"... und du verbesserst die Welt"

von Johan Simons

Wien, Oktober 2013. Um darüber sprechen zu können, was ich unter einem "Theater der Nationen" verstehe, muss ich einen Bogen schlagen zu meiner familiären Geschichte. Denn woher mein Gefühl für die Welt kommt, hat viel mit meiner Kindheit zu tun. Das Gefühl, dass ich, obwohl meine Kindheit sich in einer kleinen Welt abgespielt hat, nämlich in einem Dorf, trotzdem einer enorm großen Welt angehörte. Ich, Johan Simons, Dorfstraße 83, Heerjansdam, Insel Ijsselmonde, Süd-Holland, die Niederlande, West-Europa, später Europa, nördliche Halbkugel, Erde, All. Es ist das Gefühl, dass ich noch immer erfahre, wenn ich in Varik bin, wo ich wohne und auf dem Deich stehe und in den Himmel schaue. Ich bin still und winzig. Vor allem, wenn die Sonnenstrahlen durch die Wolken auf den Boden fallen. Gott auf Erden, sagt man dann. Obwohl ich nicht mehr daran glaube, dass es so einen Gott gibt. Leider.

Als ich sieben Jahre alt war, 1953, gab es noch einen Gott. Er zeigte sich mir an einem Morgen. Was tags zuvor noch eine große Graswiese war, war an jenem Morgen eine enorme Wassermasse. Das war ein Wunder. An jenem Morgen bewies Gott seine Kraft. Es sah großartig aus. Natürlich war es schrecklich was passiert war, der Deichbruch, aber das was ich sah und fühlte, war unglaublich.

watersnood flutkatastrophe niederlande 1953 wikipedia"Watersnood", die schwere Nordsee-Sturmflut von 1953 in den Niederlanden 
© Wikimedia Commons
Wir lebten damals noch nicht mit der Idee, dass die Menschen zum Mond fliegen konnten. Der Fernseher war kaum erfunden. Es gab die Kirche, es gab die Schule, es gab die Familie, es gab die Natur.

Das Gefühl, ein kleiner Teil eines großen Ganzen zu sein, ein Atom in einem unendlichen Universum, das ist geblieben. Den Glauben an einen guten Gott, der alles übersieht und überwacht, der belohnt und bestraft, den habe ich schon als Kind verloren.

Suche nach dem Gefühl der Befreiung

Die Renaissance ist meiner Meinung nach die vielleicht wichtigste Kulturwende im alten Europa. Die Menschen bestehen aus dem gleichen Stoff wie alles andere. Wir sind Teil der natürlichen Ordnung. Wir können und sollen ein moralisches Leben führen, ohne, dass wir mit Lohn gelockt oder mit Strafe nach dem Tod erschreckt werden sollen. Es ist nicht einfach, aber es ist möglich, an der sterblichen Welt unser Genügen zu finden. Es gibt keine Chance, die Natur zu überwinden, es gibt keine Rechtfertigung für Träume grenzenloser Macht oder vollkommener Sicherheit. Es gibt nur die Suche nach einem Gefühl der Befreiung, die Kraft, auf das herabzublicken, was so unerträglich scheint. Etwas nämlich können wir Menschen, und wir sollen es auch tun: unsere Ängste bezwingen, akzeptieren, das wir selbst und alle Dinge verschwinden werden.

Wenn etwas uns, oder mir, dabei helfen kann, ist es Kunst. In der Kunst, in meinem Fall besonders im Theater und in der Musik, findet viel Wichtiges statt. Kunst ist der Raum der
Lust des Denkens, der Sinnlichkeit, der temporären Verliebtheit. In Kunst findet Widerstand statt, in der Kunst können wir Künstler versuchen, kleine Abweichungen der Elementarteilchen zu verursachen. Kleine Abweichungen in der täglichen Ordnung, Experimente im Denken und in der Körperlichkeit, die der Beweis unseres freien Willens sind. Unser freier Wille gegenüber dem gesellschaftlichen Mittelmaß, gegenüber dem Kapitalismus, gegenüber dem Populismus. Widerstand gegen unser Schicksal, gegen das Gefühl von Machtlosigkeit, das uns allzu häufig überfällt.

Was hat das alles mit Europa zu tun, mit dem Auftrag eines Intendanten?

