Auf den Brettern der Welt

6. Oktober 2023. In ihrem neuen Buch "Auf den Brettern der Welt. Das Deutsche Theater Berlin" erzählt Esther Slevogt anhand eines Theaters, seiner Stoffe und Protagonist*innen anderthalb Jahrhunderte deutscher Geschichte. Wir veröffentlichen Auszüge zum DT in den 1950er Jahren, als es Staatstheater der DDR geworden war.

Von Esther Slevogt

Das Deutsche Theater Berlin, 1953 © Eva Kemmlein | Bundesarchiv CC-BY-SA 3.0

VI. Zwischen den Stühlen der Systeme

In den 1950er Jahren befand sich das Staatstheater der jungen Deutschen Demokratischen Republik in der paradoxen Situation, dass es einerseits kulturelle Leitbilder für diesen neuen Staat formulieren sollte und wollte, sich sogar als dessen wesentliches Zukunftslabor begriff, andererseits aber in einem noch ungeteilten Berlin mit seinen offenen Grenzen zu bestehen hatte. Denn die Teilung der Stadt war auf ideologischem und politischem Feld zwar vollzogen, doch die Realität ihrer Bewohner war eine ganz andere.

Nach wie vor konnten die Berlinerinnen und Berliner relativ problemlos von einer Stadthälfte in die andere gelangen. Eine S-Bahn-Fahrt kostete zwanzig Pfennig Ost, da die Berliner S-Bahn unter Ost-Berliner Kontrolle stand. So stürzte sich auch die Jugend aus dem Ostteil mit Vorliebe ins von Jazz, Boogie Woogie, Rock'n'Roll und amerikanischem Kino geprägte West-Berliner Nachtleben, dessen einschlägige Etablissements längst ins Visier der Stasi geraten waren, die das Treiben ihrer Staatsjugend dort ebenso aufmerksam wie machtlos verfolgte. Jazz und Rock'n'Roll waren in der DDR als seelen- und hirnvergiftende Importe des Klassenfeindes verpönt. Die Menschen sollten die Höhen der Kultur erklimmen, statt in den Niederungen der Nato-Unkultur[1] und in den Massenprodukten der amerikanischen Kulturindustrie zu versacken, also von einem neuen "Opium des Volkes"[2] benebelt zu werden.

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1958 kam immer noch die Hälfte des Publikums der Ost-Berliner Theater aus Westberlin,[3] auch wenn West-Berliner Zeitungen seit 1951 keine Ost-Berliner Spielpläne mehr veröffentlichten. Auf Grund der großen Popularität der Ost-Berliner Theater in Gesamt-Berlin traten prominente Theaterleiter wie Helene Weigel und Wolfgang Langhoff bei den Wahlen zum West-Berliner Abgeordnetenhaus bis zum Bau der Mauer regelmäßig als Spitzenkandidaten der SED an, die im Westen dennoch nie auf mehr als zwei Prozent der Stimmen kam.

Und so orientierte das Deutsche Theater bis zum Mauerbau sein Angebot nicht allein an den Repräsentationsbedürfnissen der DDR, dessen erstes Staatstheater es nun war, sondern auch an den komplexen Gesamtgegebenheiten der Stadt und ihrer Bewohner. Wolfgang Langhoff hat diese, von ihm bereits in seiner ersten Pressekonferenz 1946 angekündigte Spielplanpolitik vor verschiedensten politischen Instanzen der DDR in den Jahren seiner Intendanz immer wieder verteidigt. Insbesondere vor der Kulturkommission beim ZK der SED, dem zwischen 1957 und 1962 einflussreichsten kulturpolitischen Gremium der DDR. Mitunter trug Langhoff zur Rechtfertigung seiner Politik auch das Argument vor, der Betriebsfrieden im Haus werde durch allzu einseitige Agitation und Ausrichtung der Produktionen zu Gunsten Ost-Berlins gefährdet.[4]

Die komplexe Situation Berlins spiegelte sich auch in der Belegschaft des Deutschen Theaters wieder. Noch Anfang 1959 lebte jeder sechste Mitarbeiter des Theaters im Westteil der Stadt. Eine Tatsache, die von den in West-Berlin wohnenden Schauspielerinnen und Schauspielern gelegentlich als Druckmittel benutzt wurde, um bessere Rollen zu bekommen, wie die Schauspielerin Gisela May berichtet hat. Immer wieder nämlich hätten im Westen lebenden Schauspieler kleine und größere (Liebes-) Beweise ihrer Unabkömmlichkeit in der Schumannstraße verlangt und ansonsten mit Kündigung gedroht, im Ostteil der Stadt wohnende Schauspieler daher in Besetzungsfragen manchmal das Nachsehen gehabt.[5] 

