Das Umarmen der eigenen Mittelmässigkeit

16. Oktober 2023. Die Hamburger Poetikvorlesung beschreitet neue Wege und bittet erstmals eine Schauspielerin um ihre Künstlerposition. Julia Riedler, bekannt aus dem Schauspiel Köln, den Münchner Kammerspielen oder dem Maxim Gorki Theater Berlin, spricht über die Poetik des Spiels.

Von Julia Riedler

Die Schauspielerin Julia Riedler sprach in Hamburg zur "Poetik des Spiels" © Mathias Bothor

16. Oktober 2023. In der Hamburger Poetikvorlesung haben renommierte Theaterautor:innen über sieben Jahre hinweg Einblick in ihr Schreiben gegeben: Kathrin Röggla (2016), Wolfram Lotz (2017), Ferdinand Schmalz (2018), Thomas Köck (2019), Ivna Žic (2020), Miroslava Svolikova (2021), Enis Maci (2022).

Jetzt wechselt die Veranstaltung ihre Perspektive. In das Skript, die Partitur einer Inszenierung schreiben sich auch die Schauspieler:innen ein. Ihr Impuls, ihre Improvisation und Textaneignung machen sie zu Co-Autor:innen eines Theaterereignisses. In diesem Jahr beginnt mit "Poetik des Spiels" eine Reihe, die Schauspieler:innen Zeit und Raum geben soll, ihrem Beruf nachzusinnen, ihn schriftlich zu ergründen.

Julia Riedler gibt den Auftakt. Sie war zuletzt fest an den Kammerspielen München engagiert, arbeitet frei am Schauspielhaus Zürich, am Maxim Gorki Theater Berlin, am Thalia Theater und am Burgtheater in Wien.

Die Reihe der Vorlesungen zu einer "Poetik des Spiels" wird kuratiert von Eva-Maria Voigtländer. Es ist eine Veranstaltung der Hamburger Theaterakademie, gefördert von der Rusch-Stiftung, Hamburg mit Unterstützung der Holger und Mara Cassens Stiftung.

 

 Video

Julia Riedler bei der Hamburger Poetikvorlesung am 14. Oktober 2023
Kamera: HfMT Webcast, Schnitt: Laura Gericke 

 

Podcast

 

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Über das Umarmen der eigenen Mittelmässigkeit

von Julia Riedler

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Permission to suck

– Und da ist sie wieder, die Erwartung.

Eure Erwartung, die meine Bühne ist. Die Kraft der Erwartung ist wie der mächtigste aller Scheinwerfer, sie ist der Scheinwerfer, der vom Publikum gefahren wird, dem Publikum, das in eine Situation des Begehrens gebracht wurde, sich gebracht hat, sich spätestens jetzt bringt. "Ja dann schauen wir mal was das heute wird?!", "Was wird da denn rauskommen, wenn eine Schauspielerin die Poetikvorlesung hält?!", "Ich mag sie eigentlich gerne, aber in dem letzten Stück war sie schrecklich?!", "Warum sagt die denn immer noch nichts?!" – Fragezeichen und Ausrufezeichen vereinigen sich als sogenanntes Interrobang, um aus dem Nachdruck der inneren Frage eine Erwartung zu machen, die, noch unerfüllt, unbefriedigt, eine Situation von Begehren schafft; ihr wollt was, und ich geb's euch, oder auch nicht, vielleicht ein bisschen, ich reize es aus, versuche euch nicht zu verlieren, hallo, aber ich verrate es noch nicht, das Geheimnis, mein Geheimnis, das meiner Figur, das der Inszenierung, der Autorin, des Bühnenbilds, hier wird nämlich gleich von oben, – sieht man's schon? – ein Hubschrauber runtergefahren, an dessen Kufen ich mich dann festhalte und wegfliege, später dann, am Ende, ja, wirklich, glaubt ihr jetzt nicht, aber das versprech' ich euch hiermit, ich habe einen Timer mitgebracht (stellt analogen Timer auf Bühne), 21 Seiten lang geht mein Sprechen, wenn die Null erscheint, kommt auch der Hubschrauber.

Am Anfang ist es das innere Interrobang der Zusehenden, das mich trägt, das Nichtwissen mit Emphase, das die Stille vor meinem Satz laut macht, die Stille, die Erwartungen schürt, aufbaut, und der Satz, der Blick, die Geste, die sie affirmiert oder bricht, ich, die ich damit spiele. Die Spielerin. Die versucht, Fragezeichen und Ausrufezeichen immer beieinander zu halten. Sowohl beim Publikum, als auch bei mir selbst. Mich selbst trotz aller Proben, aller Wiederholungen, die ich hinter mir habe, trotz all meines Wissens, mich meinem Nichtwissen auszuliefern, um darin etwas zu erfahren, etwas zu erleben, das durch die Einbahn eines reinen Ausrufezeichens nicht gelebt hätte, nur dargestellt worden wäre, wie langweilig, für uns alle. Aber auch das reine Fragezeichen eine Sackgasse. Ausdruck einer tatsächlichen Verlorenheit, Unzufriedenheit, die so präsent ist, dass sie alles andere erstickt, nicht aufblühen lassen kann, was man gesät hat, stattdessen dieser innere Nebel, dieser Schleier. Das Fragezeichen der Privatperson, die ihre Figur in diesem Nebel nicht findet, und die Spielerin in sich so verschleiert, dass sie nichts mehr sieht, hört, fühlt, nichts mehr will, die spielerische Intelligenz also besiegt wird vom Fragezeichen der Privatperson.

Die Kraft der Erwartung im Theater ist immens, und wenn ich sie zulasse und erkenne, mit ihr spiele und mich zu ihr verhalte, hilft sie mir, zeigt mir Wege und Richtungen, die ich ohne sie vielleicht nie ergründet hätte. Aber es gibt auch Momente, in denen sie mir zu nahe kommt, ich ihr nicht gewachsen bin, mich ihr ausgeliefert fühle. Es fällt mir dann schwer ihre Schönheit zu erkennen, grell wird sie stattdessen, die Erwartung, entsetzlich, ach diese Erwartung, diese entsetzliche Erwartung, sie wird zum Anspruch, der alles verschlingt, Anspruch der Perfektion, des Gefallens, ein Druck, der meinen ganzen Körper einnimmt und zu einem Korsett macht, dem Korsett des Leistungsdrucks, der mir jegliche Daseinsberechtigung abspricht, wenn ich jetzt nicht abliefere. Genau das abliefere, das geprobt wurde, das, was gesehen werden will, von allen gewollt wird, schon immer gewollt wurde; das Richtige, das Einzige, das Echte, das Beste.

An diesem Punkt tut sich eine Weggabelung auf, schwer erkennbar inmitten des dornigen Gestrüpps der kaputten Erwartungen. Ich weiss, ich kann versuchen mich weiter durchzukämpfen durch dieses Gestrüpp und mich an dem abarbeiten, was von mir erwartet wird, was ich von mir erwarte und versuchen allen und allem zu gefallen, oder ich nehme diesen anderen Weg, den ich noch nicht kenne, der auch so schwer zu erkennen ist, und der bestimmt gefährlich ist, peinlich, platt, daneben, oder noch schlimmer: EINFACH NUR MITTELMÄSSIG!

Meine Kehle schnürt sich zu, der Mund wird trocken. Ich und mittelmässig, das geht doch nicht, das kann doch nicht, das darf doch nicht. Wenn man als Schauspielerin gut sein will, muss man doch besonders sein, auffallen ("sie kam in den Raum und wir wussten alle: sie ist es"), man muss es abfackeln, alle beeindrucken und es bringen:

Jetzt endlich weißt du, dass deine Eltern nur
Dich zeugten, damit du hier wie ein Vollidiot
Fröstelnd und ohne Not über allem stehst
Und nicht vorwärts gehst,
Und nicht vorwärts gehst,
Und du weißt, dass dein Vater sich fragt:
"Wird er's bringen?"
Und deine Mutter sagt "nein"
Und aus endloser Menge erklingen ermunternde Rufe:
"Jetzt musst du springen!"

