Mit Zauberwürfel in der Zeche

21. September 2023. Für ihre Abschiedspremiere hat sich die scheidende Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey ein besonders Schmankerl in die Fabrikhalle inszeniert: Ausnahmeschauspielerin Nina Hoss gibt Dostojewski. Im Alleingang. Philosophisch. Eine Rede vom Sinn und Unsinn des Menschen.

Von Martin Krumbholz

Nina Hoss in "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" in der Regie von Barbara Frey © Matthias Horn / Ruhrtriennale 2023

21. September 2023. Dieser Mensch lebt vermutlich in einem Souterrain am Rand von Petersburg, vielleicht sogar in einem recht bequemen Souterrain, aber er nennt es "Kellerloch", weil das interessanter klingt. In Essen bei der Ruhrtriennale und ihrer letzten Premiere allerdings ist das ganz anders. Wir befinden uns auf der obersten Etage der Mischanlage in der Zeche Zollverein, wobei "befinden" zu viel gesagt ist: Denn da müssen wir erst einmal hin.
Feierlich ist tatsächlich gar kein Ausdruck für das, was da als Einlass zelebriert wird.

130 Personen versammeln sich bei dröhnend lockender Maschinenhausmusik (Alex Silva) im Erdgeschoss-Foyer; kurz nach acht ertönt erstmals die Stimme von Nina Hoss, eine Eisentür öffnet sich, und jetzt müssen alle 130, einer nach dem anderen, immer schön einzeln, durch diese Tür prozessieren, Treppen rauf, an schwindelerregenden Schächten vorbei, die teilweise durch funkelnde Lichtsäulen illuminiert sind, hier und da brennt eine Räucherkerze, Kunstnebel wabert, noch eine steile Wendeltreppe rauf, und endlich ist man in dem langgestreckten obersten Saal angelangt, ganz und gar keinem Kellerloch, einem Matratzenlager, an dessen Stirnseite ein Thron steht, davor ein langer Steg, und man darf sich "echten Tee" nehmen, oder sogar echten Wodka, wir sind ja in Russland.

Traktat vom widersprüchlichen Leben

Eine geschlagene halbe Stunde dauert dieses Intro, bis alle auf ihrer Matratze sitzen und Nina Hoss erscheint, in einem Schlafrock, darunter irgendwas mit einer weißen Schleife, auf dem Thron Platz nimmt und von ihrer Bosheit zu erzählen beginnt und dass es ihr nicht mal gelingt, sich in ein Insekt zu verwandeln. (Natürlich hat Kafka Dostojewski gelesen.) Souterrain oder Kellerloch: Der vierzigjährige Protagonist und Ich-Erzähler bei Dostojewski besteht aus lauter Widersprüchen; ist scharfsinnig und träge, größenwahnsinnig und kleinmütig, herrisch und knechtisch, hochfahrend und komplexbeladen, schön und hässlich, sogar alt und jung. Seine Suada erhebt sich über alles und jeden, vor allem über sich selbst, wenn es je in der klassischen Literatur ein "Empowerment" gab, dann hier. Dieser Mensch möchte natürlich beweisen, dass das Leben sinnlos ist (auch Beckett hat Dostojewski gelesen), und das auf höchstem intellektuellen Niveau. Man verrät nicht zu viel, wenn man sagt, dass es ihm gelingt.

Die hohe Schule der Beweisführung: Nina Hoss in der Zeche Zollverein © Matthias Horn / Ruhrtriennale 2023

Er oder sie: Das ist wirklich egal. Dass es sich um einen Mann handelt, spielt bei Dostojewski erst im zweiten Teil der Erzählung eine Rolle, wenn der Held eine Prostituierte aus ihrer Schmach befreien will (auch der Drehbuchautor von "Taxi Driver" hat Dostojewski gelesen), aber dieser zweite Teil kommt hier gar nicht vor. Es geht der Regisseurin Barbara Frey (der Ruhrtriennale-Intendantin bei ihrem letzten Auftritt) um den theoretischen Komplex, um die "Beweisführung", und Achtung, hier muss man schon ziemlich aufpassen, um keine der zahllosen Volten zu verpassen, oder ist das doch nicht so wichtig?

Nina Hoss jedenfalls hat nichts Blasiertes oder Snobistisches in dieser Rolle an sich, vielmehr demonstriert sie die helle Freude an der Rhetorik, an der "Beweisführung", wie ein gescheites Kind, das den Zauberwürfel geknackt hat. Man mag dieses Kind mehr als den Typen während der Lektüre, aber das ist kein Einwand, es ist das gute Recht der Lesart, der Aneignung, dem Typen ein Profil, ein Gesicht zu geben, und hier ist es das (sympathische) Gesicht von Nina Hoss.

