Woyzeck - Stefan Pucher remixt Georg Büchners Dramenfragment in diversen Ton- und Videospuren
Wie ein offenes Rasiermesser
von Andreas Klaeui
Zürich, 13. September 2013. Eine Hinrichtung. Stefan Pucher inszeniert "Woyzeck" in Zürich als Enttäuschung zum Tod, durchexerziert an diesem weichen, willigen Woyzeck (Jirka Zett), der anfangs beflissen von der Hauptmannsrasur zu Arzttermin hetzt, wortlos über den Kampfdrillparcours robbt, alle erdenklichen Schläge einsteckt, und am Ende den Mordgedanken fasst.
Bühne der Desillusionierung
Eine Bühne der Desillusionierung haben Stéphane Laimé und Katharina Faltner aufgebaut, zusammengebastelt möchte man sagen: ein Bric-à-Brac quer durch die ganze Schiffbauhalle, ein heilloses Durcheinander der Zerstörung und der Verramschung auf fragmentierten Ebenen, ein wüstes Sammelsurium von Kuriosa, Militaria, Helvetica und Leftovers, notdürftig zusammengehalten durch die Klammer zweier doppelstöckiger Kasernenbetten links und rechts, in die sich Woyzeck und Andres (Johannes Sima) gelegentlich verkriechen.
Gewichste Stiefel in Reih und Glied, ein Schlachtenmodell, vor dem der Tambourmajor manchmal sitzt und mit Flugzeugeinschlägen hübsch Staub aufwirbelt, ein Gehenkter als Standboxsack, ein Parkett aus leeren Erbsen-Büchsen. Haarbüschel am Boden, ein hochpumpbarer Friseurstuhl, ein Folterkrankenschragen, ein Fötus im Glas. Eine Soldatenstube, eine Kanzel, ein Krankenzimmer, eine Küche, in der Marie (Henrike Johanna Jörissen) in ihren Aufreizstrümpfen sitzt und Kartoffeln schält.
Abteilung Emotion
Disparat und fragmentiert ist diese Woyzeck-Welt kurz vor dem Auseinanderbrechen. Videobilder von Kriegsgewalt und Zerstörung leuchten darüber (von Meika Dresenkamp); immer wieder mal öffnet sich auch das mittige große Tor zur Straße, in die Stadt, Zürich, "nice and clean" wie Andres in seiner Fassung des Hasen-Lieds singt, "sehr happy" als "immigrant in Switzerland", wie einst Georg Büchner in seinen letzten Monaten, als er an "Woyzeck" schrieb.
Das Stück ist ja voll mit kurzen Versen, Volksliedstrophen – in Zürich sind sie neu gedichtet, neu vertont, live auf der Bühne: Wie stets bei Stefan Pucher kommt der Musik eine zentrale Funktion für die Inszenierung zu; in der Pucher'schen Arbeitsteilung übernimmt sie so was wie die Abteilung Emotion. In den puristischen Songs von Christopher Uhe, mit der Sängerin Becky Lee Walters, den zwei Musikern und dem durchweg sehr musikalischen Ensemble ist die Empfindungswelt gleichermaßen schnörkellos und eindringlich.
Von Unort zu Unort
Überhaupt das Ensemble: Es fällt auf, wie einhellig in dieser Inszenierung alle zugange sind. So dekonstruierend der Erzählvektor, so disparat das Milieu, so harmonisch der gemeinsame Auftritt. Vom kläffenden Hauptmann (Lukas Holzhausen) zum grinsenden Arzt (Robert Hunger-Bühler), vom aufsässigen Burschen (Ludwig Boettger) zum psychedelischen Tambourmajor (Jan Bluthardt) – und immer auch dabei, nur wenig abgehoben, nonchalant abgeklärt, der Narr (Irm Hermann) mit seinem Desillusionierungsmärchen vom Mond, dem Faulholz, und der Sonne, der verwelkten Blume, und der Erde, dem umgestürzten Haferl.
Gefügig huscht Woyzeck von Unort zu Unort, den Rücken aufgespannt wie jenes "offene Rasiermesser", mit dem ihn der Hauptmann vergleicht. Steckt die Schläge ein, kniet vor uns mit ausgebreiteten Armen wie ein "Ecce Homo". Und wird am Ende ganz leer und ganz hart.