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Handreichungen für den Klassenfeind

In der Atmosphäre der sich verhärtenden Fronten im Kalten Krieg verstand sich das Deutsche Theater mit Blick auf den Westteil der Stadt stets auch als Ort einer sozialistischen Gegenöffentlichkeit, spielte Stücke im Westen verfolgter kommunistischer Autoren, wie des türkischen Dichters und Tolstoi-Übersetzers Nazim Hikmet, oder US-amerikanische Autoren, die in die Mühlen der antikommunistischen McCarthy-Umtriebe und damit auf schwarze Listen geraten waren und nicht mehr arbeiten durften, darunter Lillian Hellmann oder der Dramatiker und Drehbuchautor Irwin Shaw. Shaw war nach seiner Vorladung vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe und der anschließenden beruflichen Ächtung in die Schweiz ins Exil gegangen.

Die von Heinar Kipphardt herausgegebenen Programmhefte[6] jener Jahre sind vielschichtige Dokumente des Ost-West-Spagats des Deutschen Theaters: einerseits sollte der literarische Kanon für eine neue Zeit, einen neuen Staat und ein neues Publikum, eine sozialistische Gegenwartsdramatik entwickelt werden. Andererseits wollte man dem Westpublikum die Sichtweisen des sozialistischen Lagers auf aktuelle politische Konflikte und Themen vermitteln und auch mit dem von der DDR-Kulturpolitik behaupteten Anspruch der Deutungshoheit auf die Werke der Klassik überzeugen. Letztlich musste selbst sozialistische Gegenwartsdramatik auch beim Westpublikum auf Akzeptanz stoßen, um erfolgreich zu sein.

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Im Zuge der Neuvermessung des literarischen Kanons wurde am Deutschen Theater der vom französischen König Ludwig XIV. protegierte Molière als Citoyen, Shakespeare als Dramatiker des Übergangs zum Frühkapitalismus neu entdeckt, an Gotthold Ephraim Lessing insbesondere dessen Herkunft aus der Bergarbeiterregion Niederlausitz hervorgehoben. Denn das war ein besonderes Pfund der DDR: dass sie sich auf Kernland der deutschen Klassik befand. Mochte Adenauers Bundesrepublik 1955 mit der Hallstein-Doktrin[10] auch den Alleinvertretungsanspruch für alle Deutschen angemeldet haben und die diplomatische Anerkennung der DDR durch andere Staaten als feindlichen Akt betrachten: Solange Jena und Weimar auf DDR-Gebiet lagen, Klassiker wie Lessing auf DDR-Territorium das Licht der Welt erblickt hatten, sprach schon die schiere Geografie eine andere Sprache und verlagerte die Bonner Republik an die Peripherie deutscher Literatur- und Geistesgeschichte.

Für das Programmheft von Wolfgang Heinz' Inszenierung der Shakespeare-Komödie "Was ihr wollt“ (Spielzeit 1951/52) schilderte Heinar Kipphardt dem Publikum knapp und griffig den ökonomischen Übergang von der feudalistischen Landwirtschaft zu frühbürgerlich-kapitalistischen Produktionsweisen in der Entstehungszeit des Stücks. Diese Übergangszeit war aus der Sicht der Inszenierung auch Hintergrund der unübersichtlichen Liebesbeziehungen und -händel, aus denen Shakespeare sein komödiantisches Kapital schlägt und bei dem die Vertreter des Feudalismus am Ende naturgemäß unterliegen: weil der geschichtliche Fortschritt über sie hinweggeschritten ist.

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Im hinteren Teil des Programmhefts ist unter einer Zeichnung der ikonografischen Friedenstaube des Künstlers und französischen KP-Mitglieds Pablo Picasso ein Gedicht Heinar Kipphardts abgedruckt, das im Stil Shakespeare'scher Sonette verfasst und "Bruder von drüben, genug jetzt" überschrieben ist: "Bruder genug der zerrissenen Stirnen / Die Netzhaut der Welt ist von Kriegen zerfetzt", wurden darin explizit die Westzuschauer angesprochen und mit Blick auf den Koreakrieg aufgefordert, nicht nur stumme Konsumenten und willige Unterstützer der ausbeuterischen Pläne ihrer Herren zu sein.

