Alle Steine fliegen hoch

27. August 2022. Er wirkt abwesend, sie spricht von Steinen in der Brust. Die Hauptattraktion von Chris Salters VR-Projekt beim Kunstfest Weimar ist trotzdem nicht das Beziehungsdrama vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe, sondern: eine animierte Realität, die der Schwerkraft trotzt.

Von Michael Laages

Chris Salters Performance- und VR-Projekt in den ehemaligen KET-Fabrikhallen im Norden von Weimar © Thomas Müller

27. August 2022. Mit finanzieller Unterstützung aus ziemlich vielen Quellen geht "Animate" an den Start, das Projekt des Kanadiers Chris Salter; es ist Teil der Eröffnung der jüngsten Ausgabe vom Kunstfest in Weimar. Ob aber all die fein und offenbar überzeugend formulierten Projektideen tatsächlich eingelöst werden im wirklichen Kunst- und Theaterleben, ob sie sich realisieren lassen in Alltag und Performance – das ist am Tag der Premiere gar nicht mehr so wichtig.

Schlüsselbegriffe wie "Der Klimawandel und die Folgen" oder "Partizipation durch virtuelle Realität" haben die erwartete Wirkung ja bereits getan und garantiert, dass die Gelder flossen und viele Förderer mit an Bord gegangen sind. Das Team um den kanadischen Künstler Chris Salter konnte daheim viele Partnerinnen und Partner gewinnen für die aufwändige Technologie der Produktion "Animate", die tatsächlich vorstoßen will in Welten der Animation; in Deutschland beteiligten sich die Kulturstiftung des Bundes und die Staatsministerin für Kultur, aus Luxemburg schloss sich das Stadttheater dem Kunstfest Weimar an; und Deutschlandfunk Kultur war bereit, Salters Projekt auch als Hörspiel zu realisieren, parallel zur Weimarer Premiere.

Wir treffen uns bei KET!

Schon Rimini Protokoll und auch der junge René Pollesch setzten ja auf die Radio-Partnerschaft – mit dem gelegentlich ebenso amüsanten wie entlarvenden Nebeneffekt, dass deutlich zu spüren war, ob diese oder jene Produktion das Theater wirklich brauchte. Im Grunde nämlich eher gar nicht – auch bei "Animate" jetzt macht sich zuweilen dieser ja nicht wirklich gewünschte Eindruck breit. Denn die Wirklichkeit der Aufführung ist deutlich banaler als die dramaturgisch schwelgende Projekt-Poesie.

Wir treffen uns bei KET. KET heißt was? "Kartoffelerntetechnik" – die grandiosen (und grandios leeren) Fabrikhallen von KET im Norden der kleinen Stadt Weimar dienten ganz zu Beginn dem Wagen- und Waggonbau, waren darum auch kriegswichtig, produzierten nach 1945 dann als "Weimar Werk" vor allem Landmaschinen, unter anderem eben Großfahrzeuge für die Kartoffelernte. Wie groß die gewesen sein müssen, ist den Hallen noch anzusehen – mit den gewölbten Dächern sind sie ein Industrie-Denkmal der aufregenderen Art. Die "Animate"-Produktion nutzt sie auf bestmögliche Weise.

Wir als Publikum sind nur zu sechst pro Vorstellung. Eigentlich sollten je zwölf Stück Kundschaft versorgt werden in fünf Vorstellungen am Premierentag; dass wir jetzt nur halb so viele sind, mag technische Gründe haben – aber womöglich wollten auch keine 60 Zuschauerinnen und Zuschauer "Animate" buchen am allerersten Tag. Auch das ist im Grunde egal – nur sitzen wir sechs Gäste jetzt halt etwas verloren auf den Baum-Stümpfen im ersten kleinen Saal der Performance.

26.08.2022 Weimar: Chris Salters „Animate“, ein Augmented Reality Parcours in der KET-Halle im Rahmen des Kunstfest Weimar. Foto: Thomas MüllerSteve Karier und Judith Rosmair arbeiten sich durch schwergewichtige Welt- und Beziehungsprobleme beim Kunstfest in Weimar © Thomas Müller

Judith Rosmair und ihr luxemburgischer Kollege Steve Karier, beide einst (vor über 25 Jahren) Teile von Leander Haußmanns Ensemble in Bochum, erzählen und lesen hier eine Geschichte für uns. Die Sache mit den "Folgen des Klimawandels" steckt vor allem in dieser Geschichte – Frau und Mann, beide auf verschieden schmerzhafte Weise aus früheren Partnerschaften gerissen, machen sich auf die Reise in die noch unberührte Natur. Wie und warum der eigentliche Lebensraum der beiden klimabedingt dem Untergang geweiht ist, bleibt fragmentarisch und rätselhaft; allerdings ist von Überschwemmungen ganzer Länder die Rede.