Jetzt endlich weißt du, was es heißt jung zu sein,
Betrogen vom Augenschein an den Abgrund geh'n,
Halbnackt allein auf schwankenden Brettern steh'n
Und 'runterseh'n, und 'runterseh'n.
Und du weißt, dass dein Vater jetzt sagt:
"Das sind nur drei Meter!"
Und deine Mutter sagt "nein"
Und aus endloser Menge erklingen die Rufe der Väter:
"Jetzt musst du springen!"

– Element of Crime

Ich höre, was von mir gewollt wird, ich höre aber nicht, was ich will, meine eigene Lust ist verschüttet, ich suche es, das Lustprinzip, es soll mir den Weg weisen, aber so einfach ist das nicht, es macht nicht einfach Spass, nur weil man es möchte. Und da verstehe ich mal wieder, dass es nicht der Spass ist, der meine Lust freischaufeln kann, nein, die Lust schaufelt den Spass frei. Aber wer zur Hölle schaufelt nun also die Lust frei?

Kaum zu erkennen ist der Weg der Mittelmässigkeit an der Weggabelung also, klar, grau wie er ist, ist er ja auch ziemlich unscheinbar. Nicht so glänzend wie ich mir das vorgestellt hatte.

"Acting is about being the uncoolest person in the room", formuliert es Jodie Foster treffend. Ich versuche sie mir selbst zu geben, die permission to suck. Denn es ist meine eigene Mittelmässigkeit, die meine Erwartung an mich von ihrem hohen Ross runter beten kann. Ich will sie umarmen, meine Mittelmässigkeit.

OK. Reality Check, die Erste:

Februar 2020, eine Vorstellung von "Die Räuberinnen" an den Münchner Kammerspielen, inszeniert von Leonie Böhm; ich stehe als Karl Moor auf der Bühne, und ich finde mich heute einfach unglaublich langweilig. Bei der letzten Vorstellung fiel mir doch alles so leicht, die Zusehenden waren so glücklich, eine Stimmung wie im Fussballstadium, am Ende Standing Ovations, und heute kommt mir alles so dumpf vor, so unsicher, so fragil, ich bin so langsam im Kopf und ich langweile mich mit mir selbst, jeder Einfall, wenn er denn kommt, ist irgendwie zu spät, irgendwie zu unsicher und fühlt sich an wie der Moment des Aufstehens nach einer Bahnfahrt. Weil man ein höflicher Mensch ist, möchte man sich von der Person, die neben einem sitzt, verabschieden. Aber weil man gleichzeitig auch ein schüchterner Mensch ist, nuschelt man dabei nur ein unhörbares "Tschüss", mogelt sich also schlecht ran an das Idealbild einer netten Verabschiedung, erwischt nur das lausige Duplikat eines "Tschüss", den Schatten, der langsamer war als das Original, das man zu greifen vorhatte, aber Originale lassen sich eben nicht so leicht abgreifen, sonst wären sie ja keine Originale, und die Sitznachbarin hat nicht die leiseste Ahnung davon, welch' inneren Dramen sich in einem abspielen, sie hört die Verabschiedung nicht, kriegt nicht mal mit, dass man aufsteht – und weg war er, der vorgenommene Moment der bürgerlichen Herzlichkeit, wieder nicht erwischt.

So fühle ich mich also gerade auf der Bühne, während mein Karl Moor in die erste Reihe schaut und zu einer älteren Dame in einer schönen, weißen Bluse sagt: "Deine Meinung ist das Orakel, das ich vor Allem zu Rate ziehe, was ich thun will, der Spiegel, durch den ich alles betrachte. Wie findest du mich?" und während die Dame schweigt, schreit es in meinem Kopf: DIE STELLE MUSS WIEDER SO GEIL SEIN WIE BEIM LETZTEN MAL! MACH JETZT WAS EXTREM LUSTIGES! Und mein Körper verhärtet sich, in meinem Kopf überschlagen sich etliche halbgare Vorschläge, die meine Neuronen mir machen: Keinen finde ich gut genug, denn die Erwartung verlangt das beste, nur das beste für Madame bitte. Und schon stehe ich wieder an der Weggabelung und sehe mir zu, wie ich mich selbst ins dornige, dichte Gestrüpp der Erwartungen manövriere und merke, dass ich mich jetzt davon zerkratzen lassen werde, während ich nach außen weiter so tue, als ob ich alles im Griff hätte, als ob ich wunderbar funktionieren würde, obwohl ich etwas ganz anderes fühle. Ein Bühnendasein wie auf Instagram also, außen hui, innen pfui, der Tod der Realness und das Nest der falschen Töne. Und mit ganz viel Verzweiflung gebe ich auf. Gebe nicht mich auf, auch wenn es sich kurz so anfühlt, sondern gebe sie auf, die Erwartung. Ich atme aus, gefühlt zum ersten Mal seit vielen flachen Einatmern, und denke: "Komm her, Mittelmässigkeit, lass' dich umarmen, es tut mir leid, dass ich dich in postpubertärer Arroganz verleugnet habe." Und sage zur schweigenden Dame in der ersten Reihe: "Mir fällt auch nichts ein." Und der darauffolgende Text von Schiller fühlt sich plötzlich wieder richtig an. Weil ich ihn brauche und ihn will, weil er passt. Ich kann mich wieder einlassen auf Karl Moor, weil ich mich auf mich einlassen kann, meine Gefühle und Gedanken zulasse und nicht verstecke, wie uncool ich tief drinnen aussehe.

Weg mit all den Duplikaten

Als Schauspieler*in ehrlich mit sich selbst sein zu können, halte ich für die gewaltigste unserer Künste. Und jede Art von Virtuosität immer ein Stück weit langweilig, wenn sie nicht mit einer Ehrlichkeit sich selbst gegenüber daherkommt. Meine Schwäche kann meine Stärke sein. Das wirklich erkennen zu wollen, und zwar nicht als einmaligen Slogan, den man sich zusammen mit dem Volksbühnen-Emblem auf den Pullover druckt, oder als spätkapitalistische Hülse auf einem Podium über FRAGILITY drischt, sondern als dauerhaften Versuch, in unendlicher Ausführung, der mindestens die Hälfte der Zeit daneben geht. Aber was heißt schon daneben geht. Halt den Mondstein fest und spür' die Kraft der Peinlichkeit. Die Scham ist ein wichtiger Kompass, um dahin zu finden, wo's weh tut, wo's gilt, wo's aus guten Gründen unsicheres Gelände wird, wo etwas Besonderes, etwas Eigenes auftauchen kann. Und das Scheitern ein Pendel, das die Bandbreite von Möglichkeiten absteckt, die Skala von Ausdruck bemisst und unerwarteterweise Neues ermöglicht.