In Korea war 1950 der erste bewaffnete Konflikt zwischen den einstigen Alliierten des Zweiten Weltkriegs ausgebrochen – eine neue Eskalationsstufe im Kalten Krieg, die damals in Ost und West große Ängste vor einem neuen Krieg auch in Europa schürte. "Bruder von drüben, genug jetzt / sprich aus was du darüber denkst / Sorge daß Du gefragt wirst / Eh man dich ungefragt henkt", dichtete nun also Heinar Kipphardt. Denn ihr Pendant fand die überkommene Klasse des Tobias von Rülp natürlich im überkommenden System des Westens, dessen Vertreterinnen und Vertretern im Zuschauerraum hier jedoch nun die Hand gereicht wurde, um sie herüber auf die Seite des historischen Fortschritts zu ziehen.

Explizit wurde der Koreakrieg im Stück des französischen Schriftstellers Roger Vailland "Colonel Foster ist schuldig" verhandelt, das im Frühjahr 1953 in der Schumannstraße Premiere hatte und amerikanische Kriegsverbrechen in Korea zur Sprache brachte. Das von John Heartfield gestaltete Programmheft nahm sich mit seinen Texten, Hintergrundinformationen und Schwarz-Weiß-Fotos wie ein Nachrichtenmagazin zum Thema aus. So war es unter anderem mit Fotos amerikanischer Kriegsreportagen ausgestattet, die der berühmten amerikanischen Zeitschrift Life entnommen waren, für die damals so bedeutende Fotografen wie der gebürtige Ungar Robert Capa arbeiteten, der 1954 als amerikanischer Kriegsreporter in Vietnam ums Leben kam.

Die Uraufführung von Vaillands Stück war seiner kritischen Haltung der US-Politik wegen in Paris 1952 von Störern unterbrochen, weitere Aufführungen danach polizeilich verboten worden. Im Deutschen Theater hatte nun der Schauspieler Herwarth Grosse die deutschsprachige Erstaufführung inszeniert und Wolfgang Langhoff die Inszenierung des brisanten Stoffs kurz vor der Premiere zu Ende geführt, zu der aus Paris auch Roger Vailland anreiste. Das Stück handelt von einem Oberst der US-Army, der in den Krieg nach Korea geschickt wird, wo er völkerrechtswidrig einen Kriegsgefangenen erschießt und eine Stadt anzünden lässt. Im Verlauf der Kämpfe wird dieser Colonel Foster von Partisanen gefangen genommen und gibt sich als gemeiner Gefreiter aus, bis er als Kriegsverbrecher identifiziert und mit seinen Taten konfrontiert wird. Am Ende bekennt er sich schuldig.

roger vailland a sa table de travail a meillonnas en mars 1963 au mur une peinture de soulages photos marc garanger 1447704779 1280x640Roger Vailland an seinem Schreibtisch  © Marc Garanger

Intendant Langhoff lasse nichts unversucht, "um das verpflichtende Erbe einer Stätte, an der einst Max Reinhardt gewirkt hatte, restlos zu verspielen", war nach der Premiere in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit zu lesen, die das Stück als "politisches Hetzstück" bezeichnete und den regieführenden Intendanten ebenso wie den Dramatiker Roger Vailland als talent- und charakterlose Opportunisten diffamierte: "Ohne Zweifel hätte das Stück nie das Rampenlicht erblickt, wenn es nicht gerade der Moskauer Propaganda so gelegen gekommen wäre."[11] Dass Kriegsverbrechen wie die im Stück geschilderten auch auf amerikanischer Seite möglich waren, diese Einsicht setzte sich im Westen erst ein gutes Jahrzehnt später mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg durch. Der von der Zeit als talentlos geschmähte Vailland erhielt wenige Jahre später mit dem Prix Goncourt den bedeutendsten französischen Literaturpreis.

Doch legten Inszenierungen des Deutschen Theaters die Finger nicht allein in die Wunden des Klassenfeindes. In der Spielzeit 1957/58 inszenierte Emil Stöhr Erich Maria Remarques einziges Theaterstück "Die letzte Station": eine dramatische Momentaufnahme der unmittelbaren Nachkriegswochen in Berlin in all ihrer Widersprüchlichkeit zwischen alten und neuen Tätern und Opfern, die auch die Doppelrolle der Roten Armee als Befreier von der Nazi-Herrschaft und Verantwortliche für Gräueltaten an der Zivilbevölkerung im Frühjahr 1945 zur Sprache brachte. Anschließend warf die DDR-Kulturpolitik dem Deutschen Theater "antisowjetische Entgleisungen" vor. Denn die ruhmreiche Sowjetunion zu kritisieren, galt in der DDR grundsätzlich als sakrosankt. Trotzdem erlebte Emil Stöhrs Inszenierung des 1956 im Westberliner Renaissance Theater von Paul Verhoeven uraufgeführten Stücks in der Schumannstraße zwischen 1958 und 1959 vierunddreißig Vorstellungen.

