Kafka umírá, Kafka stirbt - Tiroler Landestheater Innsbruck
Systemrelevant
19. Juni 2022. Kafka als Dramatiker? Max Simonischek outet sich in Innsbruck als Fan und bringt Kafkas letzte Erzählung in die Kammerspiele des Tiroler Landestheaters. Das Ergebnis ist ein Stück über die Frage, wie wichtig uns die Kunst ist.
Von Martin Jost
19. Juni 2022. Was erleben wir eigentlich im Theater? Leute wie du und ich stehen auf Bühnen herum und sprechen. Dazu tun sie so, als wären sie jemand anders, aber vor allem sprechen sie. Lohnt sich dafür der Weg? Warum kaufen wir eine Eintrittskarte, um etwas zu sehen, das wir selbst jeden Tag machen: sprechen?
Präsenz-Kunst
Max Simonischek hat mit "Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse" den perfekten Text über den Wert der Präsenz-Kunst gefunden – in Pandemien, aber auch sonst. Franz Kafkas Erzählung behandelt die Frage, was Kunst zu Kunst macht und was sie uns wert ist. Gleichzeitig behandelt er die Kränkung, die Künstler:innen aushalten, wenn sie sehen, dass ihre Arbeit offenbar nicht systemrelevant ist.
Zusammen mit anderen Texten für das Buch "Ein Hungerkünstler" hat Kafka die Druckfahnen von "Josefine, die Sängerin" kurz vor seinem Tod im Sanatorium in Kierling korrigiert. In "Kafka umírá – Kafka stirbt" suchen ihn seine Figuren am Sterbebett heim. Simonischek hat eine Textfläche gebaut mit Versatzstücken aus Kafkas Erzählungen, aus seinen Briefen, den Tagebüchern und aus den Zetteln, mit denen er sich im Sanatorium verständigte, als er wegen seiner Kehlkopf-Tuberkulose nicht mehr sprechen konnte.
In Kafkas letzter Erzählung berichtet eine Maus über die Gesangskünstlerin Josefine, bei deren Konzerten das Mäusevolk ergriffen lauscht. Dabei räumen sie ein, dass Josefine eigentlich bloß pfeift wie alle Mäuse. Ohne das Ritual des Konzerts kann keiner sagen, was Josefines Kunst so charismatisch macht. Josefine bittet darum, von körperlicher Arbeit freigestellt zu werden, um sich ganz auf ihre Kunst konzentrieren zu können. So weit geht die Liebe der Mäuse zu ihrem Gesang dann aber nicht: Als Josefine zunächst "ihre Kolloraturen kürzt", merkt das Publikum nicht einmal, was ihm entgeht. Und als Josefine komplett streikt, scheinen die Konzerte den Mäusen nicht sehr zu fehlen.
Hat es sich gelohnt?
Im Rückblick auf sein Leben stellt sich Kafka ganz ausdrücklich die Frage: Haben sich meine lebenslangen Opfer im Dienst der Kunst gelohnt? Dora Diamant und Dr. Robert Klopstock, die er in seinen letzten Wochen im Sanatorium um sich hatte, sowie seine literarischen Figuren suchen ihn heim. Wirklichkeit, Traum und Alptraum verschmelzen.
Phillip Henry Brehl als Kafka trägt ein langes Nachthemd, das nicht lange weiß bleibt, bevor er einen Schwall Blut darüber hustet. Er bleibt die ganze Zeit im Vordergrund in grellem, klinisch weißem Licht, während die vier anderen Schauspieler:innen sich meist im leeren Schwarz der Bühne aufhalten, bis sie abwechselnd und in je wechselnden Rollen nach vorn kommen. Alle fünf haben wahre Bretter an Text zu beackern, immer wieder seitenlange Monologe. Der eine oder andere tolle Satz geht leider verloren, weil er in zu viel Text versteckt ist. Kafka hat nicht fürs Theater geschrieben, seine Sätze sind oft lang und verschachtelt, aber auch elegant und frei von Klischees.
Der Schauspieler und Vorleser Max Simonischek feiert als Regisseur die Sprache auf der Bühne. Brehl interpretiert Kafkas Korrespondenzen natürlich und einfühlsam, während er mit hörbarem Genuss die Silben kostet. Die Texte der anderen Figuren entstammen überwiegend der erzählenden Prosa. Raphael Kübler kann klug modulierten Text in einem Tempo abfeuern, dass den Zuhörenden die Puste ausgeht. In einem Monolog als "eine Maus" betont Christina Constanze Polzer die Mausgedanken sinnvoll und souverän wie in einem schnellen Hindernislauf. Und während wir noch darüber nachsinnen, wie viel Technik und Erfahrung hinter der Arbeit von Schauspieler:innen mit Texten steckt und wie wenig alltäglich dieses Sprechen ist, hat gerade Janine Wegener angesetzt, da ruft ein Banause aus dem Publikum: "Lauter!"
Hinhören muss man allerdings. Unter Daniel Freitags aufwühlende Musik aus Pfeifen und Vibrafon mischen sich Mäuseschmatzen und das Zischen einer tuberkulösen Lunge. Das Publikum hustet ehrgeizig mit.
