Dora und Gote schauen über die Mauer

11. Juni 2023. Zugezogene trifft Nazi: In Juli Zehs Roman wird das brandenburgische Dorf Bracken zum Symbolort der gesellschaftlichen Flieh- und Anziehungskräfte. Michael Moritz hat den Stoff in Eisleben behutsam auf die Bühne gebracht – und sein Publikum atmet den Rhythmus dieses Abends hörbar mit.

Von Matthias Schmidt

"Über Menschen" am Theater Eisleben © Jens Schlüter / Theater Eisleben

11. Juni 2023. Dora und Gote sind ein seltsames Paar. Natürlich sind sie kein Paar, sondern nur Nachbarn. Nachbarn in einem brandenburgischen Dorf namens Bracken. Juli Zeh hat die beiden als Archetypen gezeichnet: die aus Berlin aufs Land fliehende Werbetexterin Dora und den "Dorfnazi" Gote. Welten trennen sie. Welten, die sich eigentlich nie begegnen, aber glauben, über die jeweils andere genau Bescheid zu wissen. Auch Dora und Gote starten so. Ihre Grundstücke trennt eine Mauer, aber im Laufe des Romans "Über Menschen" schauen die beiden immer öfter über die Mauer, rauchen miteinander, reden miteinander, kümmern sich umeinander. 

Keine Musik, kein Nebel

Dieses Bild – zwei Menschen, die sich, über eine Mauer schauend, näher kommen – es ist das zentrale Bild der Eislebener Inszenierung. Vielleicht ist es sogar ihre Botschaft, denn in Städten wie Eisleben, das zeigt ein Blick auf die Wahlergebnisse, wird es nicht einfacher, miteinander zu reden. (Hier im Wahlkreis Mansfeld kann es schon mal "passieren", dass ein aus Baden-Württemberg stammender ehemaliger DKP-Funktionär für die AfD ein Bundestags-Direktmandat gewinnt.) Insofern ist "Über Menschen" hier sehr gut aufgehoben. Bracken ist überall. Und der Blick aus den Brackens der Republik auf "die in Berlin", nun ja, er dürfte zu den sich immer weiter verfestigenden Polarisierungen der Jetzt-Zeit zählen.

Stadt und Land, alt und jung, links und rechts, oben und unten, und dann ist da ja auch noch dieses Corona. Regisseur Michael Moritz hat beschlossen, da steckt ausreichend Stoff drin und dem in seiner Inszenierung nichts hinzugefügt. Keine zusätzliche Ebene, weder textlich noch bildlich. Keine Toncollagen, keine Video-Leinwände mit Corona-Protesten, AfD-Fahnen oder Archivschnipseln aus Rostock-Lichtenhagen. Keine Musik, abgesehen von Gotes Absingen des Horst-Wessel-Liedes. Kein Nebel, abgesehen vom Qualm der Zigaretten an der Mauer. Eine inhaltlich gute Entscheidung – jeder kennt die Bilder, die gezeigt worden wären, und jeder hier im Publikum weiß um die Analogien des Stückes zum wirklichen Leben draußen vor dem Theater.

Ganz auf den Inhalt gesetzt

Formal, das muss man sagen, hat sie zur Folge, dass die drei Stunden lange Inszenierung in ihrem Realismus ziemlich eindimensional wirkt. Links das Haus von Dora, rechts das von Gote. Und dazwischen die Mauer. Ein Prospekt auf der Hinterbühne zeigt, ja was eigentlich? Eine brandenburgische Landschaft? Eine mansfeldische Landschaft? Auf jeden Fall ein Nicht-Berlin. Davor steht eine Bank. Das wirkt geradezu kindertheatermäßig simpel, so simpel, dass man in Berlin oder München oder Düsseldorf vielleicht die Nase darüber rümpfen würde. Aber hier, wo die "Über Menschen"-Handlung quasi in jeder Straße spielen könnte, geht es auf. Man lernt im Laufe des Abends sogar zu übersehen, dass Philip Dobraß den Gote sehr klischeehaft kraftmeiernd spielt, dass Esther Bechtold als Gotes Tochter Franzi etwas zu sehr eine Zehnjährige sein will und Almut Liedke als alleinerziehende Mutter Sadie kostümmäßig nur knapp am RTL2-Dokusoap-Personal vorbeischrammt. Zur Karikatur wird keiner von ihnen, man lernt die Charaktere hinter den Überzeichnungen kennen, man nimmt sie an, und richtig gut und schlagfertig und präsent in ihrer Suche nach dem richtigen Umgang miteinander ist Ronja Jenko als Dora.

