Perpetuum Mobile des Grauens

12. Februar 2023. Martialische Kriegstrommeln, düsteres Schlachtfeld, komplexes Spiel: Hasko Weber vergegenwärtigt Friedrich Hebbels Tragödie, ohne sie vordergründig zu aktualisieren – und schafft einen Abend, wie es ihn nur noch selten gibt.

Von Matthias Schmidt

"Die Nibelungen" in der Regie von Hasko Weber am Nationaltheater Weimar © Candy Welz

12. Februar 2023. "Diplomatie! Jetzt! Frieden" steht auf dem Banner über dem Eingangsportal des Nationaltheaters. Drinnen, auf der Bühne, geben martialische Kriegstrommeln den Ton vor. Willkommen auf dem Schlachtfeld, wir sind's, die Nibelungen! Die sich immer wieder Treue und den Feinden Rache schwören. Die vor lauter Treue und Rache untergehen. Krieg und Frieden, Morden oder Nichtmorden, darum geht es Hasko Weber mit seiner Inszenierung von Friedrich Hebbels Trauerspiel. Herausgekommen ist ein Abend, wie es ihn nur noch selten gibt: hochkonzentriert erzählt er die komplexe Geschichte mit den klassischen Mitteln des Theaters.

Zwischen den Zeilen

Schritt für Schritt macht er diese Geschichte nachvollziehbar, nichts lenkt von ihr ab. Keine vordergründigen Aktualisierungen, keine Fremdtexte, keine Videoschnipsel, keine Kampf-Choreografien. Perfekte drei Stunden, die den Regisseur kaum spüren lassen, die weder in den eigenen Ideen schwelgen noch plakativ mit einer Botschaft wedeln. In denen das Ensemble souverän arbeitet.

Auf den ersten Blick ist alles ganz der Stoff. Auf den zweiten, man muss es nur bemerken wollen, betont Hasko Weber sehr wohl genau die Momente daraus, die ins Heute weisen. Nichts wird ausgesprochen, aber alles gesagt. In einem Raum, der ausgestorben schien: zwischen den Zeilen. Ein Hochgenuss zu erleben, dass er noch lebt und nicht mit dem DDR-Theater untergegangen ist. Beispielsweise in Wolfgang Engels Dresdner "Nibelungen" 1984 machte er die Inszenierung zu einem Vorgeschmack auf das, was sich in Christoph Heins "Rittern der Tafelrunde" ein paar Jahre später unübersehbar zeigte – der Blick auf den Mythos als Abgesang auf die DDR. Großes, relevantes Theater. Und brisanter Diskussionsstoff für den Heimweg.

DNT Weimar: DIE NIBELUNGEN von Friedrich Hebbel, Regie: Hasko Weber, Bühne und Kostüme: Thilo Reuther, Mitarbeit Kostüme: Andrea Wöllner, Musik: Sven Helbig, Video: who-be, Premiere: 11.2.2023, Großes Haus, Szenenfoto mit Nahuel Häfliger (Siegfried), Nadja Robiné (Kriemhild) und Martin Esser (Kaplan) / Foto: Candy WelzNichts wird ausgesprochen, aber alles gesagt: Nahuel Häfliger als Siegfried und Nadja Robiné als Kriemhild mit Martin Esser als Kaplan im Hintergrund © Candy Welz

An Webers "Nibelungen" ist zu sehen, wie das auch heute funktionieren kann. Der Regisseur versteckt nichts, was man nicht auch laut verkünden könnte, und er orakelt nicht mit ins Historische verlegter Gegenwart herum, aber sein Fokus liegt besonders auf den Szenen, in denen die Katastrophe hätte gestoppt werden können. Wenn beispielsweise König Gunther Hagen Tronje fragt, ob man Siegfried denn unbedingt töten müsse. Da war noch (fast) nichts passiert. Oder später, wenn Hagen Gunther davon abrät, Kriemhilds Ehe mit Etzel zuzustimmen. "Gebt ihr keine Waffen, wenn sie euch selbst damit erreichen kann", spricht er. Auch da war es noch nicht zu spät.

Modelle von Menschheitserfahrung

Zugegeben, nicht jeder wird das Programmheft lesen, oft genug stellt sich der Zusammenhang zum Bühnengeschehen ohnehin nicht her, aber in diesem Fall erfüllt die Inszenierung, was sie darin verspricht. "Der Mythos … macht es möglich, individuelle Erfahrung … an Modellen von Menschheitserfahrung zu messen", wird Franz Fühmann zitiert, einer, der das Nibelungenlied nacherzählt hat und mehr als ausreichend sowohl individuelle als auch Menschheitserfahrungen durchlebt hat.