Reality Check, die Zweite:

Spielzeitende 2023, die Proben zu "Noch wach?" von Christopher Rüping am Thalia Theater Hamburg sind gerade sehr intensiv, wir sind alle müde, Christopher auch, trotzdem versuchen wir den Drive nicht zu verlieren, und proben unerbittlich weiter und weiter, immer auf der Suche nach dem Durchbruch zur spielerischen Freiheit, zur Leichtigkeit, zum Flow, der auf präzisen Verabredungen fußt. Heute steht mal wieder mein Monolog auf dem Plan, der Monolog, den ich liebe, der nur im Stück ist, weil ich den Text von Anfang an verteidigt habe, obwohl er, wie vieles an dem Roman, sehr streitbar ist, obwohl Christopher ihn berechtigterweise anfangs unmöglich fand, und ihn dann in großem Vertrauen und Neugier trotzdem als Prolog in die Fassung reingenommen hat. A big responsibilty, konstatiert mir dazu meine Persönlichkeitsstruktur. Ich merke, dass ich heute besonders unkonzentriert bin und Angst habe, dass ich diesen einen Modus den Text zu denken, diesen seltsam angreifbaren Modus der Durchlässigkeit für Sprache, der Haltungen scheinbar zufällig herstellt und von alleine entwickelt, weil der Text ein Echo hinterlässt, das in mir etwas auslöst, diesen mir ob seiner Vergänglichkeit auf jeden Fall auch Angst machenden Modus, an dem ich mich bei der letzten Probe versucht habe, dass ich den heute nicht hinkriege, nicht wiederholen, mich nicht auf ihn einlassen kann. Was ist, wenn ich das auch bei einer oder – Jesus Christ, ich pack's nicht –, allen Vorstellungen nicht hinkriege? Wie tief würde ich stürzen, wenn ich DEN RICHTIGEN MODUS also nicht erwische? Die Angst, sie sitzt bei mir am liebsten in den Oberschenkeln, hat nun Raum bekommen, und lenkt mich wie eine Marionettenpuppe, die auf seidenen Fäden der Willkür ihres Machthabers ausgeliefert ist, auf die Bühne. Ich fühle mich seltsam fremd in meinem Körper, und leer im Kopf. Die Angst, sie ist eine Busenfreundin der Erwartung, rät mir zu Ordentlichkeit, zum genauen Erfüllen der Aufgabe, um möglichst unbeschadet aus der Nummer rauszukommen. Aber ich fühle mich der Aufgabe nicht gewachsen und weil ich weiß, dass ich nur scheitern kann, entscheide ich mich jetzt eben so richtig zu scheitern. Ich spreche den Monolog mit der inneren Trägheit einer Weinbergschnecke, und fast unverständlich leise, mit einem Zittern, das den Rhythmus des Texts auf unangenehm knirschender Weise zerhackt. Da ich mich ohnehin nicht auf den Inhalt konzentrieren kann, probiere ich aus, was passiert, wenn ich mich nur auf mich konzentriere, was sich wahnsinnig eitel anfühlt.

Ich sehe es Christopher an, dass er es seltsam findet, was ich da mache. Aber weil er ein guter Regisseur ist, versteht er, dass ich etwas für mich ausprobiert habe und wirft mir meinen Versuch nicht vor. Er sagt stattdessen, dass er nun verstanden hat, was es braucht für die mutig offene Denk- und Sprechweise, die wir eigentlich suchen, und dass es jetzt zu figürlich war. Ich verstehe, was er meint.

Wenn es ein dauerhaftes Richtig und Falsch auf der Bühne gibt, führt das zu einer bedeutenden Einengung, die zurück in die Schule führt, zu der Gymnasiastin in mir, die eine gute Note schreiben will, die ich persönlich aber ziemlich langweilig auf der Bühne finde.

Julia Riedler

Ich mache das oft. Dass ich mich heimlich dafür entscheide, schlecht zu proben. Da geht es, um Gottes Willen, nicht um eine Sabotage einer gemeinsamen Arbeit, ich meine nicht diesen divenhafte Mittelfinger Richtung Regie, der nach ich-bin-geiler-als-du-darum-zeig-ich-dir-dass-deine-Idee-scheisse-ist stinkt und durchaus Praxis ist in der Bohème mancher deutschsprachiger Schauspielköpfe. Ich empfinde es mehr als Flucht vor einem Krampf in mir, einem Krampf, ausgelöst von diesem Anspruch es richtig machen zu wollen. Wenn es ein dauerhaftes Richtig und Falsch auf der Bühne gibt, führt das zu einer bedeutenden Einengung, die zurück in die Schule führt, zu der Gymnasiastin in mir, die eine gute Note schreiben will, die ich persönlich aber ziemlich langweilig auf der Bühne finde. Um der zu entkommen, muss ich auch dem Leistungsprinzip entwischen, denn Spiel entsteht nicht aus Zwang, weder innerem noch äußerem. Und stattdessen mit dem Lustprinzip flirten.

Dabei spreche ich auf jeden Fall von dem Spiel auf der Bühne und nicht dahinter. Damit ich auf der Bühne so tun kann, als hätte ich von nichts eine Ahnung, muss ich ziemlich gut im Bilde sein, finde ich. Die Vor- und Nachbereitung kann für meinen Geschmack gar nicht zu viel sein, liebe Grüße von der Gymnasiastin.

Manchmal fühlt sich ein neues Angebot auf der Probe extrem anders an, als das, was bereits gefunden war. Aber meistens tut es das nur für mich, für alle andere macht es schnell Sinn. Daran merke ich dann, dass es vor allem ich selbst bin, die gerade dabei war, einer bestimmten Schublade hinterher zu jagen. Wenn ich auf der Probe hingegen die Erfahrung gemacht habe, dass es eine ganze Skala von Möglichkeiten gibt, diese eine Situation zu spielen, hebele ich ein Richtig und Falsch aus, kann mit einer größeren inneren Range spielen und verirre mich nicht in einem dauerhaften Malen-nach-Zahlen.

Das "schlecht Sein" in der Probenarbeit führt mich auch von meiner ersten Interpretation weg, der ersten Idee, die ich hatte, die oft Gefahr läuft das zu wiederholen, was mir ohnehin schon bekannt ist, von mir als Privatperson bekannt, aber auch vom Text, von den Haltungen und Beziehungen meiner Figur, von der Atmosphäre der Situation. Das Scheitern verhindert ein schnelles Erfüllen dieses ersten Entwurfs, und ein sich selbst allzu voreilig einordnen Lassen. Wenn es knirscht, knirscht es auch am vermeintlichen Ideal, an der klassischen Repräsentation, an der gesellschaftlichen Idee, und es wächst stattdessen etwas Eigenes, Persönliches, Ver-rücktes. Oft fühlt sich das ganz hilflos an, als hätte man etwas nicht hinbekommen. Der erste Impuls ist dann, dagegen anzukämpfen und schnell einfach so zu tun, als ob; als ob man etwas spürte, etwas wollte, etwas wüsste – etwas wäre. Aber ich bin davon überzeugt, dass das Nichtwissen eine Chance für etwas Neues ist. Susan Sontag schreibt in "Against Interpretation": "Die Welt, unsere Welt, ist leer und verarmt genug. Weg mit all ihren Duplikaten, bis wir wieder unmittelbarer erfassen, was wir haben."

Ich versuche raus aus meinem eigenen Korsett zu kommen, in das ich mich selbst stecke und gesteckt werde. Ich bin privat jemand, die denkt immer funktionieren zu müssen, irgendeine Art von Kontrolle braucht. Im Spiel aber darf ich sie abgeben, die Kontrolle, kann mich dem Moment hingeben, ohne eine Antwort zu haben. Mit der Kraft ähnlich einer Midlifecrisis, die nicht mehr aufrecht erhalten möchte, worum sie jahrzehntelang gebeten wurde, versuche ich mich selbst zu überwinden, um eine Freiheit zu spüren, mit der ich das Bühnendasein genießen kann. Diese Freiheit des Seins, das sich nicht darum schert verstanden, eingeordnet und gemocht zu werden, kenne ich persönlich nur von der Bühne. Das Bühnendasein ist für mich eine Art Gegenentwurf zur Wirklichkeit, leicht verschoben von meiner alltäglichen Realität. Ein gelebter Möglichkeitsraum. Irgendwie ist man vertraut mit dem, was auf der Bühne stattfindet, aber irgendwie ist es auch ein bisschen anders. Die Bühne als völlig artifizielles Medium, wo die Welt und die Geschichten, die wir von ihr erzählen, die Momente, die wir zeigen, die Menschen, die darin auftreten, irgendwie immer ein bisschen anders sind, als man sie kennt, als man sie erwartet, als man gedacht hatte. Natürlich, aber nicht naturalistisch.