Trauma in Herz und Seele

Wirklich gute Gemeinsamkeit zwischen beiden kann allerdings nicht wachsen, zu viel Trauma ist in Herz und Seele; er wirkt oft extrem abwesend, weil er wohl einst einen tödlichen Autounfall verursachte, sie spricht von Steinen in der Brust, die sie immer von neuem aufschichten muss. Ein Zelt haben sie sich gebaut in der verregneten Wildnis; eine Art Überlebenstraining beginnt. Und er sehnt sich nach einer bestimmten Hochebene in schwer zugänglichem Gelände, die ein magischer Ort sein soll. Ob dort wohl Erlösung wartet? Sie brechen auf zu diesem Ziel; wir folgen – in den nächsten Raum, eine der weit in die Tiefe gestreckten Werkhallen von früher.

Hier bekommen wir die mittlerweile bekannten Sichtgeräte für die Virtual Reality aufgesetzt (für Brillenträgerinnen und Brillenträger nicht ganz einfach) und einen Strick in die Hand gedrückt. Karier und Rosmair führen uns durch den Raum – und optisch wie durch bläulichen Nebel. Zu sehen sind bloß Schemen, ab und zu ein Licht; schließlich auch das Panorama einer Berg- und Hügelkette. Und eine gut geordnete Form aus Flecken in Grau-Schwarz legt sich vor unsere Augen: das sind die Steine, die gleich zur Hauptattraktion werden – und sicher wahnsinnig viel Geld gekostet haben. Denn sie beginnen zu fliegen.

Animate2 Tim Thomasson uFlying Stones: Als Hauptattraktion flattern den Zuschauer:innen animierte Gesteinsbrocken um die Köpfe © Tim Thomasson

Die Brocken bilden immer neue Flug-Formen, flattern uns um die Köpfe (und manchmal wie durch uns hindurch); sie wechseln Farbe und Form, sehen aber immer aus wie sehr gefährliche Felsbrocken. Minutenlang dauert dieser derwischhafte Tanz der Steine; dann breitet sich in der Tiefe des VR-Raumes gleißendes Licht aus, und die Steine fallen zurück in die ursprüngliche Formation.

Steiniges Finale

Das war’s. Lärmend viel Sound hat diese steinerne Flugschau begleitet, die Geschichte der beiden verlorenen Menschen-Seelen könnte darüber in den Hintergrund gerückt sein. Generell hat Chris Salter sich vielleicht nicht wirklich entscheiden können, ob ihn die Beziehungsgeschichten mitten im Prozess der klimatisch-katastrophischen Veränderungen nicht vielleicht doch mehr interessiert haben als das Drama aus Überschwemmung, Hitze und Weltuntergang. "Animate" ist darum nur zu Teilen spektakulär: im steinigen Finale.

Unbedingt stark allerdings bleibt die Struktur der Virtualität – denn Salter bettet das Publikum ja nicht wie sonst oft üblich in einen kompletten Film mit 3-D-Effekten ein, sondern neben den fliegenden Felsbrocken bleiben Rosmair und Karier, Spielerin und Spieler, und bleibt auch die Halle der Kartoffelerntetechnik immer präsent. Die Mischung macht den Reiz.

 

Animate
von Kate Story
Künstlerische Leitung und Regie: Chris Salter, VR-Entwicklung: Pierrick Uro, Co-Regie und Aufnahme: Anouschka Trocker, Szenografie: Florence To, Choreografie: Angelique Willkie, Sounds: Limpe Fuchs, Musik: Caterina Barbieri, Komposition und Sounddesign: Sam Slater, Programmierung: Puneet Jain.
Mit Judith Rosmair und Steve Karier 
Premiere am 26. August 2022
Dauer: 40 Minuten, keine Pause

www.kunstfest-weimar.de

 

Kritikenrundschau

Thilo Sauer vom Deutschlandfunk (27.8.2022) ist enttäuscht. Chris Salters Ansatz sei zwar spannend, das Zusammenspiel von Raum und VR bleibe aber disparat, "ebenso wie die Rolle der realen Menschen an diesem magischen Ort, die nur einer Visualisierung zuschauen, ohne Teil davon zu werden oder mit ihr zu interagieren". 'Animate' sei nicht state of the art.

"Natürlich kann diese Technik noch nicht einlösen, was die Story verspricht. Aber klar ist, dass wir VR-Astronauten unsere Welt in naher Zukunft mit derlei realistischen Digitalwesen animieren. – Wie haben wir einst gelacht übers verpixelte Pingpong am TV- Bildschirm; über heutige Computerspiele spottet niemand mehr…“, schreibt Wolfgang Hirsch von der Thüringer Allgemeinen (27.8.2022).

 

 

 

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