Fotoprobe „Über Menschen“ aufgenommen am Donnerstag (08. Juni 2023) am Theater Eisleben in der Lutherstadt Eisleben. Foto: Jens Schlueter/Theater EislebenJens SchlueterHandy: 0177.2684339Mit der Honorarzahlung übertrage ich dem Theater Eisleben das einfache Nutzungsrecht zur räumlich und zeitlich unbegrenzte Nutzung der Digitalfotos zu folgender Verwendung:•für alle Nutzungsarten durch das Kulturwerk, wie Publikationen, Präsentationen, Öffentlichkeitsarbeit, Webseite ohne Downloadmöglichkeit usw.Keine Weitergabe an Dritte, auch nicht an  Künstler und Beteiligte.Keine anderweitige Verwendung.Der Fotograf besitzt kein Model-Release der abgebildeten Personen. Es wird grundsätzlich keine Einholung von Persönlichkeits-, Kunst- oder Markenrechten zugesichert, die Einholung dieser Rechte obliegt dem Nutzer.Ensemble im Bühnenbild von Jens Büttner © Jens Schlüter / Theater Eisleben

Dieser Abend will ganz Inhalt sein und verzichtet auf formale Experimente. Mal ganz abgesehen davon, dass das Theater in Eisleben nach dem Willen der Landespolitiker vor rund 10 Jahren schon einmal hätte geschlossen werden sollen und auch heute nicht mit Geld um sich werfen kann – es braucht nicht unbedingt eine komplexe Licht- oder Musikdramaturgie, um den Dialogen an der Mauer gespannt zuzuhören.

Ohne Feindbild

Der größte Eingriff in den Stoff sind Kürzungen. Sieht man mal von den zwei oder drei eigenwilligen Tanzeinlagen zu den Themen Corona und zu Doras "Gutmensch"-Werbekampagne ab. Die kann man – salopp gesagt - vergessen. Das Stück selbst ist Diskurs genug. Wie sollen wir miteinander leben, wie umgehen mit radikalen Meinungen? In vielen Momenten erinnert es an Lukas Rietzschels jüngst in Bautzen aufgeführtes Stück "Widerstand", das ebenfalls nach den Gründen für rechtes Denken sucht, das in der offenbar immer größer werdenden Zahl von Menschen, die "dagegen" sind, die den Medien nicht mehr glauben, die sich nicht mehr vertreten fühlen (wenn nicht gar im Stich gelassen), nicht einfach nur ein Feindbild, sondern ein Problem für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sieht.

Selbstverständlich zieht Dora rote Linien, zugleich aber schaut sie über die Brandmauer nach rechts und sieht in Gote irgendwann einen Menschen jenseits der Klischees vom Nazi. Ebenso Tom und Steffen, das schwule Paar, das politisch so gespalten ist (einer wählt die AfD, der andere macht linke Comedy) und schließlich, als es von Gotes Krebserkrankung erfährt, sogar ein Dorffest für ihn ansetzt. Wer es mit Utopien hat, kann das als Möglichkeit der Verständigung miteinander begreifen. Bevor, wie Dora es sagt, die Demokratie "am Kampf der Ängste zerbricht".
Zu sehen, wie gespannt das Publikum den aufgeladenen Themen rund um diese Ängste folgt, dass mancher lacht, wo andere nicht lachen und ab und an jemand betont schwer ein- und wieder ausatmet, zeigt, dass diese Inszenierung genau so an genau diesem Ort richtig liegt. Sie dosiert elegant zwischen humorvollen Dialogen und nachdenklichem Ernst, und sie kommt ohne Belehrungen aus. Fast ohne. Sie führt nicht vor. Fast nicht. Sie erlaubt sich klamaukige Momente. Sie blickt nicht ohne Seitenhiebe (in alle Richtungen!) auf die Pandemie-Zeit zurück. Diese drei Stunden sind unterhaltsam und klug zugleich und schneller vorbei als manches Fußballspiel.

Über Menschen
Von Juli Zeh. Bühnenbearbeitung Ann-Kathrin Hanss
Regie: Michael Moritz. Ausstattung: Jens Büttner. Dramaturgie: Ann-Kathrin Hanss.
Mit: Ronja Jenko. Philip Dobraß. Esther Bechtold. Tom Bayer. Christopher Wartig. Julius Christodulow. Almut Liedke. Oliver Beck.
Premiere am 10. Juni 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause 

theater-eisleben.de


Kritikenrundschau

"Ziemlich scharf, was die Dramaturgin Ann-Kathrin Hanss und der Regisseur Michael Moritz ihrem Publikum im Theater Eisleben vorsetzen. Hanss hat das viel und kontrovers diskutierte Buch der Schriftstellerin Juli Zeh für die Bühne bearbeitet, Moritz hat es spannend inszeniert. Drei Stunden dauert das Spiel, langweilig ist es zu keinem Augenblick", schreibt Andreas Montag in der Mitteldeutschen Zeitung (13.6.2023). "Das ist der Aufreger hier: Darf man einem, der ein verurteilter Schläger ist, Zuwendung geben? Die Inszenierung in Eisleben beantwortet es nicht allgemein, sondern schlüssig und skrupulös aus der fiktiven Situation heraus. Und stellt klar: Es ist einer und eines jeden eigene Verantwortung, um die es geht."

 

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