Als Wolfgang Langhoff 1956 vor dem Hintergrund der Wiederbewaffnung und dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO[12] Peter Hacks' listige pazifistische Komödie "Die Schlacht bei Lobositz" uraufführte, die 1954 noch in München entstanden war, stichelte das Deutsche Theater damit zwangsläufig auch in Richtung SED-Obrigkeit. Denn 1956 war auch das Jahr, in dem die Nationale Volksarmee der DDR gegründet wurde. Im Jahr zuvor war die DDR unter den Unterzeichnern des als Gegenstück zur NATO gegründeten östlichen Militärbündnisses, des Warschauer Pakts gewesen. "Die Schlacht bei Lobositz“ verhandelte im Mantel eines historischen Stoffes aus dem Jahr 1756 den Krieg als eine "Verschwörung der Offiziere gegen die Menschen".

Abb 15 Kipp Kilger Langhoff EvaKemmlein DTDT-Chefdramaturg Heinar Kipphart, Bühnenbildner Heinrich Kilger und Intendant Wolfgang Langhoff sichten Bühnenbildentwürfe © Eva Kemmlein / Bundesarchiv

Die mit Songs und Musik (Rolf Kuhl) durchsetzte Geschichte handelt vom kleinen Soldaten Ulrich Braeker, der im Siebenjährigen Krieg zwischen Österreich und Preußen lernt, dass Soldat-Sein eine wenig lohnende Angelegenheit ist, da sie meist das Leben oder zumindest kostbare Gliedmaßen kostet, während die Großen in der Regel ungeschoren davonkommen. Gut zehn Jahre nach Kriegsende gehörten amputierte, gelähmte oder sehgeschädigte Kriegsversehrte überall noch zum festen Bestandteil des Straßenbildes. Aus dieser Einsicht zog der kleine Soldat am Ende für sich die Konsequenzen und rief in der Schumannstraße auf offener Bühne zur Desertion auf: "Ich häng mein Flint / An den Weidenbaum in hellen Wind. / Häng, Bruder, deine auch dazu. / Dann hab’n wir alle Ruh." Die westdeutsche Erstaufführung des Stücks hat zwölf Jahre später in Heidelberg der junge Claus Peymann inszeniert.

So fallen im Spielplan des Deutschen Theaters in den Jahren nach 1953 immer wieder Stücke auf, die sich mit den einfachen Wahrheiten jener Jahre in Ost und West nicht zufriedengeben und sich an komplexeren Sichtweisen versuchen. Dazu gehört auch das Stück "Die Dorfstraße" von Alfred Matusche. Matusche, 1909 in Leipzig geboren, gehörte einer Künstlergeneration an, deren Karriere 1933 von der Machtergreifung der Nationalsozialisten abgebrochen wurde, bevor sie richtig beginnen konnte. So war Matusche schon über vierzig, als er 1953 einen ersten Entwurf seines Stücks ans Deutsche Theater schickte, den Heinar Kipphardt aber noch für unspielbar hielt. Das mit seiner dramaturgischen Unterstützung schließlich zur Aufführungsreife entwickelte[13] und 1955 von Hannes Fischer in den Kammerspielen uraufgeführte Stück spielt in den Monaten des Kriegsendes. Schauplatz ist Schlesien, das nun jenseits der neuen deutsch-polnischen Oder-Neiße-Grenze lag, die durch die Westverschiebung Polens im Zuge des Potsdamer Abkommens entstanden war.

Es beginnt im Winter 1944, als ein deutscher Offizier und Gutsherr in den Karpaten auf Zureden eines Partisanenführers einen Zug mit Deportierten öffnet und die Menschen damit vor dem sicheren Tod bewahrt. Dann kehrt er auf sein Gut nahe eines Dorfs an der Neiße zurück, das er bald darauf durch die neue Grenzziehung verliert. Die deutschen Bewohner Schlesiens werden vertrieben, und die Polen aus den an die Sowjetunion gefallenen Teilen Ostpolens nun dorthin umgesiedelt. So ist das Drama über deutsche Schuld und deutsche Vertreibung bevölkert von den Entwurzelten aller Seiten, spielt zwischen polnischen Opfern und Überlebenden, Umgesiedelten, Kriegsheimkehrern, alten und neuen Tätern und deutschen Flüchtlingen, die nicht nur physisch vertrieben wurden, sondern ihre Heimat durch die Verbrechen der Deutschen während des Krieges in einem viel umfassenderen Sinn verloren hatten. In der neuen Zeit können sich alle schwer orientieren. Das Echo von Matusches Drama "Die Dorfstraße“ klingt noch in Heiner Müllers Stück "Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande" nach, dessen erste Skizzen etwa in die Zeit der Matusche-Uraufführung fallen.