Diese Differenz zwischen den Wirklichkeiten mit eigens gefundener Sinnlichkeit und Selbstverständlichkeit zu füllen, da beginnt für mich das eigentliche Theaterspiel. Als Hommage an die Lüge, die, umarmt von einer hingebungsvollen Art, zur Wahrheit wird.

Schon wieder nichts im Griff

Für mich ist Theater ein unendlicher Möglichkeitsraum von Begegnung. Und wir Theaterschaffende prägen die Arten der Begegnung. Jede einzelne künstlerische Produktion entscheidet sich auf einer bestimmten Weise zu sein, zu sprechen, zu denken, miteinander umzugehen. Die fiktive Ebene und die reale Ebene des Miteinanders gelten dabei gleichermassen. Diese bestimmte Weise, dieses sinnliche WIE aufzuspüren und zu definieren, immer wieder neu in jeder Theaterproduktion, immer anders, je nachdem wer sich zusammenfindet, steht für mich an erster Stelle im Probenprozess. Es ist das WIE, das auf der Bühne zum WAS wird. Darum werden wir Schauspieler*innen immer die unmittelbarsten Vermittler im Theater sein, denn wir haben es letztlich in der Hand, ob und wie dieses WIE sich den Raum nimmt, sich anfühlt, sich gestaltet, ob es das Publikum erreicht oder nicht. Ob es zur Ansteckung anstiftet, oder nicht.

Denn darin sehe ich die größte politische Kompetenz des Mediums Theater: Das Potenzial der Ansteckung. Die Ansteckung zu einer anderen Möglichkeit des Seins und des Miteinander.

Theater kann die Realität verändern, weil es seine Zusehenden verändern kann. Auch wenn es nur bis zur Autofahrt nach Hause reicht. Aber eventuell haben sich in der Zwischenzeit schon neue Synapsen im Gehirn geschlossen.

Reality Check, die Dritte:

Die dritte oder vierte Vorstellung von "Antigone" am Maxim Gorki Theater von Leonie Böhm. Die Presse hat die Premiere zerrissen, das Stück, das wir höchstens einmal im Monat spielen, fühlt sich dadurch sehr unsicher an, und ist nicht immer gut besucht, obwohl es bei jeder Vorstellung großen Applaus und Begeisterung von Zusehenden gibt. Was wir versuchen, ist eine Intimität auf der Bühne herzustellen, die ein ungeschminktes sich Zeigen ermöglicht, um sich mit dem Mut und dem Support der versammelten Gemeinschaft aus schambesessenen Verhaltensmustern zu befreien. Wir wollen transgenerationale und damit teils unbewusste "Flüche" überwinden, indem wir sie aufspüren und von ihnen erzählen, ihnen ins Gesicht schauen.

Ich gehe nach der Vorstellung in die Kantine und kriege mit, wie eine Runde älterer Menschen sich am Nebentisch Geschichten über Familienmitglieder erzählen. Ein Pärchen hält Händchen, während ein anderer über sein Verhältnis zu seiner Schwester spricht. Eine Frau beugt sich zu ihm und sagt: "Godehard, das hast du mir noch nie erzählt."

Ja, Theater kann was verändern, denke ich wieder.

Kunst schafft Empathie und Empathie ist die Grundlage für Politik, sprich für die Prozesse zur Regelung unseres Zusammenlebens. Ich habe noch nie so deutlich wie 2023 gespürt, wie sehr diese Empathie in einer Gesellschaft gebraucht wird und wie sehr sie an vielen Stellen fehlt oder uns abgesprochen wird von den verzerrten Wahrheiten eines Populismus, der Hass als Gemeinsamkeit anbietet.

Ich glaube, dass es eine der größten momentanen Aufgaben von uns Künstler*innen ist, zu verbinden; Verbindung zu schaffen durch die Intimität von Kunst.

Julia Riedler

Ich glaube, dass es eine der größten momentanen Aufgaben von uns Künstler*innen ist, zu verbinden; Verbindung zu schaffen durch die Intimität von Kunst. Das Theater als Medium der Begegnung ist ein gewaltiges Geschenk dafür. Wenn ich auf der Bühne den Sophokles'schen Satz "Die Sonne hat es eilig mit uns, sie lässt uns keine Zeit; es ist beschlossen, dass wir sterben müssen" spreche, genieße ich, dass ich es nicht alleine bin, die ihn denkt, da ich im Moment meines Sprechens noch hunderte von anderen Menschen mitnehme, sie einlade in den Satz, in den Inhalt, in die Welt, in meine Gedanken und Gefühle dazu. Durch den Energieraum, den das Publikum durch seine Präsenz schafft, wird eine Kommunikation geschaffen, die aus meinem Denken eine dreidimensionale Gewalt macht und aus dem Theaterraum eine immersive Welt. Und so wird etwas, was einst geschrieben wurde, egal, ob es Jahrtausende oder einzelne Monate alt ist, zu einer gegenwärtigen Plastik. Nicht dadurch, dass ich es besonders laut sage, sondern dadurch, dass ihm besonders zugehört wird.

Diese Art von Begegnung, die das geniale Medium Theater schafft, findet im Live-Moment der Aufführung in unendlich vielen Richtungen statt. Natürlich höre ich das Atmen des Herrn in der ersten Reihe, ich spüre das Grinsen meiner Bekannten in der Loge, sie wiederum merkt das Schwitzen des Menschen, der neben ihr sitzt, und die Hand seiner Begleitung hält, die nachdenkt. Auf der Bühne zu spielen heißt auf all das einzugehen – nicht unbedingt verbal, aber energetisch. In Kontakt zu gehen, auch wenn es von außen nur als Sehnsucht zu spüren ist. In Kontakt auch mit sich selbst, den Mitspieler*innen, dem Text, der Figur, dem Bühnenbild, dem Kostümteil des Kollegen, dem Scheinwerfer oben links, dem Fleck auf dem Boden, dem verschmitzten Grinsen der Kollegin, dem Rhythmus des Schlagzeugers, der Seele der Szene. Ich begegne ihnen und sie begegnen mir bzw. ich lasse mir begegnen. Der Probiermodus, von dem mein Spiel lebt, der es als solches erst konstituiert, ist ein Modus der permanenten Begegnung, eines fühlen Wollens, sich fühlen Wollens, gefühlt werden Wollens. Ich probiere mich gleichermaßen wie andere und anderes aus. Dieses irrsinnig schnelle, weil unermüdliche 3D-Ausprobieren ist die Grundlage für den sogenannten Flow, das Surfen, dieses mystifizierten sexy Etwas, von dem alle Spielenden reden, als hätten sie eine besonders geile Droge ausprobiert. Und ohne dessen Anwesenheit ich immer ein bisschen leide, weil ich weiß, wie es sein kann, wenn er da ist, der Flow, dieses Gefühl von Leichtigkeit, von auf der Bühne Schweben, hochgehoben von den Blicken der Zusehenden und der Mitspieler*innen, die meinen Kontrollverlust ermöglichen, weil sie wie ein Trampolin auf mich aufpassen. Durch das Spiel meiner Kolleg*innen springe ich noch höher, wir ziehen uns aneinander hoch, indem wir uns begegnen. Uns ausprobieren, auffordern, verführen, befragen, überfordern, provozieren, irritieren, absichtlich im Weg stehen, heimlich anlächeln, unbeirrt Stücktext an den Kopf werfen, gemeinsam tief eintauchen in den fiktiven Moment der Erzählung, verwundert sind übereinander, und immer, immer denken, das, was du machst, egal wie scheiße oder bewundernswert ich es als Privatperson eigentlich gerade finde, das ist eine gute Vorlage für mich und mein Tun als Spielerin und ein Geschenk für meine Figur.