Neu genetzwerkter Kontinent

Alle sagen immer Europa ist ein alter Kontinent, aber Europa ist ein neuer Kontinent. Es gibt neue Grenzen, neue Flugverbindungen, es gibt neue Touristenströme, neue Zentren, neue Farben auf der Straße. Neue Korridore verbinden Länder und lassen Städte zu Nachbarstädten werden: Paris - Köln, München - Prag, Wien - Budapest, Tallinn - Helsinki, Berlin - Warschau. Die Geographie von Nähe und Ferne hat sich geändert: Meisterwerke der Ingenieurskunst wie Brücken und Tunnel und Billig-Airlines sind wie Klammern, die Europa fester denn je zusammenhalten. Eine neue Generation von Studenten und Künstlern geht auf eine total komplexlose Art mit unserem kleinen, neu genetzwerkten Kontinent um - sie bewegen sich unverzagt bis und weit über seinen Grenzen. Die baltischen Ländern haben sich zu hoch aktiven, innovativen, furchtlosen Zentren von Gegenwartskunst entwickelt. Die
chinesische Kunstszene steht Schmiere, lädt europäische Künstler ein, organisiert Koproduktionen und Gastspiele, wird in den nächsten Jahren nur noch präsenter und
wichtiger werden - genau so, wie die afrikanische und südamerikanische Szene.

kongress burgtheater air europa wikimediaBillig-Airlines lassen den Kontinent zusammenrücken
© Wikipedia
Es wird darüber geredet, wie es weiter gehen soll – mit unserem Europa, das wirtschaftlich kräftig aus dem Zentrum geschleudert wurde, in welchem viele unterschiedliche politische Meinungen und Einflüsse wirksam sind. Wenn der Übergang aus dem alten in den neuen Zustand bisher mehr oder weniger auf eine zivile Weise abgelaufen ist, dann weil Panikreaktionen und Hysterie ausgeblieben sind. Nicht die utopischen Visionen oder Lehrbuchrezepte, sondern ein irgendwie Zurechtfinden in unklaren Situationen, war der Schlüssel zum erfolgreichen Krisenmanagement in den letzten Jahrzehnten. Improvisation ist das Gebot der Stunde. Vertraute Routinen sind nicht mehr. In Krisensituationen werden nicht nur Ängste mobilisiert, sondern auch Fähigkeiten gefördert. Es werden neue Dinge möglich. Zumindestens, das glaubt man. Darauf hofft man.

Theater als Versuchskammer

Es wird auch darüber geredet, wie das deutsche Stadttheatermodell sich in diesem neuen Europa weiter entwickeln sollte. Oder wie ein modernes 'Theater der Nationen' aussehen könnte. Ein Theater, das sich international ausrichtet, mit Regisseuren und Schauspielern
aus unterschiedlichen Ländern arbeitet, das unterschiedliche Produktionsweisen und Ästhetiken entwickelt. Für mich ist das internationale, europäische Theater ein Modell im Umbruch, eine Versuchskammer. Jeder Tag hat seine Krise und seine Missverständnisse.
Unser Klima, in der Gesellschaft wie auch im Theaterbetrieb, ist von Aktionismus geprägt. Vieles wird nur deshalb unternommen, damit etwas geschieht. Ich mag dagegen sehr die Strategie der Ruhe, der Unverstörbarkeit, als Medizin gegen der Krise. Schauen, wie sich die Dinge entwickeln und erst dann eingreifen. "Keep calm and stay alive." – "Be chill, don't kill."

guardian 300 fortress europa guardianDie Festung Europa accoding to The GuardianIch habe es meinen Mitarbeitern übrigens verboten, das Wort 'Katastrophe' zu benutzen. Wenn man als Nothelfer in der dritten Welt arbeitet, kann man über Katastrophen sprechen. Aber im Theater nie. Lampedusa, DAS ist eine Katastrophe. Vor circa hundert Jahren wanderten Millionen von verarmten Engländern, Iren, Deutschen, Italienern, Juden, Niederländern nach Amerika um dort in einer neuen Welt dem Glück nachzustreben. "The Pursuit of Happiness", das schönste Basisrecht auf der Erde, wurde im zweiten Satz der
Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung aufgenommen. Und heute halten wir daran fest, dass nur eine Festung Europa unseren Wohlstand garantieren kann. Es ist unsicher, ob sich die Geschichte unsere Generation auf eine freundliche Art erinnern wird ...  Auch das ist nämlich 'Europa': ein ängstlicher Kontinent, der sich trotz einer inneren Öffnungsbewegung nach außen schließt und sich unbarmherzig und selbstsüchtig aufstellt und zuschaut wie
die Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken.

Sich gegenseitig an die Wand spielen

Ein Theater der Nationen' in diesem Europa, in diesem Kontinent mit vielen Gesichtern, das ist für mich ein Theater, in dem ein Belgier und ein Este zusammentreffen und eine Performance über Liebe auf Distanz und körperliche Nähe machen. Ein Theater, wo Finnen, Ungarn und Deutsche zusammen einen Roman von Dostojewski inszenieren und sich unterwegs in kulturellen und sprachlichen Missverständnissen verlieren. Die finnische Sprache, ohne Konjunktive und sogar ohne Pronomen, aber voller schwarzem Humor und Understatements, ist meilenweit von der diplomatischen, vielfältigen deutschen Sprache entfernt.