Unterwegs zu einer sozialistischen Klassik oder Die Gewässer des Kalten Krieges werden reißender

Auch auf den damals sechsundzwanzigjährigen Müller war Heinar Kipphardt im Zuge seiner Entwicklungsbemühungen einer sozialistischen Gegenwartsdramatik gestoßen. Wie Kipphardt war auch Müller der Sohn eines verfolgten Sozialdemokraten, der für seine Überzeugungen im KZ gesessen hatte. Das gemeinsam mit Inge Müller verfasste Stück "Der Lohndrücker" lehnte Kipphardt ab, doch erwirkte er für Müller beim Kulturministerium ein Stipendium, mit dessen Hilfe das Stück "Die Umsiedlerin" entstand: Anhand einer mecklenburgischen Dorfgemeinschaft – und vier nur lose miteinander verbundenen Geschichten unterschiedlicher Bewohner – verhandelt das Stück den sozialistischen Umbau der Gesellschaft auf dem Land. Ein Stück, in dem es Sätze wie diese gibt: "Kann sein, der Rasen zwischen uns wird Staatsgrenze plötzlich, / man hat schon Pferde kalben sehn aus Politik, / du stehst in Russland und ohne einen Schritt, / ich in Amerika, und Kindermachen auf dem Grenzstrich / ist Export und verboten", die der notorische Fondrak zu seiner Geliebten, der Umsiedlerin Niet spricht, die von ihm schwanger ist.

Aber noch war die Grenze offen. Noch konnte sich niemand vorstellen, dass beide Stadthälften in wenigen Jahren von einer unüberwindbaren Mauer, einer tödlichen Grenze geteilt sein würden. Noch navigierte das Deutsche Theater selbstbewusst durch die immer reißender werdenden Gewässer des Kalten Krieges: zwischen der feindseligen antikommunistischen Skylla der Westkritik, Angriffen und Boykotthaltung der West-Berliner Politik und der Charybdis des Dogmatismus der SED-Funktionäre, die dem führenden Theater der Republik und seiner offenen Spielplanpolitik mit wachsendem Argwohn begegneten. Diesen Argwohn ließen sie in den eigenen Organen in wachsendem Maße auch durch linientreue Großkritiker zum Ausdruck bringen. Doch vorerst spottete man am Deutschen Theater noch darüber: "Jede Zeit hat die Dummköpfe, die sie braucht", schrieb Kipphardt im November 1957 an seine Eltern nach Krefeld über Walter Pollatschek und Fritz Erpenbeck, zwei führende DDR-Kritiker, die Generalangriffe auf das Theater veröffentlicht hatten, "sie erledigen sich in der Regel durch Lächerlichkeit".[14] Noch also blieb man optimistisch in der Schumannstraße und wehrte sich wirksam gegen alle Angriffe aus den eigenen sozialistischen Reihen: in dem Glauben, die DDR und den Sozialismus aus der Position grundsätzlicher Solidarität von innen heraus verändern und gestalten zu können.

 

Slevogt Bretter cover 2dAuf den Brettern der Welt.
Das Deutsche Theater Berlin
von Esther Slevogt

Ch. Links Verlag, 381 Seiten, 25 EUR

 

[1] Diese Bezeichnung stammt von Kulturminister Alexander Abusch, siehe u.a. Protokoll der Sitzung der Kulturkommission 16.2.1959. Bundesarchiv, Bestand SAPMO, DY 30/VI 2/2.109-3, S. 36.

[2] Der Begriff stammt ursprünglich von Karl Marx und bezieht sich auf die von ihm unterstellte narkotisierende Wirkung der Religion.

[3] Diese Zahl nennt der Kulturpolitiker Alfred Kurella am 16.1.1959 im Rahmen einer Sitzung der Kulturkommission beim ((im? des?? Was ist hier die richtige Präposition bzw. Artikel)Ja, "beim ZK“ ist richtig. ZK der SED, deren Vorsitzender er war. Siehe Protokoll, Bundesarchiv Bestand SAPMO DY 30/VI 2/2.109-3, S. 62.

