sehen gibts einen grandiosen, intellektuell zündenden Abend.

Von Martin Krumbholz

"Ich, Antonin Artaud - Der wilde Harlekin" am Theater an der Ruhr in Mülheim © Franziska Götzen

"Ich, Antonin Artaud - Der wilde Harlekin" am Theater an der Ruhr in Mülheim © Franziska Götzen

2. März 2024. Ach ja, die Sänfte! Sie ist das zugegebenermaßen hübsch anzuschauende Symbol der Klassifizierung der Menschen in Träger und Getragene, in Herren und Knechte, in Indigene und Weiße. Kaiser, Paschas, Päpste, Potentaten aller Couleur haben sich gern in ihr durch die Welt bewegen lassen.

Commedia dell’arte und Zivilisationskritik

Erst in jüngster Zeit ist sie ein wenig aus der Mode gekommen, selbst der heilige Vater benutzt jetzt das Papamobil. Wenn der wilde Harlekin am Schluss dieses Theaterabends, dessen Held er ist, die Sänfte wie mit einem Zaubertrick einfach wegpustet, puff, obwohl sie eben noch ganz konkret dastand, ist das eine schön beiläufige Geste der Aufklärung, in deren Dienst der ganze Abend stand und das ganze Werk des bald 90-jährigen Roberto Ciulli steht.

In der Sänfte sitzt der feiste Pantalone, eine der Figuren der 1721 uraufgeführten Komödie "Der wilde Harlekin". Den Autor Louis-Francois Delisle de la Drevetière kennt man heute nicht mehr, sein Stück ist ein aus der Commedia dell’arte hervorgegangenes Ding, das eine indigene Person, aus Kanada in das frühaufklärerische Frankreich verschlagen, mit einem Typus eben der Commedia vermischt und auf diese Weise eine Form der Zivilisationskritik bewirkt, wie sie seinerzeit wiederum durch das vielgelesene Buch "Dialoge des Baron de Lahontan mit einem Wilden in Amerika" in Mode gekommen war.

Erweiterung und Perfektion

Und Ciulli für seinen Teil rahmt das Ganze (oder das Kurze, das es recht betrachtet ist) mit seiner Hommage an den Poeten, Theatermagier, Drogenexperten, Mexikoreisenden und Psychiatrierebellen Antonin Artaud, die mit dem Vorgängerprojekt "Le Momo" begonnen hat, bei dem ebenfalls schon Bernhard Glose diese zugleich glamouröse und gequälte Figur einzigartig verkörpert hat: Der Harlekin, der natürlich mit Artaud verschmilzt, ist eine Erweiterung und Perfektion, auch eine Spiegelung jener ersten Figur.

Soviel Dramaturgie muss sein, um einen grandiosen Abend zu würdigen, der dem Theaterfreund das Herz im Leibe lachen lässt, weil er nicht nur intellektuell zündet (wie schon der erste Abend), sondern zugleich urwüchsige Theatermittel zitiert und bemüht, wie sie eben die Commedia mit ihrer profunden Pointengewitztheit so großzügig bereitstellt.

Narren oder Verbrecher

In der Sänfte sitzt also der feiste Pantalone (Albert Bork), er möchte seine schöne Tochter Flaminia (Dagmar Geppert) mit einem betuchten Doofmann (Joshua Zilinske) verheiraten, weil deren Verlobter (Fabio Menéndez) inzwischen bankrottgegangen ist. Das alles ist aber völlig unwichtig und wird auch gar nicht zu Ende erzählt, denn an dieser Stelle kommt ja der wilde Harlekin ins Spiel, dessen herrliches pseudo-indigenes Umhängetäschchen allein schon eine Wucht ist. (Die stilechten Kostüme und die ganze Ausstattung stammen von Elisabeth Strauß.) Im Dialog mit seinem Freund, eben jenem abservierten Liebhaber, macht Harlekin klar, was er von dieser scheinbar so wunderbaren Zivilisation hält. Zum Beispiel stellt er fest, dass die Menschen hier offensichtlich als Verbrecher und Narren auf die Welt kommen, da sie ja Gesetze benötigen, um gute Menschen zu werden.

