Die Gerechten - Werner Düggelin inszeniert Camus mit pädagogischem Eros
Der Herr Graf wagt ein Täzchen
von Andreas Klaeui
Zürich, 14. März 2009. Camus neu entdecken? Werner Düggelin scheint es im Moment zu wollen. Nachdem er erst im Herbst den Roman "Der Fremde" mit zwei Schauspielern auf die Bühne des Theaters Basel gebracht hat, inszeniert er nun schon wieder einen Camus im Zürcher Schauspielhaus: "Die Gerechten", das Stück aus dem Jahr 1949, in dem Albert Camus einen nach wie vor brisanten Stoff verhandelt, nämlich die Frage, wie gerecht Töten und Sterben um der Ideen willen sein könnte.
Er greift dabei auf ein historisches Ereignis zurück, ein Bombenattentat auf den russischen Großfürsten Sergej, den Onkel des Zaren, im Vorrevolutionsjahr 1905. Am kahlen Holztisch sitzt Dora (Cathérine Seifert) und bastelt an der Bombe. Hinter ihr hält der Gruppenchef der "Organisation", Annenkow (Marcus Bluhm), an einem Kontrollschlitz Ausschau – Bühnenbildner Raimund Bauer hat einen kühlen Raum entworfen, wie mitten in der Stadt und doch weitab der Welt, eine Mischung aus Kontrollturm und Bunker, mit etwas Lokalkolorit in Form einer Karte oder einer Ikone und der eisernen Gefängniszellenwand schon im Hintergrund.
Lebenslust der Terroristen
Nacheinander klingeln nun die Gegenspieler an der Tür: Stepan, der Robespierre der Gruppe, der unversöhnliche Utopist, dem Jörg Pohl kurz gefasste Kälte, aber auch fanatisches Gerechtigkeitsfeuer gibt. Und Danton: Janek, der warmblütige "Poet" der Gruppe, gespielt von Jan Bluthardt, der zum Ausdruck seiner Lebenslust gleich mit einem Flamencotänzchen auftritt. Wie Sandro Tajouri, der den unentschlossenen fünften Terroristen gibt, kommt er aus dem Basler Ensemble; sie beide spielten schon in "Der Fremde".
Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen? Janek ist es, der die geplante Bombe nicht wirft: in der Kutsche saßen unerwartet auch zwei Kinder. Aber was sind zwei Fürstenkinder gegen tausend Bauernkinder, die Hungers sterben? Was zählt die konkrete Gegenwart, was eine abstrakte Zukunft? Wie viel wiegt lebende Ungerechtigkeit gegenüber toter Gerechtigkeit? Kann man sich mit dem Töten versöhnen? In dialogischen Gegenüberstellungen setzt Camus Schritt vor Schritt, stellt die Positionen einander entgegen – und bleibt dabei doch so abstrakt wie das Denken seiner Figuren.
Hochdramatische Stoffwahl, untheatrale Anlage
Hier liegt wohl die Crux dieses Abends und die Grundproblematik dieses Stücks: es ist hoch dramatisch in der Stoffwahl, aber gänzlich untheatral in der Anlage. Verglichen etwa mit "Dantons Tod" von Büchner oder "Die Schmutzigen Hände" von Camus' Gegenspieler Sartre, in denen es ja um ähnliche Fragen geht, bleibt dieser Text vor allem als didaktisch in Erinnerung.
Daran kann auch Düggelin letztlich nichts ändern, der Regiemeister der luziden Linien und der strengen Klarheit – er stellt die Positionen mit wünschenswerter Schärfe gegeneinander, er verdichtet die Dialoge, er kürzt (rund neunzig Minuten dauert der Fünfakter in Zürich noch!), und er setzt einen deutlichen Akzent auf die Stränge einer parallelen Liebes-Erzählung, die Dora und Janek verbindet und "über den Hass hinaus" mit Stoff versorgt. Wie ein ausgehungertes Tier stürzt sich da Cathérine Seiferts Dora lauthals auf das Wort: "Liebe!". Dennoch muss man am Ende sagen: Es handelt sich um pädagogischen Eros.
Die Gerechten
von Albert Camus
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Werner Düggelin, Bühne: Raimund Bauer, Kostüme: Francesca Merz, Licht: Markus Keusch.