[4]Siehe u.a. Sitzung der Kulturkommission am 16.1.1959. Siehe Protokoll, Bundesarchiv Bestand SAPMO, DY 30/VI 2/2.109-3.

[5] May: Mit meinen Augen, S. 50f.

[6] Lückenlos aufbewahrt im Archiv des Deutschen Theaters.

[7] Die Kulturkonferenz vom 24./25.10.1957 gehört zu einer Reihe von Veranstaltungen, mit denen die SED nach dem Ungarn-Aufstand und den Unruhen in Polen im Januar 1957 einen Schlussstrich unter die Debatten nach dem 20. Parteitag der KPdSU ziehen, die kritische Intelligenz disziplinieren und wieder auf Linie zwingen wollte. Siehe u.a. Schiller, Dieter: Disziplinierung der Intelligenz, in: Hefte zur DDR-Geschichte, Nr. 44, Berlin 1996.

[8] Bundesarchiv Berlin, Bestand SAPMO, DY 30/IV 2/101408, Bl. 171.

[9] Die Kulturkonferenz wurde seit 1957 jährlich vom Zentralkomitee der SED, dem Ministerium für Kultur und dem Deutschen Kulturbund abgehalten. Der hier zitierte Wortbeitrag Wolfgang Langhoffs stammt von der Konferenz des Jahres 1960, die vom 27. bis 29. April im Berliner VEB Elektrokohle abgehaltenen wurde. Transskript nach einer Aufzeichnung des DDR-Rundfunks: Deutsches Rundfunkarchiv Potsdam, Signatur 2022 761, Bd.4.

[10] Die Hallstein-Doktrin ist nach dem damaligen Staatssekretär im Außenministerium der Bundesrepublik Walter Hallstein (1901–1982) benannt und galt von 1955 bis 1969. Unter SPD-Bundeskanzler Willy Brandt wurde in der sozialliberalen Koalition diese Position aufgegeben und die DDR im Zuge des Grundlagenvertrags 1972 diplomatisch auch von der BRD anerkannt.

[11] Korea im Deutschen Theater. Antiamerikanismus auf Langhoffs Bühne, in: Die Zeit, 29.1.1953.

[12] Die BRD war dem 1949 gegründeten Nordatlantikpakt 1955 beigetreten. 1955 wurde auch der Warschauer Pakt gegründet, dem die DDR ebenfalls angehörte.

[13] Siehe auch Kipphardt, Heinar: Vorbildliche Zusammenarbeit, in: Theater der Zeit, 1/1955, S. 6ff. Kipphardt selbst stammte aus einem schlesischen Städtchen, sein sozialdemokratischer Vater wurde nach dem Reichstagsbrand verhaftet und in verschiedenen KZs interniert. Nach seiner Freilassung zieht die Familie ins Rheinland. ((wurde bereits in Kapitel 5 erwähnt))ok!

[14] Brief vom 16.11.1957, in: Kipphardt: Schreibt die Wahrheit!, S. 49. Erpenbecks Angriff war unter der Überschrift "Blutarmes Theater“ am 30.5.1957 im Neuen Deutschland erschienen. Im Namen des Ensembles hatte Kipphardt Erpenbeck – ebenfalls im ND – am 4.7.1957 entschieden widersprochen und ihn scharf angegriffen.

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Welch ein nützliches Buch - nach dem über Wolfgang Langhoff -, das sich aus zwei Perspektiven einem Theater im kalten Nachkrieg widmet und die heutige Frage gestattet: Ist der überhaupt schon beendet?
Buch Deutsches Theater: Hochgenuss
Was für ein begeisterndes Buch - sprachlich ein Hochgenuss, für Fans des Theaters spannend wie ein Thriller, als Spiegel der Zeitgeschichte vor allem des 20. Jahrhunderts überaus klar und oft erhellend. Allein die Recherche-Leistung ist bewundernswert. Dazu kommen die sprachlich brillant gezogenen Verweise in -zig Richtungen, die wohl überlegten Einordnungen von Ereignissen, Bühnenleistungen, Persönlichkeiten … Nach dem schon exzellenten Buch über Wolfgang Langhoff erneut ein großer Wurf der Autorin! Ich hab begonnen zu lesen und konnte das Buch nicht aus der Hand legen. Das auch, weil es enorme Lust auf Theater macht.
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