Nun sitzt man im Theater, erlebt Hebbels Version der sich scheinbar unabwendbar aneinanderreihenden Brutalitäten und fragt sich keine Sekunde, ob das etwas mit uns zu tun hat. Es hat. Was tut man, wenn einem jemand hinterrücks den Mann ermordet? Kriemhild (Nadja Robiné) will sich rächen, sucht sich Verbündete, geht Allianzen ein, wird dabei selbst zur Mörderin, verliert ihr Kind, wird erschlagen, wie sie andere erschlug. Mehrfach hätte dieses Perpetuum Mobile des Grauens beendet werden können, und niemand hat es getan. Menschheitserfahrung.

DNT Weimar: DIE NIBELUNGEN von Friedrich Hebbel, Regie: Hasko Weber, Bühne und Kostüme: Thilo Reuther, Mitarbeit Kostüme: Andrea Wöllner, Musik: Sven Helbig, Video: who-be, Premiere: 11.2.2023, Großes Haus, Szenenfoto mit (vorn rechts) Nadja Robiné (Kriemhild) und Nahuel Häfliger (Etzel), mit Janus Torp (Giselher), Philipp Otto (Gunther), Sebastian Kowski (Hagen Tronje), Marcus Horn (Volker) und Calvin-Noel Auer (Gerenot) / Foto: Candy WelzGegen Ende wird Thilo Reuthers Ausstattung immer heutiger: Das Weimarer "Nibelungen"-Ensemble © Candy Welz

Sie findet statt auf einer weitgehend dunklen, spartanisch endzeitlich ausgestatteten Bühne, die sich immer weiterdreht, so wie das Morden immer weiter geht. Was für Bilder, was für eine geschickte Bespielung der kompletten (riesigen) Bühne! Der Spielmann Volker trommelt die nächste Runde ein, kurz wabert ein Hauch von "Game of Thrones" durch den Raum, dann folgen immer wieder Momente, in denen der Lärm aus Stille besteht: Man hört den Brunnen tropfen, vor dem Siegfried gleich ermordet wird ...

Klingt nach Theatermuseum? Weit gefehlt! Da sind unendlich viele kleine Regie-Ideen, aber keine drängelt sich in den Vordergrund. Weder das von Nahuel Häfliger als Siegfried herrlich angedeutete Ironisieren seines Todeskampfes, noch die nach dem Mord an ihm den Abba-Song "SOS” singende Kriemhild ("When you're gone, how can I even try to go on?”), und auch nicht, dass sie kurz darauf in einen Eimer pinkelt. Was vielleicht sogar ein wirklich raffiniertes Theaterzitat ist, da war bekanntlich mal was am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz.

Diskussionsstoff für den Heimweg

Gegen Ende, in "Kriemhilds Rache", wird auch die Ausstattung immer heutiger. Kriemhild und ihr zweiter Mann Etzel schauen dem Schlachten der Nibelungen hinter dem Eisernen Vorhang auf einem Laptop zu. So, wie wir heute dem Krieg zuschauen? Man kann das so verstehen. Weil jedes "Krieg" und jedes "Schuld" im Hebbel-Text das triggert (das neue "zwischen den Zeilen"), was in den Nachrichten omnipräsent ist. Danach hat Etzel seinen letzten Auftritt: er verweigert die weitere Teilnahme an den Grausamkeiten: "Nun sollt‘ ich richten – rächen – neue Bäche ins Blutmeer leiten. Doch es widert mich an, ich kann’s nicht mehr …".

Hasko Weber hat "Die Nibelungen" glücklicherweise nicht inszeniert, damit er sie auch mal gemacht hat. Er will offenbar, dass das Theater mit seinen ureigensten Mitteln an gesellschaftlichen Diskursen teilnimmt. An Diskursen, die geführt werden müssen, und zwar nicht nur in den zwitschernden Polarisierungs-Bubbles. Großes, relevantes Theater und brisanter Diskussionsstoff für den Heimweg – was will man mehr?!


Die Nibelungen
von Friedrich Hebbel
Regie: Hasko Weber, Bühne und Kostüme: Thilo Reuther, Künstlerische Mitarbeit Kostüme: Andrea Wöllner, Musik: Sven Helbig, Dramaturgie: Beate Seidel, Licht: Christian Schirmer, Video: who-be.
Mit: Philipp Otto, Nadja Robiné, Janus Torp, Calvin-Noel Auer, Annelie Korn, Nahuel Häfliger, Johanna Geißler, Bastian Heidenreich, Sebastian Kowski, Fabian Hagen, Martin Esser, Lutz Salzmann, Tahera Hashemi.
Premiere am 11. Februar 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

Kritikenrundschau

Der Abend zeige "eine Art, nun ja, Nibelungentreue zu einem alten Stück", meint Henryk Goldberg in der Thüringer Allgemeinen (13.2.2023). Hasko Webers Inszenierung sei "seriös" und "gediegen", nehme die Geschichte, die in Gestalt von Hebbels Stück doch "ein Schinken" sei, aber "zu ernst". Dennoch gebe es Momente von großer "Konzentration" und "Intimität".

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