Menschenskinder!

8. Oktober 2023. Ums Familienleben geht es in der neuen Zusammenarbeit von Jan Neumann und Ensemble, angesiedelt in einer gut- und weißbürgerlichen Heterowelt, ausgestattet mit sehr viel Tüll und einer reichlichen Portion Neurosen. Premiere der Koproduktion war in Mainz.

Von Leopold Lippert

Rosa Falkenhagen, David T. Meyer, Andrea Quirbach © Andrea Etter

8. Oktober 2023. Es dauert keine zwanzig Sekunden, bis auf der Bühne das Wort "Mensch:innen" fällt, mit genüsslich lang gezogener Pause in der Wortmitte. Bei den Mainzer:innen im Staatstheater landet die erste Pointe sanft, die Stimmung ist fröhlich und es wird dankbar gekichert und gegluckst, was am komischen Potential des Gender-Gaps liegen mag oder auch daran, dass seit Saisonbeginn dank im Kartenpreis inbegriffener "Gastropauschale" die offene Weinbar schon vor Beginn der Vorstellung zum Verweilen einlädt.

Gut- und weißbürgerlicher Common Sense

Die Komödie heißt "kurz&nackig" und ist die Uraufführung einer gemeinsamen Stückentwicklung von Jan Neumann und einem Ensemble, das aus je drei Schauspieler:innen des Staatstheaters Mainz und des Deutschen Nationaltheaters Weimar besteht (die Koproduktion startet in Mainz und wechselt nächste Woche nach Weimar). Es geht, wie, äh, pathosschwanger verkündet wird, um "das Wunder der Geburt", also ums Kinderkriegen, Kinderhaben und auch ums Kinderverlieren. Und während rhetorisch durchaus die großen Menschheitsfragen und -hoffnungen aufgefahren werden, lässt das betuliche Witzchen über den Gender-Gap schon erkennen, dass das komische Universum von "kurz&nackig" ein viel kleineres ist, das nämlich eines gut- und weißbürgerlichen common sense, wo Kinder halt mal anstrengend sind und einen ein bisschen an der Selbstverwirklichung hindern, aber wo immer noch genug Geld für viel zu viele Weihnachtsgeschenke übrig ist.

KurzundNackig2 1200 Andreas Etter uRosa Falkenhagen, David T. Meyer © Andreas Etter

Und so nervt und lacht und streitet und versöhnt sich Familie Bergemann – Mutter und Vater, drei Töchter, eine lesbisch, zwei Schwiegersöhne, vier bis fünf Enkel:innen – eben durch den bürgerlichen Alltag, mit Kindergeburtstagsparty, Weihnachtsfest, Hasenbraten, Trampolin im Garten, kreativen Stressjobs und sicheren Stadtverwaltungsposten, Elternfrust und Rentenschock. Ein ganz kleines bisschen denken sie dabei sogar an Klassendifferenz und Alltagsrassismus.

Komische Typen oder komplexe Charaktere?

Die unhinterfragte bürgerliche Selbstbezüglichkeit schränkt den inhaltlichen Horizont der Komik natürlich ziemlich ein, und man mag das Witzeln über neurotische Heterosexualität lustig finden oder nicht; vor allem ist man aber verwundert über die Unschlüssigkeit, mit der Regisseur Neumann seinen Figuren begegnet. Denn Familie Bergemann kann sich nie so ganz entscheiden, ob sie bloß hyperventilierende komische (Stereo-)Typen sind, die immer viel zu schnell laut werden und dabei mit den Armen fuchteln, oder doch ernstzunehmende Charaktere sein wollen, mit reichlich Innenleben und nicht aufgearbeiteten Konflikten.