Denn ich begegne, um zu werden. Das lateinische Wort existere bedeutet nichts anderes als hervortreten, entstehen. "Der Mensch wird am du zum ich", schreibt der französische Philosoph Charles Pépin, "unsere Wahrheit ist nicht in uns, sondern zwischen uns".

Es geht nicht darum irgendetwas oder irgendjemanden im Griff zu haben. Es geht nicht darum jemanden zu beherrschen, sondern jemandem zu begegnen. Zu berühren. Die Berührung ist Begegnung, der Griff wiederum ist ein possessiver Akt, eine Sackgasse und die Endstation für den Flow. Ich hasse es auf der Bühne so festgehalten zu werden, dass meine eigene Handlungsfähigkeit dadurch eingeschränkt ist. Auch wenn in einer Szene zwei Figuren aufeinander treffen, die sich weh tun wollen, festhalten, schlagen, isolieren - auf der realen Ebene der zwei Spielenden muss der gemeinsame Flow ins Unbestimmte dabei immer möglich sein können, da sonst das Spiel als solches gefährdet ist. Denn Spiel ist Transformation, ein Werden, kein Sein. Dinge müssen entstehen können, statt von vornherein da zu sein. Ich bin nicht traurig, ich werde traurig. Transformation ist ein dauerhafter Prozess, der nicht abgeschlossen werden kann durch ein gemütliches sich Einkuscheln in der Repräsentation. Man ist keine Figur, man kann nur eine werden. Die aber nie eine sein wird. Sie wird immer im Werden bleiben, sonst würde sie nicht leben, sondern wäre ein Abziehbild einer bereits verblichenen Imagination. Nirgendwo kann man das besser erleben als im Theater, diesem unkontrollierbaren Medium der gegenwärtigen Unmittelbarkeit, wo alles, was gerade wirklich, real, live passiert, die meiste Kraft hat. Alles kann sich ereignen und man wird es nie zu hundert Prozent kontrollieren können. Man kann sich nur erproben an den Wahrscheinlichkeiten der Geschehnisse. Und im gegenwärtigen Moment versuchen schneller zu sein als das, was die Zusehenden wahrnehmen. Dem Echo des eigenen Tuns voraus zu sein. Und jede Interpretation der Zusehenden flüchtig zu halten. (Ich lasse etwas fallen und entschuldige mich scheinbar verlegen dafür). Und wenn ihr jetzt denkt, dass ich wohl ungeschickt oder nervös, bin, mache ich euch klar, dass eure Wahrnehmung Teil meines Plans ist. Je wendiger man im Spiel ist, desto mehr Aufmerksamkeit kann man auch auf sich ziehen. Denn man ist immer einen Schritt schneller aus die Zusehenden, die noch etwas verarbeiten müssen, sich mit einem beschäftigen müssen, um bei dem vergänglichen Entstehungsprozess der Figur, des Moments, des Gefühls dabei sein zu dürfen. Und eine Ahnung für die Bedeutungspluralität komplexer Lebendigkeit entwickeln zu können.

Mein Ziel auf der Bühne ist es mit guter Vorbereitung nichts mehr im Griff zu haben. Sondern im Flow zu sein. Im Fluss der Begegnungen. Jede Begegnung ist auch eine Begegnung mit sich selbst und dem eigenen Begehren. Wenn ich meine Hand auf dieses Pult lege, spüre ich das Holz, aber ich spüre auch mich. Ich kann einen gemeinsamen Weg mit diesem Pult gehen, und gleichzeitig gehe ich auch auf meinen inneren Wegen, habe Kontakt zu mir und weil ich mich spüre, kann ich mir selbst Motor und Kompass sein. Das eigene Begehren zu finden heißt auch Zugang zum anderen zu finden, zur Figur, zum Text, zur Kollegin. Ich spiele etwas, weil ich es durch das Spiel selbst erleben, es persönlich nachvollziehen will, und weil eine persönliche Dringlichkeit mich leitet und mich in die Sache verbohren lässt. Ich SCHRAUBE mich rein und schraube MICH rein, Stück für Stück, in die Sprache einer anderen Person, aber ich greife sie mir nie endgültig, sondern berühre sie ganz intim, und lasse mich berühren, lasse etwas mit mir machen, von dem ich davor noch nicht wusste.

Reality Check, die Vierte:

Mai 2018. Brigitte Hobmeier, Thomas Hauser und ich stehen auf der Bühne vom Donaufestival Krems, das Bühnenbild ist eine Spiegelwand und ein Tanzboden, über den Licht in verschiedenen Farben rast, keine Requisiten, die Kostüme sehr gut aussehende Sportanzüge, Regisseur Felix Rothenhäusler hat auf nichts vertraut, außer auf unsere Körper und unser Miteinander, um den völlig wahnwitzigen Text, der eine denglische Transkription eines Videos des amerikanischen Künstlers Ryan Trecartin ist, zu einem Theaterstück werden zu lassen. Der Text ist schwer beschreibbar, er besteht einerseits aus dem gesprochenen Text der Personen aus dem Video, andererseits auch aus Trecartins Regieanweisungen oder einer Verschriftlichung von Sounds und Timecodes, die manchmal nur Sternchen oder random Zahlen sind; grafisch ist das Ding, das aus verschiedenen Schriftarten und -größen besteht, auf jeden Fall ein Kunstwerk.

Für uns ist es, als würden wir Phantasiesprache sprechen, aber mit fein säuberlich gearbeiteten Haltungen und Rhythmen, vor jeder Vorstellung sprechen wir das ganze Stück einmal komplett durch, jeder Bindestrich hat einen spezifischen Sound, jeder Absatz sein eigenes Tempo.

Auf der Bühne versuchen wir uns autosuggestivem Sprechen hinzugeben, uns in einem Sprechdurchfall zu verlieren, der uns in Bewegung bringt und verwandelt. Der Text wird zum Körper. Eine Komplexität wird erlebbar durch die Anordnung vieler einzelner Gesten, Blicke, Laute, denen wir Bedeutung geben, Minisituationen, die aufploppen und wieder verschwinden, aus jeglichem Kontext gerissene Worte, die wir uns entschlossen gegenseitig an den Kopf werfen, oder auch an den Oberarm, wenn Brigitte mir mit ihren spitzen Fingernägeln EIGENTUM auf meine weiße Haut kratzt, was nach wenigen Minuten auch rot ins Publikum glüht. Kaum ist ein Gefühl, eine Situation, eine Logik entstanden, versuchen wir zur nächsten zu rasen. In Hochgeschwindigkeit verrenken wir unsere Körper und bringen sie in Ausnahmezustände, und wenn das nicht mehr reicht, dann benutzen wir dafür auch die Körper der anderen. Ein Fluss der Dringlichkeit, mit einem bis aufs letzte Komma zum Kotzen diszipliniert einstudierten Text, der den improvisierenden Körpern zum gemeinsamen Abheben in die Freiheit zur Verfügung gestellt wird.

