Realitätsflucht Ahoi!

26. Mai 2023. Ein lustvoller Liederabend mit Wellengang war angekündigt, im Zeichen der Stabsübergabe des scheidenden Schauspieldirektors Jonas Knecht an Nachfolgerin Barbara-David Brüesch. Es wurde eine große Abschiedsparty, für Spieler:innen und Publikum.

Von Erich Nyffenegger

Matros:innen Pfeuti, Schäfer, Graupner, Tobler, Blumer, Dengler, Schröder, Buser, Bücker, Müller © Jos Schmid

26. Mai 2023. Wahrscheinlich kann man sich diesem merkwürdigen Abend am besten über die Summe all dessen annähern, was er nicht war: Die Inszenierung von Barbara-David Brüesch war sicher kein großes Theater und keinesfalls grandiose Oper und weder Musical noch Ballett. Ja nicht mal richtiger Sketch, denn dazu hätte es eines Handlungsfadens bedurft, wenn auch nur eines kurzen. Klar, der Bühnenraum in der Lokremise St. Gallen war mit der Kulisse samt Zuschauerrängen als Setting eines Kreuzfahrtschiffs gekonnt von Bühnenbildner Damian Hitz ausstaffiert. Und die stattliche Zahl von Akteurinnen und Akteuren trugen stilecht die Uniform der Besatzung, zuvorkommend zu allen Zuschauern, die als Passagiere der großen Fahrt mit Kurs aufs inszenatorische Niemandsland an Bord gingen.

Verbeugung der Mannschaft vor dem Steuermann

Doch wo soll so ein Kreuzfahrtschiff ankommen, wenn offenbar keiner eine Richtung kennt, nichtmal der Kapitän, der sich aus dem Off immer wieder per Lautsprecher ins Gewimmel der Figuren einschaltet? Die Wahrheit ist: Der mutig als Uraufführung angekündigte Stoff aus der Feder von Barbara-David Brüesch und Michael Flury ist nichts weiter als die Würdigung des nach Erlangen abdampfenden Schauspieldirektors Jonas Knecht, der dort als Intendant das Ruder übernimmt. Eine Würdigung zum Abschied, eine Verbeugung der Mannschaft vor dem Steuermann. Eine Art Junggesellenabschied für den Bräutigam, dessen Zukünftige das Theater Erlangen ist.

Man könnte jetzt mit einigem Recht diese Idee verreißen. Denn was gehen den unbedarften Zuschauer die sentimentalen Gefühlswallungen eines Abteilungsleiters für Schauspiel und dessen Ensemble an? Warum soll er sich über mehr als zwei Stunden hinweg schmalzige Kreuzfahrt-Klischees angucken, durchaus nicht immer von brillanter Stimmgewalt getragen? Denn die meisten Schauspieler sind nunmal keine Sänger. Die Antwort ist maximal banal: Weil's unheimlich viel Spaß macht!

Pfeuti trifft immer!

Kein Schmachtfetzen von Song, der nicht aus willigen Kehlen erschallt: von Freddy Quinn bis zu den Beatles, von Udo Jürgens bis Charles Aznavour. Das Ensemble verkörpert dabei weniger Figuren als Skizzen. Zum Beispiel das comicartige Männlein von einem Dieb, das Diana Dengler so entzückend verstohlen spielt. Im Gegenpart produziert sich Marcus Schäfer als die Karikatur eines einsamen Kommissars mit Trenchcoat und Lupe, der später rührend "Küssen kann man nicht allein" singen wird. Noch so ein Paar bilden Anja Tobler und Tobias Graupner, die an Bord der MS "Zwischen den Welten" um ihre Liebe kämpfen – und Anja Tobler dabei nicht weniger als großartig Chansons intoniert.