Knack, Knall, Zisch
Eine Steampunk-Skulptur, die aus dem Theaterhimmel angeschwebt kommt (Bühne: Harald Thor), ist Quelle für weitere nervige Geräusche. In der Konstruktion, um die die vier "Mäuse" wuseln, ist eine alte Schreibmaschine verbaut, ein Blasebalg und Luftschläuche, eine Büropapier-Windmühle und anderes mehr, das sich bewegt und klackt und knallt. Dampf kommt auch heraus und ein lauter Nadeldrucker spuckt meterweise Endlospapier aus. Ist das die Textmaschine Kafka? An der kinetischen Skulptur können wir uns gar nicht sattsehen. Wir würden am liebsten zu ihr hingehen und Knöpfe drücken.
Wer ist wer?
Die Schauspieler:innen haben leider keine Verwendung für sie. Sie nesteln etwas daran herum, wenn sie gerade im Hintergrund sind. Dann gehen sie wieder nach vorne zu Kafka und benutzen ihn abwechselnd als Dialogpartner und als menschliche Requisite. Ein paar mehr Spielzeuge auf der Bühne hätten die Figuren vielleicht klarer hervortreten lassen. Es ist oft unklar, was für eine Rolle gerade spricht. Welche überhaupt zur Auswahl stehen, lässt sich nur mit Programmzettel entschlüsseln. Die vier Mäuse beziehungsweise Schakale/Ärzte sprechen auch mal als Dora Diamant (Sara Nunius), als Dr. Klopstock (Wegener) oder als Dachs aus der Erzählung "Der Bau" (Kübler). Tanja Hofmann hat ihnen Pilotenhauben und graue Roben wie von Bergwerksmönchen angezogen. Die Kostüme ändern sich mit ihren unterschiedlichen Rollen nicht.
Was erleben wir eigentlich im Theater? Im Fall von "Kafka umírá – Kafka stirbt" eine doppelte Neuentdeckung. Max Simonischek hat in Kafkas Werk Fragen gefunden, die die Kunst sich immer wieder stellt und die sie in der Corona-Pandemie besonders umtreiben. Und das Ensemble, das in einer reizarmen Inszenierung auf seine Sprache zurückgeworfen ist, entdeckt für uns Ästhetik und Humor in Kafkas Schreiben. Pfeifen ist eben nicht gleich Pfeifen.
Kafka umírá - Kafka stirbt
Ein Kafka-Präparat von Max Simonischek
Regie: Max Simonischek, Bühne: Harald Thor, Kostüme: Tanja Hofmann, Musik: Daniel Freitag, Dramaturgie: Christina Alexandridis, Uschi Oberleiter.
Mit: Phillip Henry Brehl, Sara Nunius, Janine Wegener, Raphael Kübler, Christina Constanze Polzer.
Premiere: 18. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.landestheater.at
Kritikenrundschau
Einen "Strom aus Geistesblitzen, Absurditäten, Wahnvorstellungen und Panikausbrüchen, befeuert von Todesangst" biete das Stück, schreibt Markus Schramek in der Tiroler Tageszeitung (20.6.2022). Der Abend entwickele einen "beachtlichen Sog"; Hauptdarsteller Phillip Henry Brehl schlage sich "ausgezeichnet in seiner anspruchsvollen Rolle"; er "zeigt sich schauspielerisch und rhetorisch der Wucht und der Komplexität des Textes gewachsen". Kleiner Einwand: "Bei aller Dramatik und Dichte lechzt man nach wenigstens einem Anflug von Leichtigkeit."
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nachtkritikvorschau
Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben Ihren Beitrag dazu geleistet dass diese Aufführung so ausdrucksstark daher kommt.
Sehr interessantes Stück, welches ich nur weiterempfehlen kann.
Auch das Bühnenbild muss man gesehen haben.
Großes Lob an das ganze Team.
selten ist es während einer vorstellung so leise im publikum. gespannt hängt man an den lippen der spieler um nichts zu verpassen. auch optisch bleibt kaum eine pause zum blinzeln, eine fortlaufende inspiration für das ästhetische auge. in vielen teilen bleibt ordentlich raum für die eigene interpretation, man darf sehen und verstehen was einem gerade in den sinn kommt. wir dürfen uns glücklich schätzen, das regiedebüt von max simonischek vor unserer haustüre erleben zu können.
danke für diesen bemerkenswerten theaterabend
und auf entliche weitere
viel liebe
Regie: Max Simonischek, Kafka: Philip Henry Brehl; Bühne: Harald B.Thor und Kostüme: Tanja Hofmann.
Regie, Schauspiel, Bühne und Kostüme im Einklang, so hatte sich das Stück für uns im Landestheater Innsbruck dargestellt. Den Untergang eines einzigartigen Schriftstellers wie Kafka, so zu interpretieren finde ich hervorragend und wurde dem Schriftsteller sicherlich gerecht. Eine imposante Vorstellung bei der man nie an der Genialität von Kafka und dieser Interpretation zweifelt. Die Bühne wie immer eine Augenweide und passt mit interessanter Kostümwahl ausgezeichnet zur Regie/Dramaturgie.
Ein Abend zum Genießen und vor allem ein gelungenes Regiedebüt von Max Simonischek.
PS With friends like these, who needs enemies?
Aber: Was haben diese drei Sachen miteinander zu tun?
Das erschließt sich mir in dieser Inszenierung so überhaupt gar nicht. Es wirkt für mich beliebig zusammengestöpselt, wenn es mit Konzept geschah, dann muß man mir das bitte erklären.
PS: Und warum klingt der Arzt wie Udo Lindenberg?