Persönliche Dringlichkeit

Das Ich des Schauspielenden gründet sich in meinem Verständnis für Schauspiel auf drei Ebenen: Privatperson (Julia), Spielerin (die Riedler) und Figur (name it). Alle drei sind eigenständige Kategorien, mit denen man das Ich auf der Bühne beschreiben kann, einzeln erklärbar, aber in Abhängigkeit zueinander. In meiner Arbeit versuche ich immer eine Verbindung zwischen den drei Ebenen zu erreichen, eine "Tiefenbohrung", wie Christopher Rüping sagt: Die fiktive Ebene versuche ich zur realen Ebene der Spielerin (der Riedler) zu bringen, und mich als Privatperson (Julia) auf irgendeiner Weise damit zu verknüpfen. Oder ich versuche dem, was mich privat (als Julia) beschäftigt, nicht aus dem Weg zu gehen, sondern es zu nutzen, sprich der Spielerin (der Riedler) zu Verfügung zu stellen, die damit die Figur beeinflusst. Die Fiktion bekommt eine gegenwärtige Realität und meine Figur eine persönliche Dringlichkeit.

Auf der großen Bühne eines Theaters bin ich angehalten das Innere meiner Figuren auf gewisse Weise zu übersetzen, ihm einen Ausdruck zu geben, und den ganzen Raum damit zu füllen, dass auch noch die letzte Reihe etwas davon hat. Das ist Aufgabe für die Spielerin, die immer Handlungsfähige, die das Medium kennt und den privaten Körper in der Öffentlichkeit zur Figur macht. Die Spielerin hat die Aufgabe, gegen alle eventuellen Ängste der Privatperson, das Innere der Figur zu vergrößern, und "eine Zumutung zu sein", wie es Leonie Böhm mir in einer unserer letzten Proben sagte: "Belaste mich als Zuseherin mehr mit dir", meinte Leonie, "benutze mich, um dein Inneres auszustülpen". Als schon eher höflicher Mensch fällt mir das oft gar nicht so leicht, dann noch als Frau, gesellschaftlich sozialisiert im Gefallenwollen und Schönsein.

Als Schauspieler*in ist man der eigenen Privatperson brutalst ausgeliefert, mein Spiel wird immer in Relation zu mir selbst stehen. Ich kann mich aber bemühen, für meine Figuren die mir unbekanntesten Ecken meiner selbst rauszukramen. Ich liebe es, durch eine vermeintlich fremde Figur in mir etwas zu entdecken, das mir bislang nicht bekannt gewesen war. Oder das ich vergessen hatte. Auf die Suche zu gehen nach den verkümmerten, vergrabenen Teilen meiner Persönlichkeit. "Ich nehme Figuren zum Anlass, um in mir nachzuschauen", formuliert es Sandra Hüller. Auch um mich als Privatperson weiterzuentwickeln, also von meinen Figuren zu lernen und ihre Realitäten und Gedanken in meinen privaten Kosmos aufzunehmen. Dadurch entsteht oft eine Konfrontation mit privaten Ängsten und Schamgefühlen, die ich persönlich, so grauenhaft sie sich anfühlen können, immer auch liebe. Denn es wird mir über das Spiel die Möglichkeit einer Überwindung meines Korsetts gegeben, in das ich mich alltäglich stecke. Indem ich es schaffe, in kleinen momenthaften Bruchstücken etwas zu denken oder zu tun, das ich sonst nie tun würde, weil es vielleicht verboten ist, oder weil ich es mir selbst verbiete, nicht zutraue oder schlicht nicht mit mir in Verbindung bringen möchte, kann ich mir selbst ein Stück Freiheit schenken, und durch eine Figur mehr werden, weiter gehen, auch eine private Transformation erleben. Am beglückendsten finde ich es, live auf der Bühne durch diese privaten Transformationsmomente zu gehen, was viel Offenheit, Mut, Risikobereitschaft und Neugier abverlangt. "Talent ist Interesse", schrieb Bertolt Brecht. Es sind wir selbst, die bestimmen, wie weit wir gehen können und wollen.

Ich hatte über sehr lange Zeit mit Panikattacken auf der Bühne zu kämpfen, weil mein Körper sich nicht mehr in der Lage sah, sich fast täglich live diesem Druck auszuliefern, und den hohen Ansprüchen gerecht zu werden.

Julia Riedler

In den Arbeiten mit Leonie Böhm beschäftigen wir uns immer mit dieser Art von Emanzipationsprozessen. Leonie war die erste Regisseurin, die mich ermutigt hatte, nicht nur meine privaten Stärken, sondern auch Schwächen für mein Schauspiel zu nutzen. Wir haben, abgesehen von dem Studium in Hamburg, wo wir schon aufeinander trafen, zum ersten Mal an den Münchner Kammerspielen zusammengearbeitet, in einem Jahr, in dem ich Burnout bedingt, ich sag mal, große Schwierigkeiten beim Spielen von meinen vielen Vorstellungen hatte. Ich hatte über sehr lange Zeit mit Panikattacken auf der Bühne zu kämpfen, weil mein Körper sich nicht mehr in der Lage sah, sich fast täglich live diesem Druck auszuliefern, und den hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Ansprüche, die in dieser Zeit vor allem von der Presse mit großer Missgunst und harten Formulierungen gestellt wurden und uns unerreichbar schienen. Die Quantität der Proben und Vorstellungen, die ich hatte, stieg mir über den Kopf, während ich als festangestellte Schauspielerin keinerlei Transparenz, Spielraum und Gestaltungsmöglichkeit bezüglich der Disposition meiner Arbeitszeiten hatte. Da ich, so erschöpft ich auch war, gleichzeitig aber den verqueren Anspruch hatte mit jedem meiner Auftritte praktische Antworten auf die Zweifel der Zusehenden zu geben, geriet ich in eine Art Bermudadreieck der eigenen Anstrengungen, das zu ignorieren mich mein Körper eben durch regelmäßige Panikattacken vor und während Vorstellungen abhielt. Attacken, die ich vor meinen Kolleg*innen immer versucht habe, geheim zu halten, oder als "bissi nervös halt" wegzulächeln. In einem Stück von Toshiki Okada, das ich eigentlich sehr gerne gespielt habe, trat ich als letzte von allen auf, und je länger ich damals alleine in der Garderobe und dann auf dem Flur warten musste, desto verrückter hatte ich mich gemacht, bis ich bei einer Vorstellung eine junge Mitarbeiterin im Foyer mit einem schweißgebadeten "Wie heißt du?“ anquatschte und um Hilfe bat, um Ablenkung, da ich meine Gedanken nicht mehr im Griff hatte.

Ich hatte in diesen Momenten Angst davor die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren und ohnmächtig zu werden. Eine Erfahrung, die ich tatsächlich vor fast zehn Jahren, als junge Anfängerin am Schauspiel Köln, gemacht hatte. Ich spielte seit Wochen en suite ein Stück, in dem ich mich sehr unwohl fühlte, musste nach den Vorstellungen noch für intensive Dreharbeiten mit dem Zug nach Frankfurt fahren, und hatte, wenn ich morgens zurückkam, schöne, einnehmende Proben für Charlotte Sprengers Regiedebüt, mit einem mich damals sehr berührenden Text von Fritz Kater. Es war Frühsommer, wir spielten in einem unerträglich heiß aufgeladenen Container im Garten, und ich war sowohl privat als auch beruflich, und dann vermischte es sich auch noch unangenehm, on the edge, oder längst darüber hinausgerutscht. Irgendwie geht's noch, irgendwas geht noch, aber dann kam ganz plötzlich der Punkt, an dem es nicht mehr ging. Nach etwa zehn Minuten meines Monologs merkte ich, dass ich meine Arme nicht mehr ausstrecken konnte, so sehr ich mich auch anstrengte, fehlte mir dafür plötzlich die Kraft, und schon zogen grelle Sternchen über mein Blickfeld und ein hoher Ton surrte in meinen Ohren, bis ich mich auf den Boden legen musste, wo ich für einen Moment das Bewusstsein verlor. Ich war bewusstlos auf meiner eigenen Premiere, und ohne mich konnte es nicht weitergehen, da das Stück aus zwei Monologen bestand, und der erste war offensichtlich gerade weggebrochen. Die Vorstellung wurde abgebrochen und an einem anderen Tag nachgeholt.