Woyzeck
von Georg Büchner
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Stéphane Laimé, Katharina Faltner, Kostüme: Marysol del Castillo, Musik: Christopher Uhe, Video: Meika Dresenkamp, Licht: Gerhard Patzelt, Dramaturgie: Andreas Karlaganis.
Mit: Jirka Zett, Henrike Johanna Jörissen, Jan Bluthardt, Robert Hunger-Bühler, Lukas Holzhausen, Johannes Sima, Isabelle Menke, Ludwig Boettger, Irm Herrmann. Musiker: Roger Greipl, Christof Hipp Mathis, Becky Lee Walters. Live-Kamera: Jörg Hurschler. Kinder: Chiara Albert, Jasleen Bal, Angelina Isufi-Steiner, Colin Rusterholz.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.ch
Woyzeck-Inszenierungen der letzten Zeit: an den Münchner Kammerspielen von Barbara Wysocka inszeniert, in Mülheim von Roberto Ciulli, am Zürcher Neumarkt von Yannis Houvardas. David Böschs Stern ging 2007 mit Woyzeck in Essen auf.
Eine raue, wilde, auch unfertig wirkende "Pop-theatralische Version" des "Woyzeck" hat Barbara Villiger Heilig von der Neuen Zürcher Zeitung (15.9.2013) gesehen. "Unkoordiniert, improvisiert, zufällig wirkt manches – und hat trotzdem seinen lässigen Charme." Pucher gebe mit "quasi wagnerianischer Opulenz" ein "postmodernes Arme-Leute-Stück", das über die Songs "Georg Büchner freilich streckenweise zu vergessen droht." Statt nach "authentischer Armut" sehe vieles nach "modischer Wohlstandsverwahrlosung" aus. "Gerade deshalb passt es vielleicht in unsere Stadt."
Stefan Pucher gehe wieder mal in die Vollen, schreibt Martin Halter in der FAZ (16.9.2013). "Popsongs, Riesenvideos und hyperaktive Bilder von Fäulnis, Zerstörung und Tod fragmentieren und zerstückeln Büchners geniales Fragment bis auf die Knochen." Nicht Woyzeck, "bei Jirka Zett ein eher netter, sanfter und gar nicht so dummer Irrwisch", sei der Held des Abends, sondern Stéphane Laimés kolossal vollgerümpelte Bühne, auf der immerzu etwas los sei. Robert Hunger-Bühler traktiere als dämonisch grinsender Dr. Frankenstein zwischen dampfenden Phiolen und in Alkohol eingelegten Föten den "interessanten Casus" mit einseitiger Ernährung. "Marie, lasziv in Netzstrümpfen, kocht Gemüsesuppe für ihren Liebhaber und babbelt Hessisch." Jan Bluthardt gebe den Tambourmajor als feschen Glam-Rocker, Blechsoldaten-Berserker und reißenden Alphawolf. Irm Hermann rieche als Narr eindrucksvoll Blut und Menschenfleisch und erzählt das Märchen der Großmutter so trostlos, dass es dem Teufel graust. "Puckre dreht den armen Teufel Woyzeck so wüst und wild durch den Fleischwolf, dass hinten eine Vielzahl kraftvoller, anarchisch bunter Szenen, aber keine Figur und kein Stück herauskommen."
"Die Kostüme sind schrill, die Musikeinlagen laut, die Videoprojektionen dominant", schreibt Klara Obermüller in der Welt (16.9.2013). Durch dieses Chaos voller Fallstricke und Hindernisse stolpere Jirka Zetts verstörter Woyzeck in schmutziger Unterwäsche "und führt uns den ganzen Jammer eines missbrauchten und an sich selbst irregewordenen Menschen vor." Schneiden wie an einem "offenen Rasiermesser" könne man sich an diesem Woyzeck gleichwohl nicht. "Dafür war die Inszenierung zu üppig. Das war zwar schön fürs Auge." Der kalten Verzweiflung von Büchners Stück werde es nicht unbedingt gerecht.
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