Schafinsel - Philipp Preuss inszeniert Nina Büttners mit dem Else-Lasker-Schüler-Preis prämiertes Stück in Kaiserslautern
Prolos gucken
von Harald Raab
Kaiserslautern, 22. März 2013. Nori ist Stricherin. Ihr Produktionskapital, das macht sie drastisch klar, ist zwischen ihren Beinen angelegt. Dope hält sie einsatzfähig. Ihr testosterongesteuerter Lover Toni verprügelt seine "Nutte" nach Lust und Laune, weil die es nach seinem Macho-Verständnis halt so braucht. Außer starken Sprüchen und Hieben bringt er wenig auf die Reihe. Noris Mama Lisa ist gleichfalls polymorph süchtig, von Whisky bis Morphium und im übrigen hat sie 'nen Krebs am Arsch. Das ist samt dem Stotterer Henning und seiner Mami Lore das Mietkasernen-Personal in Nina Büttners neuem Stück "Schafinsel". Uraufführung im Pfalztheater Kaiserslautern.
Große Anklage passé
Prolos – oder wie man heute so verschwiemelt sagt, das Prekariat - auf der Bühne des Bürgertheaters: das ist immer ein bisschen wie Affen gucken im Zoo. Eine Prise Lust, ein Schuss Angst: Das sind ja doch unsere Brüder und Schwestern, irgendwie. Gott sei Dank – nee, so sind wir aber nicht. Wir sind zivilisiert, kultiviert sogar. Als Gratwanderung zwischen Peepshow und Mitleidstour mit schlechtem sozialen Gewissen sind solche Stoffe üblicherweise im Theater gestrickt. Die Zeiten für die große Anklage à la Maxim Gorkis "Nachtasyl" sind passé. Kaltschnäuzige Bloßstellung im Comedy-Format ist in. So billig und einfallslos geht man in Kaiserslautern die Realisierung des Stücks der Else-Lasker-Schüler-Preisträgerin Büttner glücklicherweise nicht an.
Zur Schau gestellt wird auch Theater im Theater, der Mechanismus offen gezeigt, wie Imagination erzeugt wird. Den Aktionsraum begrenzt ein Geviert aus weißen Papierschnitzen. Die rieseln aus vier Netzen herab, die gleichmäßig bewegt werden. Nori (Annalena Lorette Müller) stöckelt in silbernen Stiefeln auf der Strichmarkierung auf und ab. Kurz der Rock, bauchnabelfreies knappes Top und Pelzjäckchen. Sie pfeift den hereinkommenden Männern im Zuschauerraum aufreizend nach. Wenn sie sich eine Zigarette anzündet, mimt sie das Ritual. Pantomime auch dann, wenn sie von ihrem Macker (Markus Penne) verbläut wird. Wenn Toni in Jogginghosen und Feinrippunterhemd die große Show abzieht, dann beherrscht und manipuliert der cholerisch gockelnde Prahlhans die Szene.
Nori steht sich auf der Straße die Beine in den Bauch und träumt von einem Haus mit viel Grün drum herum. Sie mag Asphalt nicht. Er ist der Boden ihrer grauen, kalten Realität. Toni plündert das Sparkonto, mit dem sie ihre Phantasien vom kleinen Paradies verwirklichen wollte. Sie muss weiter rackern. Mama Lisa (Irena Matthias) schlurft im Schlafrock als sarkastisch brabbelndes Wrack durch ihre von der Sucht beschränkte Welt. Ihr Gör ist ihr nur noch dazu gut, die nächste Buddel von der Tankstelle zu besorgen.
Witz wird zum Aberwitz
In dieser Endlosschleife aus Frusts und Erniedrigung begegnet Nori im Treppenhaus dem Stotterer Henning (Danile Mutlu). Der wegen seines Sprachfehlers von allen nicht für voll genommene Bengel geht noch zur Schule, macht Abitur. Seine Mutter, Frau Palm (Susanne Ruppik), projiziert auf den Jungen all ihre geplatzten Vorstellungen von einem gelingenden Leben. Er soll's mal besser haben, studieren und so. Weil Undank der Welt Lohn ist, wird sie zu böser Letzt von ihrem Sprössling gemeuchelt. Das aber auch nur in einem pantomimischen Furor mit einem Stuhl. Nori und Henning sind sich gegenseitig Zwischenstationen auf dem Weg zum heiß ersehnten Glück, das freilich niemals kommen wird. Henning möchte auch mal von einer Frau geküsst werden und Nori wünscht sich mit ihm ein romantisches Gegenprogramm zu ihrem Alten. Sie brauchen einander, lieben sich vielleicht, wollen aus ihrer beschissenen Welt fliehen.
Philipp Preuss hat als Regisseur und Ausstatter sensibel und ohne Angst vor dem Absturz ins Banale eine Geschichte menschlicher Tragikomik daraus gemacht. Ironisch abgefedert und doch mit poetischen, berührenden Momenten. Mit melodramatischen Klischees lässt er souverän spielen. Es darf gelacht werden. Preuss bebildert reale Unfreiheit mit Sehnsucht nach einem besseren Leben. Es beginnt – wer traut sich das heute noch? – mit naturalistischem Theater, verspielt sich mit zunehmendem Tempo immer mehr in Skurrilitäten. Der Witz wird zum Aberwitz, zum absurden Theater. Nina Büttner hätte für den Start ihres Stücks nichts Besseres finden können, als ihr vom Inszenierungs-Team auf der Werkstattbühne des Pfalztheaters geboten worden ist.
Sieht man davon ab, dass eine Unterschicht-Story auf die falsche, weil voyeuristische Spur locken kann, Nina Büttner hat dem Theater in Kaiserslautern ein Werk zur Umsetzung anvertraut, das dramatisch-handwerklich und sprachlich phantasievoll gebaut und gut spielbar ist.
Schafinsel (UA)
von Nina Büttner
Regie und Ausstattung: Philipp Preuss, Dramaturgie: Viktoria Klawitter.
Mit: Annalena Loretta Müller, Marina Matthias, Markus Penne, Susanne Ruppik, Daniel Mutlu.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.pfalztheater.de
In der Rheinpfalz (25.3.2013) schreibt Fabian R. Lovisa, dass die "schwierigen Themen vom sozialen Rand der Gesellschaft" durch Indirektheit, Wortwitz und Slapstick erträglich gemacht würden. "Doch an Tiefe oder Nachhaltigkeit gewinnt die Inszenierung so nicht." Es hinterbleibe der Eindruck einer RTL2-Reality-Freakshow, eines "irgendwie unentschlossenen Stückes zwischen Drama und Liebeskomödie".
"Man könnte mit Blick auf die Personage meinen, Werner Schwab habe ihr beim Schreiben über die Schulter geblickt", freut sich Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (26.3.2013) über die Theaterautorin Nina Büttner. Philipp Perus' Uraufführungsinszenierung sei "so wie der Text: direkt und unverblümt.""Ganz fein" zeichne sie die keimende Liebe der intelligenten Vorstadtschwalbe und des verklemmten Schülers nach – vernachlässige jedoch das zweite Kräftefeld. "Mama Lisa (Marina Matthias) ist lange Zeit kaum wahrnehmbar, dafür legt die Inszenierung großen Wert darauf, dass Hennings Stotterei den gestrengen Erziehungsmethoden seiner Mutter (Susanne Ruppik) geschuldet ist." Es spreche für das Stück, "dass es trotz dieser inszenatorischen Unwucht einen eigenen Charme entfaltet".
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