So schnell geht das mit der Liebe: Dagmar Geppert, Fabio Menéndez, Marie Schulte-Werning, Klaus Herzog, Steffen Reuber  © Franziska Götzen

Dann verliebt Harlekin sich, naturgemäß "auf den ersten Blick", in die Kammerzofe Violetta (Marie Schulte-Werning), die, den Konventionen trotzend, nicht abgeneigt ist, in einem Zelt im Bühnenhintergrund immer wieder "Je t’aime, tout est beau" zu wispern, ich liebe dich, alles ist schön, während im Vordergrund ihre Herrin indigniert (und offensichtlich eifersüchtig) anmerkt, "so schnell" gehe das mit der Liebe in diesem Lande doch nicht! So bündig also die Kritik der offiziellen Sexualmoral abgehandelt wird, so kurz geht es auch der Theologie an den Kragen. Im Dialog Harlekins mit einem blasierten Jesuitenpater (Steffen Reuber) entpuppt sich folgende schlichte Tatsache: Die Gläubigen glauben, dass nur die Gläubigen erlöst werden.

Bestechend aufspielendes Ensemble

Steckt darin nicht schon die ganze Crux sämtlicher Inquisitionen, Religionskriege und Selbstmordattentate bis auf den heutigen Tag? Antonin Artaud bemerkt in einem seiner Kommentare, die das Stück im Stück rahmen, das Theater habe etwas Sakrales. Das ist aber offensichtlich etwas fundamental anderes als der menschenverachtende Zinnober, den die in Sänften Getragenen auf der ganzen Welt unter Frömmigkeit und Gottesfurcht verstehen. Die Aufklärung, wenn sie so gewitzt und kurzweilig daherkommt wie hier im Theater an der Ruhr, hat noch Kraft. Das will Roberto Ciulli zeigen, und er zeigt es mit einem bestechend aufspielenden neunköpfigen Ensemble, einen Monat vor seinem runden Geburtstag. 

 

Ich, Antonin Artaud – Der wilde Harlekin
nach Louis-Francois Delisle de la Drevetière 
Übersetzung Leopold von Verschuer
Deutsche Erstaufführung
Mit Texten von Antonin Artaud, Baron de Lahontan und Leopold von Verschuer
Regie: Roberto Ciulli, Bühne/Kostüm: Elisabeth Strauß, Dramaturgie: Helmut Schäfer, Lichtdesign: Jochen Jahncke, Sounddesign: Adriana Kocijan.
Mit: Bernhard Glose, Maria Neumann, Fabio Menéndez, Joshua Zilinske, Albert Bork, Dagmar Geppert, Marie Schulte-Werning, Steffen Reuber, Klaus Herzog.
Premiere am 1. März 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

Kritikenrundschau

"Das alles, dieser barocke Firlefanz ist auf der Bühne so wahnsinnig und wirksam umständlich dargestellt", schreibt Martina Jacobi für die Deutsche Bühne online (2.3.2024) überaus angetan. "Was Roberto Ciulli und das Ensemble so stark auf die Bühne bringen, funktioniert allein durch die Bildsprache. Der Harlekin spiegelt den durch Gesetzte und Normen steifen Figuren die Seele: Herz und Verstand müssen nicht gegensätzlich, können sich einig sein. Dass am Ende einiges schon szenisch dargestelltes noch einmal verbal wiederholt wird, wirkt dann fast schon belehrend."

"Der wilde Harlekin" sei "nicht so vielschichtig und anspielungsreich gebaut wie Ciullis erste Artaud-Arbeit 'Ich, Artaud - Le Mômo', schreibt Jens Dirksen in der WAZ (4.3.24, €). Beim jetzigen Stück handele es sich um die "bildstarke Farce zur Tragödie, aber mit derselben, fundamentalen Zivilisationskritik“, so der Kritiker. "In Ciullis Variation wird Artaud als 'Wilder' nicht nur den zivilisations-versteiften Europäern den Spiegel vorhalten, sondern auch das Gegenbild des 'guten Wilden', des freien, unverbildeten Menschen abgeben.“ Bernhard Glose falle in der Titelrolle durch sein "hochbewegliches, elegantes, vom Utopischen durchdrungenes Spiel“ auf und finde "ein Pendant in Ciullis einfallsprallen Bildern“.

"Insgesamt zeigt Roberto Ciulli einmal mehr, wie wirkungsvoll er mit sparsamen theatralischen Mitteln und einem großartigen Ensemble einen inspirierenden und zugleich unterhaltsamen Theaterabend zu gestalten vermag. Einfach hinreißend", jubelt Klaus Stübler in den Ruhrnachrichten (4.3.2024).

 

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