Familie Schroffenstein - Kleists Schauererstling im Soapformat
Verbotene Liebe
von Ute Grundmann
Dessau, 29. Januar 2010. Zwei Wohnzimmer, in denen der Fernseher läuft. Nach den Wortfetzen zu schließen, ist es eine Krimireihe ("Twin Peaks"), die in beiden Räumen geschaut wird. Doch im linken der parallel gebauten Zimmer steht ein Sarg, trauert eine Familie eher mäßig beim Konsum von Fernsehen und Torte.
So beginnt im Anhaltischen Theater Dessau Heinrich von Kleists frühes Drama "Die Familie Schroffenstein". Ein windungs- und verwirrungsreiches Stück um zwei Stränge einer Familie, die sich bekriegen, weil das sohn- und erbenlose Verlöschen der einen Sippe zum Vorteil der anderen wäre. Doch gibt es, à la Romeo und Julia, ein junges Paar, das sich der Dauerfehde der Älteren entgegenzustellen versucht.
Fehde im Plattenbau
Dieses frühe, selten gespielte Trauerspiel von 1803, Kleists Erstling, ist eigentlich im Mittelalter und unter deutschen Rittern angesiedelt. Doch das Regieteam um Christian Weise, der auch das Bühnenbild entwarf, hat dem Drama alles, was Burg, Fahnen, Schwerter, Rüstungen bedeuten könnte, radikal ausgetrieben. Nur zweimal dürfen die Männer den Kriegspfad auf hölzernen Steckenpferdchen entlangtraben, was – wie das Stück selbst in manchen Phasen – eine gewisse Komik hat. Im übrigen ist dem Trauerspiel – mit der ganzen Wucht der Kleistschen Sprache – wenig vom unverständlichen, aber unaufhaltsamen Weg ins Verderben beider Familien abhanden gekommen. Nur dass diese in der Kleinbürgerlichkeit angekommen sind.
Wie ein herausgeschnittener Riegel aus einem Plattenbau sind die beiden Wohnzimmer auf die Hinterbühne gebaut, die "Kriegsparteien" leben fast Wand an Wand, nur durch ein enges Treppenhaus getrennt. Links, bei denen aus dem Haus Rossnitz, wird der kleine Sohn betrauert, der angeblich von denen drüben, dem Haus Warwand, ermordet wurde. Zwischen TV-Gucken und Trauermusik sinnen die Herren der Familie auf Rache, doch zum Rauchen geht man auf den Balkon. Die Zivilisiertheit allerdings findet bald ihre Grenzen: Da wird der Bote der einen Familie auf dem Balkon der anderen blutspritzend erschlagen, was natürlich dem Denken der kleinbürgerlichen Ritter zufolge nicht ungesühnt bleiben darf. Und so klatscht bald weiteres Blut, diesmal an die Flurtür.
Ein Fernseher im Kornfeld
Christian Weise setzt solche Drastik nur sehr knapp, sehr gezielt ein. Genauso wie er Anklänge und Ähnlichkeiten des Kleist-Dramas mit einer heutigen Fernseh-Soap immer wieder nur anspielt, sie aber nie dominieren oder gar das Stück karikieren lässt. Auch haben die Fernseher in den beiden feindlichen Wohnzimmern noch einen anderen Zweck: Per Fernbedienung kann man für Ruhe sorgen oder aber einem unliebsamen Gespräch ausweichen, in dem man sich in den Fernseh-Krimi zurückzappt.
Es gibt auch noch einen dritten Fernseher. Der steht vor dem Haus der verfeindeten Sippen, in einem Getreidefeld, samt Bank und Bierkasten. Hier haben sich Agnes (Ines Schiller) und Ottokar (Jan Kersjes), sie eine Warwand, er ein Rossitz, ihren Rückzugsort geschaffen. Bei Fernsehgucken, Biertrinken und Schmusen möchten sie am liebsten die Familienfehde in ihrem Rücken vergessen.
Die beiden jungen Mimen spielen das sehr anrührend, klar und frisch und, trotz Bierflaschengestemme, ganz und gar nicht cool. Doch weil sie nicht ewig im Kornfeld bleiben können, verkleidet der junge Mann seine Angebetete als Ottokar, während er selbst in ihre Kleider schlüpft. So wollen sie vor denen, die sie jagen, im jeweils "gegnerischen" Wohnzimmer unterschlüpfen, um dort aber bald schon als blutüberströmte Leichen zu enden.
Am Ende eine zaghaft, mit abgewendetem Gesicht ausgestreckte Hand der Väter. Und langer Beifall nach gut zwei pausenlosen Stunden.
Die Familie Schroffenstein
von Heinrich von Kleist
Regie und Bühne: Christian Weise, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Jens Dohle, Dramaturgie: Maria Viktoria Linke.
Mit: Uwe Fischer, Antje Weber, Jan Kersjes, Matthieu Svetchine, Stephan Korves, Verena Unbehaun, Ines Schiller.
www.anhaltisches-theater.de
Mehr lesen über Christian Weise? Im September 2009 verpasste seine Inszenierung Alice Under Ground Lewis Carolls Klassiker mit Anne Tismer im Berliner Ballhaus Ost ein radikales wie bildmächtiges Outfit.
Kritikenrundschau
Christian Weise hat am Anhaltischen Theater Dessau, nach Meinung von AHI (vermutlich: Andreas Hillger) von der Mitteldeutschen Zeitung (1.2.), "einen plausiblen Weg gefunden", Kleists Vendetta-Drama "Die Familie Schroffenstein" ins Heute zu retten: Die Burgen seien bei ihm zwei Plattenbau-Wohnungen. "Man könnte das Missverständnis von Balkon zu Balkon klären", doch gehe es "blutig, sehr blutig" zu – "so, wie man es aus den brutalen Fernsehfilmen kennt". Der Bildschirm, auf dem immerzu David Lynchs "Twin Peaks" läuft, ersetze hier "die Schule der Gefühle, er überbrückt das Schweigen und kommentiert das Leben". Damit habe Weise "tatsächlich eine zeitgemäße Entsprechung für den monströsen Erstling des Dichters gefunden: Solche Formate liefern heute den Horror, der sich einst der schwarzen Romantik verdankte", mit "psychologischem Kammerspiel allein" sei der "Pulp Fiction nun mal nicht beizukommen". Neben die "schwer erträglichen Momente" mit Baseball-Schlägern, Äxten, Pistolen und hartem Sex setze die Regie "immer wieder Passagen, in denen ein Rest von Menschlichkeit aufblitzt". Der Abend führe "fast das ganze Ensemble in Höchstform zusammen", allen voran Ines Schiller und Jan Kersjes, die "eine junge Liebe zwischen ungelenker Körperlichkeit und ernstem Gefühl" zeigen – "zwei Menschenkinder von heute".
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komme aus leipzig und hätte nicht erwartet, so einen stimmigen und spannenden abend mit so guten schauspielern in dessau zu sehen. hingehen!