Eine Geschichte, die immer spektakulär zu erzählen ist, mir aber leider genauso spektakulär in den Knochen sitzt. Als ich einige Jahre später an den Münchner Kammerspielen in diesen Erschöpfungszustand geriet, wurde der Schwächeanfall zum Trauma und die Angst vor einer Wiederholung zu einer Angst vor der Angst, einer Panik, einer Zeitlupe im Kopf und einem Rasen im Herzen. Irgendwann, viel später, habe ich verstanden, dass mein kluger Körper mich nur retten wollte, vor mir selbst, mich auf meine Belastungsgrenzen hinweisen wollte und die Erinnerung an den Schwächeanfall nutzte, um mich vor meinem eigenen Anspruch und meinen Erwartungen an mich selbst zu schützen. Und die Panikattacke als Möglichkeit des Verschwindens brauchte. Als Ablenkung vor den Fehlern, die ich sonst vielleicht gemacht hätte, vor einer Schwäche, die ich nicht zugeben wollte, vor einer Mittelmässigkeit, die ich nicht zulassen konnte.

Im Rahmen des Stücks "Yung Faust" hatte mich Leonie ermutigt, der Angst ins Gesicht zu schauen, anstatt zu versuchen vor ihr zu fliehen. Zusammen mit Tarun Kade, dem Dramaturgen, haben wir aus den drei Faust'schen Prologen einen gemacht, wo sich die fiktive Situation rund um die Frage des Theaterdirektors "Wie machen wir‘s, daß alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei?“ mit meiner realen Ebene als Spielerin getroffen hat. Der Spielerin, die das Stück alleine vor dem Vorhang begann und die Erwartungen des Publikums nicht als poetisches Interrobang genießen konnte, sondern maßgeblich beeinflusst wurde von der panischen Emotionalität der Privatperson, die wiederum der Verzweiflung des fragenden Theaterdirektors ähnlich war.

Reality Check, die Fünfte:

Vielleicht klingt das befremdlich und selbstausbeuterisch. Dem würde ich sogar zustimmen. Ich frage mich oft, wie weit man da gehen sollte und finde unterschiedliche Antworten. Auf keinen Fall gibt es eine Antwort, die für immer und für alle gilt. Am Ende schöpfen wir Schauspieler*innen aber immer aus uns, weil wir eben nur uns haben, auf das wir zurückgreifen können und wichtig finde ich es vor allem, sich dessen bewusst zu sein. Das spielerische Sich-Ausliefern auf der Bühne ist beruflich und anstatt es zu glorifizieren oder zu infantilisieren, sollte es von den professionellen Strukturen, in denen wir uns befinden, aufmerksam begleitet, aufgefangen und geschützt werden. Leider spiegelt das im Allgemeinen nicht die Realität des deutschen Stadttheaters wider. In meinem Fall haben mich Geschäftsführer Oliver Beckmann und Intendant Matthias Lilienthal durchaus ernst genommen und unterstützt, mich aus Proben aussteigen lassen. Trotzdem war dadurch nicht gleich meine Arbeitsstruktur verändert. Wer den Mephistophelischen NV-Solo unterzeichnet, verspricht seinem Arbeitgeber eine Dauerverfügbarkeit, bei der man keinerlei Mitsprache oder Gestaltungsmöglichkeiten über die eigenen Arbeitszeiten hat, sie vielleicht erst aus dem Leporello erfährt, wenn er an Zusehende ausgegeben wird. Wenn man nicht in der Stadt sein möchte, müssen Urlaubsscheine im KBB ausgefüllt werden, auf Formularen, die deutsche Ämter hinsichtlich ihrer Digitalisierung fortschrittlich wirken lassen. Eine feste Absicherung ist der unterzeichnete Urlaubsschein aber nicht – er kann von der Intendanz, bei der sich jegliche Macht bündelt, zu jeder Zeit zurückgenommen werden. Terminen außerhalb des Theaters nachzugehen, ist quasi unmöglich, da sie in der Disposition selten berücksichtigt werden können, es gibt darauf kein Recht. Man gilt als unverzichtbar. Gleichzeitig kann man in Stücken, in denen man Figuren, Texte, Choreografien, szenische Ideen oder ästhetische Setzungen erfunden und entwickelt hat, einfach umbesetzt werden. Ohne dass ein Urheberrecht entgolten oder man dafür auf sonstiger Weise entschädigt wird. Man muss nicht mal gefragt werden, manchmal wird einem nicht mal Bescheid gegeben. Die oft viel zu niedrigen Gagen sind Flatrates für den Arbeitgeber, zeitlich gibt es keine Belastungsgrenze. Früher gab es an einigen Theatern zusätzliche Ausschüttungen ab einer bestimmten Anzahl von gespielten Vorstellungen, die wurden fast überall eingespart.

Ich musste mich dieser Struktur entziehen, um mit meiner Erschöpfung handlungsfähig umgehen und meinem Wunsch nach Gestaltungsmöglichkeiten meines eigenen Lebens nachgehen zu können. Obwohl ich es liebe, Teil eines Ensembles, einer Gruppe zu sein, die sich miteinander auseinandersetzt und gegenseitig inspiriert, sich über langfristige Arbeitsbeziehungen weiterentwickelt, das künstlerische Gesicht eines Theaters für die Stadt ist und Verbindungen mit seinem Publikum eingeht, kann ich über die vergilbten Strukturen nur den Kopf schütteln. Wenn eine Anpassung an den Arbeitsmarkt von 2023 erfolgen soll, empfiehlt sich die Selbstverständlichkeit der Dauer-Verfügbarkeit als turbokapitalistische Anforderung, die davon ausgeht, immer über sämtliche Ressourcen verfügen zu können, zu überprüfen.

Wenn man wollte, könnte man einige Ideen finden, um innerhalb dieser Strukturen zu lüften. Zum Beispiel mit Bereitschaftsdiensten. Frei gewählt und transparent vergeben. Auf Urlaubsscheine und Ansagen aus der Chefdisposition, dass man nicht wegfahren dürfte, weil man ja eventuell doch noch einspringen müsste für eine ausfallende Vorstellung, könnte dadurch verzichtet werden. Stattdessen wäre eine langfristigere und gemeinsam verantwortete Disposition möglich. Angenommen, es hätten alle Ensemblemitglieder jeweils einen Monolog oder ein Stück, das zu zweit oder zu dritt spielbar wäre, könnte in diesen Kleinstgruppen Bereitschaftsdienst übernommen werden. Zusammen müsste man eine gewisse Anzahl an festgelegten Tagen im Monat für den "Reinschmeißer" garantieren können. Wenn man Dienst hat, bleibt man in der Stadt und ist auf Abruf, um als Ersatz für eine ausfallende Vorstellung aufzutreten. Wenn nicht, kann man fest mit einem vorstellungsfreien Tag planen.

Ich glaube, dass sich einige Modelle dieser Art finden lassen könnten, wo die Möglichkeit der institutionellen Partizipation nicht nur ein Entgegenkommen an die Schauspieler*innen wäre, sondern sogar Ressourcen schonen könnte. Die künstlerischen Arbeitsweisen am Theater haben sich geändert, Schauspieler*innen sind in vielen Stücken nicht nur die virtuose Umsetzungsmaschine von fertigen Ideen einer ihnen übergestellten Person, sondern oft auch Co-Autor*innen und Regiekomplizen, dramaturgische Mitarbeitende und eigenständige Künstler*innen. Das sollte sich auch auf die Hierarchien und das Machtgefälle an der Institution übertragen. Es ist beispielsweise nicht nachvollziehbar, dass die in größeren Theatern wirklich äußerst gut verdienende Intendanz sich selbst bezahlte Regie- oder Dramaturgieaufträge geben kann, die beachtliche zusätzliche Einnahmen bedeuten, während sämtliche Arbeiten und Auftritte von Schauspieler*innen mit einer Flatrate abgerechnet werden.