Mit: Cathérine Seifert, Jan Bluthardt, Jörg Pohl, Marcus Bluhm, Sandro Tajouri, Siggi Schwientek, Imogen Kogge.
www.schauspielhaus.ch
Kritikenrundschau
In seiner Zürcher Inszenierung der "Gerechten" von Albert Camus setze Werner Düggelin auf das Wort, schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (16.3.); Düggelins "schlackenlose Strichfassung" lasse "der Diskussion viel Raum, bis, endlich, die Ideen über die Emotionen stolpern. Jetzt fahren die Worte in die Körper der Schauspieler. Erst im letzten Drittel der knapp 90-minütigen Inszenierung ballt sich die kühle Spannung zum heißsen Schau-Spiel." Düggelin folge dem Text, "ohne ihn in Frage zu stellen. Er stellt die Fragen, die das handlungsarme Stück aufwirft." Und das klinge "befremdlich, bedenklich, gefährlich". Die Zerrissenheit von Camus' Revolutionären dokumentiere Düggelin "mit Genauigkeit und Empathie. Er verurteilt niemanden und erteilt keine Absolution. Das ist die Stärke seiner Inszenierung." Sie helfe freilich "nicht über die Schwachstellen des Stücks hinweg, das sich weigert, ein Lehrstück zu sein, aber doch schwer trägt an seinem didaktischen Ballast".
Düggelin inszeniere mit den "Gerechten" nicht "das dialektischdidaktische Thesen- und Phrasentheater, sondern die Fragezeichen, die Zweifel, die leiseren Momente im rhetorischen Schlagabtausch", meint Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen (16.3.). Auf der "sachlich unterkühlten" Bühne von Raimund Bauer versammelten sich die Sozialrevolutionäre "nicht im dunklen, schmuddeligen Untergrund, sondern im hellen Licht einer Geschichte, die sich als Sackgasse erwiesen hat". Düggelin werte und urteile nicht; er zeige Menschen, "die im Ausnahmezustand der Revolte mit allem, auch mit Gott, abschlossen haben. Nur mit der Liebe nicht." Und so mache Düggelin "aus dem moralisch-philosophischen Lehrstück von Camus ein Kammerspiel versteckter Zärtlichkeit, verdeckter Argumente und untergründiger Spannungen: Jedes überlebensgroße Wort ist eine scheue, vergebliche Liebeserklärung, jedes Pathos eine Ausrede für das politisch Unaussprechliche."
Im Programmheft zur Pariser Uraufführung habe Camus seinen "Respekt" und seine "Bewunderung" für die außerordentlichen Revolutionäre von damals betont, berichtet Peter Müller im Tages-Anzeiger (16.3.). Werner Düggelin teile zumindest den Respekt: Alle Figuren nehme er ernst, keine stelle er bloß. Seine Inszenierung sei rank und schlank: "Viel Text des redseligen Camus wird gekappt, sein Pathos gedämpft, seine Papier-Poesie beschnitten. (…) Man steht, sitzt, debattiert, wechselt Standpunkte, man zappelt mit den Fingern, ballt nervöse Fäuste. Das vorzügliche Ensemble nimmt sich zurück, feilt die Argumente, selten platzt ein Schrei heraus. Distanz ist angesagt." Wirklich lebendig werde "die nach klassischem Muster verfertigte Tragödie allerdings auch so nicht".
In der Frankfurter Rundschau (17.3.) meldet sich Peter Iden zu Wort. Die Inszenierung hätte, schreibt er, "abheben können auf Probleme des religiös begründeten Terrorismus. Aber Werner Düggelin ist kein direkt politischer Regisseur. Es interessiert ihn an den Konstellationen bei Camus, wie Menschen sich behaupten und entscheiden, und zwar in Situationen, die sie einem extremen existenziellen Druck aussetzen". Die Frage nach der "Gerechtigkeit der revolutionären Taten" etwa werde von Dora, einer Atheistin, "klarer gestellt und beantwortet als von den anderen: Wer nicht bei einer jenseitigen Instanz auf Gnade hofft, weil er eine solche Instanz nicht voraussetzt – kann Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit nur unter den Umständen beurteilen, die realiter gegeben sind. Das macht die Entscheidung wesentlich und endgültig." Die Bühnenhandlung sei "eine Auseinandersetzung nachdenklicher Gedankenspieler". Zwar hätten die Terroristische echte Taten vor und führten sie auch aus. "Doch sind sie vor allem immer fragend befasst mit sich selbst."
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