KurzundNackig3 1200 Andreas Etter uErschöpfte Eltern: Arne (Henner Momann) und Jule (Nadja Robiné) © Andreas Etter

In manchen Momenten ist das egal, dann funktioniert es einfach trotzdem, wie etwa in der narrativen Eröffnungssequenz, in der die Schauspieler:innen mit knallfarbigen hautengen Ganzkörperanzügen eine Sex-Pantomime aufführen ("das Wunder der Zeugung"): erst das mütterlich linke Bein ekstatisch zucken lassen, dann das väterlich rechte, und schließlich als knallfarbige hautenge Ganzkörperspermien eine Pouf-Eizelle zu knacken versuchen.

Oder in der Streitszene zwischen den vierfachen Eltern Jule (Nadja Robiné) und Arne (Henner Momann), die mit wunderbarem Timing zwischen glaubhafter Erschöpfung und dem Lauern auf die nächste Pointe changiert. Oder auch in dem selbstverliebten Quasi-Monolog, mit dem Arne dem werdenden Vater Tom (David T. Meyer) ach-so-nützliche Tipps gibt, während er in einem Gartenteich voller Kotze schwimmt. (Der Teich ist natürlich kein echter Teich, sondern wie fast alles in diesem flexiblen Bühnenbild von Matthias Werner aus multifunktionalem buntem Tüllstoff).

Für jeden Anlass ein buntes Kostüm

Zumeist hat diese Unschlüssigkeit aber eher irritierende Effekte: mal versucht die Inszenierung die Zuschauer:innen mit Rührseligkeit und tiefer Innenschau auf Knopfdruck zu überwältigen, samt plätschernder Klaviermusik im Hintergrund (oder auch: bedeutsamer Stille); mal drischt sie die Pointen in den Zuschauerraum, ohne Rücksicht auf Dialogtempo und Lachpausen, mit den immergleichen aufbrausenden Schrillstimmen, hektisch ausladenden Gesten, und stampfenden Auf- und Abtritten.

KurzundNackig4 1200 Andreas Etter uDas Wunder der Zeugung: Henner Momann, Sebastian Kowski, Rosa Falkenhagen, David T. Meyer, Andrea Quirbach, Nadja Robiné © Andreas Etter

Zum Glück ist Familie Bergemann der anlassbezogenen Verkleidung (Kostüme: Nini von Selzam) sehr zugeneigt, und das nicht nur am Kindergeburtstag. So kann man sich als Zuschauer:in einfach je nach Outfit eine andere Figur erschauen, mal possenhaft exaltiert, mal einfühlend sentimental. Ein großer komödiantischer Spannungsbogen lässt sich so aber eher nicht schlagen.

kurz&nackig
von Jan Neumann und Ensemble
Regie: Jan Neumann, Bühne: Matthias Werner, Kostüme: Nini von Selzam, Dramaturgie: Beate Seidel, Jörg Vorhaben, Musik: Johannes Winde, Video: who-be, Licht: Dominique Lorenz, Frederik Wollek.
Mit: Rosa Falkenhagen, Sebastian Kowski, David T. Meyer, Henner Momann, Andrea Quirbach, Nadja Robiné.
Premiere am 7. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-mainz.com


Kritikenrundschau

"In besseren Momenten erinnert 'kurz&nackig' an irgendetwas zwischen dem gehobenen Boulevard einer Yasmina Reza und Loriots liebevoll-ironischem Blick auf die deutsche Bürgerlichkeit", schreibt Johanna Dupré in der Allgemeinen Zeitung (online am 8.10.2023). "In schlechteren ist es arg klamaukig, und die Figuren geraten zur bloßen Karikatur – was besonders bei der Darstellung von Lias lesbischer, kinderloser Schwester Anne negativ auffällt, die gefährlich nahe am homophoben Klischee entlang segelt." Ernsthafte Moment würden nicht weiter verfolgt, so dass insgesamt der Eindruck zurückbleibe, "dass hier doch recht oberflächlich über ein Thema hinweg gebügelt wurde", so Dupré: "Allerdings: Von der Reaktion des Premierenpublikums zu urteilen trifft diese Komödie dennoch für viele einen Nerv – und könnte damit durchaus zu einem Publikumsliebling werden."

 

Kommentar schreiben