Regisseur*innen und Autor*innen werden für das Erstellen von Bühnenfassungen extra mit Tantiemen bezahlt. Dass Schauspieler*innen an den Fassungen oft massgeblich beteiligt waren, manchmal seitenweise selbst geschrieben oder improvisiert und erzählt haben, spiegelt sich in den Tantiemen in keinster Weise wider. Für ein Stück sassen wir Schauspieler*innen in unserer Pause in der Kantine, während der Regisseur geleuchtet hat, und haben aus dem gerade gespielten, halb improvisierten Ablauf selbstständig ein Skript geschrieben, das in dieser Form immer noch aufgeführt wird. Die Tantiemen gehen dabei zur Gänze an ihn, obwohl auch Schauspieler*innen beteiligt sind, die nicht festangestellt waren und deren zusätzliche Arbeit nicht von einem regelmässigen Monatsgehalt gedeckt werden kann.

Wie kann man zeitgenössische Arbeitsweisen über Credits sichtbar machen und welche ökonomischen Übersetzungen brauchen sie?

Im Kontext von "Antigone" am Maxim Gorki Theater haben sich Leonie Böhm, Tarun Kade und Shermin Langhoff für eine Verteilung der Tantiemen in drei Dritteln an Regie, Dramaturgie und Ensemble ausgesprochen. Ein Drittel der Tantiemen sollen wir uns nun also zu viert teilen, was in unserem Fall nicht besonders viel mehr Honorar bedeutet, aber ein enormer und spektakulärer Schritt zu einer anderen Wertschätzung und Sichtbarkeit ist. Und ein Angebot zu einer neuen Verteilung institutioneller Macht, die sich natürlich in finanziellen und rechtlichen Konditionen widerspiegelt.

Das Gorki ist auch eines der wenigen Theater, die ihre Gäste von den Proben bis zur Derniere (außer in der Sommerpause) durchversichern, auch wenn die Inszenierung über längere Zeit nicht auf dem Spielplan steht. Für Freischaffende ein existenzieller Glücksfall, denn die meisten Theater versichern nur weiter, wenn die Intervalle zwischen den Vorstellungen nicht zu groß werden, oder gleich nur für einzelne Tage. Einem Großteil der freien Stadttheaterschauspieler*innen wäre durch eine stabile Versicherung vonseiten des Theaters schon enorm geholfen, um regelmäßige, große Kosten vermeiden zu können. Denn nach wie vor haben Schauspieler*innen in der Künstlersozialkasse, wo Künstler*innen mit selbstständigen Tätigkeiten versicherungstechnisch unterstützt werden, keinen gesicherten Zutritt, da sie, Achtung, das Gründungsjahr 1983 hinterlässt da einiges an Staub, "weisungsgebunden" arbeiten und so in abhängigen Beschäftigungen über befristete Zeiträume angestellt sind.

Wir leben in einer Zeit, in der wir Angst haben müssen, die Welt, die wir kennen, zerbrechen zu sehen. Das ungewollte Zerbrechen kann nur durch gewollte Veränderung kontrolliert werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass es die Transformation ist, die letztendlich zum Erhalt führt. Auch zum Erhalt unserer wertvollen, vielfältigen, seit Jahrhunderten in unserer Gesellschaft verankerten Theaterlandschaft, die in ihrer heutigen Form ihresgleichen sucht. Veränderung nervt, tut weh, verunsichert. Aber nur das Werden definiert das Sein.

Wir, die wir schon länger am Theater arbeiten, müssen überprüfen, in welchem Verhältnis wir zu gewissen Strukturen und Gepflogenheiten am Theater stehen. Warum wir das, was wir lieben, verwechseln mit dem, was wir kennen. Warum wir immer noch und immer wieder gewisse Dinge unterstützen, die nicht nachhaltig sind. Warum mancherorts Intendant*innen mehr verdienen als die Bürgermeister der Stadt. Wenn wir Machtmissbrauch bekämpfen wollen, müssen wir das eigene Verhältnis zu Macht bekämpfen. Es ist Zeit, alles zu tun, um dem Nachwuchs ein funktionierendes System hinterlassen zu können, in dem auch die Gen-Z gerne zu arbeiten anfängt.

Denn Leute, das Theater, das müsst Ihr kennenlernen. Ich stehe hier als jemand, die seit über zehn Jahren in dem Beruf arbeitet und falls es, mit allem, was ich bis jetzt gesagt habe, und das war echt viel, für irgendjemanden noch nicht rübergekommen ist: Omg, ich liebe das Theater.

Danke an
Marc Aisenbrey, Leonie Böhm, Peter Brombacher, Johannes Benecke, Benjamin von Blomberg, Robert Borgmann, Ulrich Bitz, Bruno Cathomas, Martine Dennewald, Anna Drexler, Helena Eckert, Martin Grünheit, Anna Gschnitzer,

irgendwann jetzt kommt der Hubschrauber und holt mich ab

Brigitte Hobmeier, Dorothee Halbrock, Matthias von Hartz, Thomas Hauser, Walter Hess, Peter Jordan, Odine Johne, Tarun Kade, Nils Kahnwald, Jelena Kuljić, Gro Swantje Kohlhof, Shermin Langhoff, Daniel Lommatzsch, Eva Löbau, Petra Lüschow, Matthias Lilienthal, Christian Löber, Catharina Lühr, Bertrand Mandico, Mariko Minoguchi, Stefan Merki, Jochen Noch, Toshiki Okada, Christoph Otto, Kai Ohrem, Annette Paulmann, Luk Perceval, Philippe Quesne, Benjamin Radjaipour, Damian Rebgetz, Anta Helena Recke, Jovana Reisinger, Felix Rothenhäusler, Christopher Rüping, Franz Rogowski, Samouil Stoyanov, Thomas Schmauser, Petra Schönwald, Charlotte Sprenger, Nicolas Stemann, Kristina Sünkel, Steffen Sünkel, Wanja van Suntum, Yana Thönnes, Thomas Oberender, Eva - Maria Voigtländer und Samuel Weiss,
die mir auf unterschiedlichen Weisen und in unterschiedlichen Lebensphasen dazu verholfen haben, meinen Beruf zu verstehen.

"Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar stehts Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will."

Goethe

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Julia Riedler, geboren 1990 in Salzburg, ist Schauspielerin. Sie studierte an der Theaterakademie in Hamburg und bekam 2012 ihr erstes Engagement am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. 2013 wurde sie mit dem renommierten Boy-Gobert-Preis für Hamburger Nachwuchsschauspieler*innen ausgezeichnet. Anschließend war sie Ensemblemitglied am Schauspiel Köln und an den Münchner Kammerspielen. Als freie Schauspielerin trat sie unter anderem am Maxim Gorki Theater Berlin auf. Sie arbeitet auch für Film und Fernsehen.

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Kommentare  
Poetikvorlesung von Julia Riedler: Spricht mir aus dem Herzen
Schöne Beschreibungen der ambivalenten, chaotischen, verspielten Innenwelt, die ich voll nachvollziehen kann und selber regelmäßig durchlebe. Und dann noch der wichtige Bogen zur Politik und den strukturellen Problemen in unserer Arbeitswelt. Ich hab den Text sehr genossen. Spricht mir aus dem Herzen. Danke!
Poetikvorlesung von Julia Riedler: Toll geschrieben
Danke, Julia. Ein wunderbarer, ehrlicher, mutiger und aufschlussreicher Text. Mögen Ihn viele lesen!
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