Der selbstzerstörerrische freie Wille

Aber worum geht es? Der zentrale Punkt oder einer der zentralen Punkte des Monologs ist wohl der: Was den Menschen, meint der Mensch, am tiefsten kränkt und erbittert, ist der Umstand oder der Verdacht, keinen freien Willen zu haben. Also am Ende nur eine "Klaviertaste", ein "Drehorgelstift" zu sein, auf dem "die Natur" herumspielt, wie es ihr gefällt.

Und dieser entsetzliche Verdacht bringt den Menschen dazu, Entscheidungen zu treffen, paradoxerweise (es geht immer um Paradoxien), die gegen sein ureigenstes Interesse sind. Nur um sich zu beweisen, dass er durchaus einen freien Willen hat. Darin, so der Mensch, liegt sein höchster Genuss, sein "vorteilhaftester Vorteil", dass er der Natur oder dem Göttlichen oder wem auch immer ein Schnippchen schlagen und beweisen kann, dass er imstande ist, Entscheidungen zu treffen, die gegen seinen eigenen Vorteil sind. Ein Triumph! Er ist kein Drehorgelstift, wer hätte das gedacht!

Dumme, brillante Witze

Natürlich, wenn man so will, sind das alles nur sophistische, brillante Scherze. Das sagt er auch selbst, ich mache nur Witze. Dumme Witze, sagt er. Dabei weiß er natürlich genau, dass diese Witze so dumm nicht sind. Rhetorisch beschlagen nimmt er unsere Einwände vorweg, obwohl er gleichzeitig behauptet, gar keine Leser, keine Zuhörer zu haben, nur aus purer Langeweile vor sich hin zu schwatzen. Einmal breitet Nina Hoss wie ein Engel die Arme aus und kriegt sich vor Lachen, vor Freude über ihren unglaublichen Schlafrock-Scharfsinn nicht mehr ein. Man hätte sich doch einen Wodka gönnen sollen.

 

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
von Fjodor Dostojewski
Übersetzt von Svetlana Geier
Regie: Barbara Frey, Bühnenbild und Kostüm: Bettina Meyer, Komposition: Alex Silva, Licht Design: Ulrich Schneider, Dramaturgie: Judith Gerstenberg.
Mit: Nina Hoss.
Premiere am 20. September 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

"Eine sehr gelungene" Abschiedsfeier von Barbara Frey hat Alexander Menden für die Süddeutsche Zeitung (online 22.9.2023) in Essen erlebt. Frey vertraue auf Nina Hoss, "der die Sprachdisziplin und das nötige Charisma zu Gebote stehen, um bei dieser Wortkaskade die Zuhörer nicht abdriften zu lassen". Hoss "agiert minimalistisch, spielt vor allem mit Mimik und Händen, geht auf dem längs den Raum teilenden Laufsteg auf und ab, nimmt bisweilen auf einem leicht erhöht stehenden Sessel Platz. Wie so oft bei Frey ist das Ganze von einer kalkuliert dosierten, eher matten Energie durchdrungen, die aber zum brillanten Defätismus der Vorlage passt."

Als "kleine Sensation" feiert Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.9.2023) Nina Hoss' Monolog. "Regisseurin Barbara Frey, die mit diesem Abend ihre erfolgreiche Intendanz bei der Ruhrtriennale beendet, gibt ihrer berühmten Hauptdarstellerin klugerweise den ganzen Raum. Ohne Eingriffe oder Einfälle schafft sie durch die besessene Konzentration auf den kasuistischen Text eine flirrende Atmosphäre wie vor Gericht." Hoss’ Vortrag wirke mitunter wie das aussichtslose Plädoyer einer längst schon zum Tode Verurteilten, die in den letzten Stunden ihres Lebens noch einmal all ihre Überzeugungen darlegen wolle.

Der Text sei ein "Manifest freien Denkens", so Kai-Uwe Brinkmann in den Ruhr-Nachrichten (22.9.2023). Ein Mann in Isolation analysiere sich bis zur Selbstzerfleischung. "Gesprochen von einer Frau tun sich nicht gerade neue Dimensionen auf. Aber Schwärze und kompromisslose Schärfe steht auch Frauen gut, wie Nina Hoss demonstriert." Sie eigne sich diesen Seelentext samt Widersprüchen und Ellipsen wunderbar an, fülle die Galligkeit "mit Leben, Sinn und Komik".

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