Ein Theater der Nationen', das ist ein Theater wo ein Stück sich abwechselnd in Deutschland, Estland und England abspielt und wo drei Ensembles aus den unterschiedlichen Ländern mit deren unterschiedlichen Auffassungen und Spielstilen versuchen, sich gegenseitig an die Wand zu spielen. Ein Theater, auf dessen Bühne jetzt schon drei Jahre lang Deutsch in belgischen, holländischen, estnischen Akzenten zu hören ist. Ein Theater, das dennoch nicht
krampfhaft versucht, so viele Projekte wie nur möglich mit einer internationalen Sauce zu garnieren. Die Internationalität, die ich meine, ist kein Auftrag, keine Pflichtnummer.

threekingdoms 560 arnodeclair hpfl"Three Kingdoms" von Simon Stephens, inszeniert von Sebastian Nübling in Talinn, München und London 2011  © Arno DeclairUnsere Internationalität basiert auf Begegnungen zwischen Künstlern wie Alvis Hermanis und Alain Platel, auf Wanderlust und auf Risikofreude. Es ist eine organische Internationalität, typisch für den Zustand unseres Kontinents: es ist ein Zustand, in dem sich der unglaubliche Reichtum an Kulturen zeigt, und ebenfalls die Menge an möglichen Konflikten und Irritationen. Man muss lernen, mit diesem Zustand umzugehen. Das Ensemble sowie die Verwaltung; die Theaterleitung sowie das Publikum. Obwohl, wenn wir über das Publikum sprechen, es eindeutig mein Eindruck ist, dass die Zuschauer das Feuerwerk an unterschiedlichen Sprachen und Spielweisen einfach lieben, vor allem wenn sie in einer Inszenierung wie "Three Kingdoms" aufeinander krachen und einander und sich selbst relativieren und in eine große, europäische Perspektive übergehen.

Man muss sein Leben verbessern

Als Intendant mag ich die Renaissance-Idee, über die ich gerade sprach. Unser Leben ist, wie alle anderen Formen im Universum verletzlich. Alle Dinge, auch die Erde selbst, werden sich irgendwann in die unsichtbaren Teilchen auflösen, aus denen alles aufgebaut ist, aus denen sich dann wieder andere Dinge bilden können. Solange wir aber leben, sollte uns das mit tiefer Lust erfüllen. Peter Sloterdijk finde ich in diesem Sinne einen echten Renaissance-Menschen, indem er sagt: man muss sein Leben verbessern. Der Mensch ist dazu programmiert, sich selber und seine Umstände dauernd zu verbessern, zu perfektionieren, auch wenn das Mühe und Energie kostet. Auch wenn es eigentlich im Licht des großen Ganzen vollkommen sinnlos ist. Aber es ist wohl das, was ich von meinen Mitarbeitern hinter und auf der Bühne, den deutschen, holländischen und allen anderen, erwarte und verlange: ein Prozess des ständigen Lernens und der Selbstverbesserung.
"Fange bei dir selber an, und du verbesserst die Welt!"

 

johan simons 65 hln beJohan Simons, geboren 1. September 1946 in Heerjansdam, in den Niederlanden, ist Tänzer, Schauspieler und Regisseur. Seit 1985 Direktor von ZT Hollandia, Europäischer Preis für Innovation im Theater im Jahr 2000 gemeinsam mit Paul Koek. 2005 Leiter des NTGent und seit 2010 Intendant der Münchner Kammerspiele, 2015 bis 2017 künstlerischer Leiter der RuhrTriennale (Foto: hln.be).

 

 

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Kommentare  
Simons' Nationentheater: Sloterdijk?
Warum ausgerechnet Peter Sloterdijk mit seinem Rilkeschen Befehl "Du musst dein Leben ändern"? An wen richtet sich das? In welche Richtung muss "verbessert" und "perfektioniert" werden? Warum ausgerechnet der Sloterdijk, welcher beim Thema "soziale Gerechtigkeit" mittlerweile nur noch auf den Großmut einiger Vermögender setzt, anstatt sich für eine tatsächliche soziale Umverteilung im Sinne einer bedarfsorientierten Ökonomie von unten (Gemeingüter usw.) einzusetzen?

Zum Thema globales Umdenken würde ich nicht auf Sloterdijk, sondern stattdessen lieber auf Slavoj Zizek setzen:
http://www.youtube.com/watch?v=lLPykx8fypg
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