Zwischen den Welten 3 Jos SchmidTrifft immer den richtigen Ton: Pascale Pfeuti © Jos Schmid

Wenn es um den richtigen Ton im richtigen Moment geht, um das exakte Maß in Klang und Ausdruck, stiehlt allerdings eine andere Frau allen die Show: Pascale Pfeuti, die sämtliche Grenzen zwischen Schauspiel und Gesang verwischt. Egal ob sie "Here Comes The Sun" von den Beatles anstimmt oder den an sich nervtötenden 90er-Jahre-Hit "Cotton Eye Joe" als Ballade mit all ihrer Zärtlichkeit haucht: Pfeuti trifft immer! Für die musikalische Grundierung sorgt ein multiinstrumentales Trio unter der Leitung von Michael Flury, der besonders als Posaunist vom Gehör der Zuschauer Besitz ergreift, flankiert von Lukas Langenegger an den Gitarren und Nicolas Stocker am Schlagzeug.

Gut geklaut

Auf der männlichen Seite sticht besonders Julius Schröder – heftig mit Tabea Buser techtelmechtelnd – als Goldkehlchen hervor. Und zwischen Gesang und Tanz? Eine Portion Slapstick, etwa wenn die Zauberer Siegbert und Ralph (Christian Hettkamp und Fabian Müller) fröhlich Anti-Kunststücke dilettieren. Oder das Hummer-Ballett vor der Zubereitung im heißen Sud noch einmal tänzerisch aufbegehrt. Und auch Geklautes wird an Bord geboten: Etwas der Tanz der Kellner, der sein geniales Vorbild in Louis-de-Funes-Film "Le Grand Restaurant" von 1966 hat. Oder das Stück mit G von Heinz Ehrhard, in dem die Protagonisten nur Worte verwenden dürfen, die mit G beginnen. Alles nur geklaut – meist aber ziemlich gut. 

Und natürlich darf eine Tombola nicht fehlen, deren Hauptpreis eine kleine Rolle in einer Szene ist. Kreuzfahrt-Animation interaktiv. Moderiert und schön zusammengehalten von Birgit Bücker als Chef-Stewardess mit herbem Charme und rauchiger Stimme. An ihrer Seite stets Anna Blumer als roboterartige Verkörperung dienstbeflissener künstlicher Intelligenz, überzeugend mit allerhand Kurschlüssen serviert. Das war's dann aber auch schon mit dem erkennbaren Gegenwartsbezug. Der Rest ist eine saftige Collage aus konsequenter Realitätsflucht. Dafür passt die Kreuzfahrt-Metapher gerade in Zeiten von Krieg und Desaster bestens: sich auf ein Boot einzuschiffen, dessen einzig denkbare Katastrophe zu warmer Champagner sein könnte.

Und Jonas Knecht als Kapitän? Erscheint dann doch noch im Schlussbild. Angehimmelt und angeschmachtet von Ensemble und Zuschauern. Wem ein solcher Abschied bereitet wird, sollte sich's besser nochmal überlegen, ob er nicht doch bleibt. Das tobende Premierenpublikum hat ihm sogar seinen Gesang verziehen.

Zwischen den Welten
von Barbara-David Brüesch und Michael Flury
Inszenierung: Barbara-David Brüesch, Bühne: Damian Hitz, Kostüm: Sabine Blickenstorfer, Kostümassistenz: Sarah Bigler, Musikalische Leitung: Michael Flury, Choreografische Mitarbeit: Stefan Späti, Dramaturgie: Anja Horst, Regieassistenz: Maren Watermann.
Mit: Birgit Bücker, Anna Blumer, Tabea Buser, Diana Dengler, Anja Horst, Pascale Pfeuti, Anja Tobler, Maren Watermann, Tobias Graupner, Christian Hettkamp, Jonas Knecht, Fabian Müller, Marcus Schäfer, Julius Schröder und Stefan Späti, Live Musik: Michael Flury, Lukas Langenegger, Nicolas Stocker.
Uraufführung am 25. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.theatersg.ch


Kritikenrundschau

Man könne diesen Abend "einigermassen entspannt und amüsiert geniessen, ohne zu sehr ins Grübeln zu kommen", schreibt Bettina Kugler im St. Galler Tagblatt (27.5.2023). "Ja, die Wellen werden zwischendurch theatralisch schaukeln und schäumen, auch die Spitze des Eisbergs wird mit frivoler Lust angepeilt und voll getroffen werden, damit ein bisschen Weltuntergangsstimmung aufkommt." Doch alles in allem sei "Zwischen den Welten" eine "geradezu rührend fröhliche Produktion: ein heiter-verspielter Abend mit der Träne im Knopfloch".

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