Wie es war?

13. März 2024. Der vergangene Woche verstorbene Volksbühnen-Intendant, Autor und Regisseur René Pollesch begriff Schauspieler:innen immer als Ko-Autor:innen seiner Stücke. Was besagte das? Wie lief die gemeinsame Arbeit ab? Einer seiner engsten Vertrauten, der Schauspieler und Co-Regisseur Fabian Hinrichs, berichtet aus dem Werkraum.

Von Fabian Hinrichs

Fabian Hinrichs und René Pollesch auf den Proben zu "Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang" an der Volksbühne 2010 © Marcus Lieberenz / Bildbühne

11. März 2024. Die Bitte: etwas zu offenbaren, über die Arbeitspraxis von René und mir. Sie ist nicht repräsentativ. Erster Gedanke: das kann ich nicht. Zweiter Gedanke: doch. Beide Gedanken können beanspruchen, wahr zu sein.

Dritter Gedanke: das will ich nicht. Vierter Gedanke: doch. Beide Willen können ihren Platz beanspruchen. Fünfter Gedanke: Es ist keine Zeit da, einen Text zu schreiben. Nicht in der Verfassung dafür. Sechster Gedanke: und hätte ich alle Zeit der Welt – die Vernunft ist nicht das Ganze. Sprache ist nicht das Ganze. Es ginge also eh nicht.

Siebenter Gedanke: Denn es ist ein rätselhafter Vorgang, für uns selbst. Es war ein rätselhafter Vorgang. Deswegen machen wir es. Machten wir es.

Das letzte Stück: ja nichts ist ok

Ich kann nur bruchstückhaft, beispielhaft schreiben, über ja nichts ist ok, unser letztes Stück. Das letzte. Darüber
berichten, minus dem, was nicht aufzuschreiben geht: das wirklich Gemeinsame, alles, was dem entspringt – dafür gibt es keine Sprache. Es geht weit über unsere gemeinsamen Regie- und Tantiemenverträge hinaus. Kann nur vom Letzten stottern und berichten, für die Akten: Wir wollten ein Mehrpersonenstück machen. Ich wollte nicht (wieder) alleine auftreten. Wollte neue Reize setzen, für uns, für die Leute. René fand das gut. Ich fand das gut. Er war offen für Neues, immer.

Vorgeschichte: Wir wollten ursprünglich, irgendwann, Winter 23/24 "Let's Dance" machen. Unser "Let's Dance". Ich: deprimiert vor einiger Zeit in irgendeinem Hotel eine Folge "Let's Dance!" gesehen, ich glaube in Köln, Hotel "The Qvest", ja. In "Let's dance" gibt es Tanz. Und es gibt Gespräche, Gesprächshülsen. "Wie ernährst du Dich?", "Wann hast Du angefangen zu tanzen?", "Wann wusstest Du, dass Du Schauspielerin sein willst?" usw.

Wir wollten in unserem Let's Dance: Tanzen und Schreien. Und wirkliche Gespräche, wirkliche Dialoge. Herausfinden, was wirkliche Dialoge sind. Mit Profi-Tänzer*innen und großartigen Schauspieler*innen. War überzeugt von der Idee. René auch. Dann kamen andere Zeiten. Let's dance? Nein.

Das schwierige Jahr 2023

Normalerweise trafen wir uns immer, ein Jahr lang, vor den Proben zu einem neuen Stück, immer wieder, immer im Prenzlauer Berg. Nie in Potsdam (meinem Wohnort). Aber auch nicht in Schöneberg, Charlottenburg, Steglitz, Tiergarten. Immer im Café "Sowohl als auch". Oder bei René im vierten Stock, Schönhauser Allee, über
zwei Arztpraxen. Nicht vorstellbar: irgendwann bald wohnt dort jemand Anderes, oben. Denn René ist woanders. Oben?

Das Bühnenbild von Anna Viebrock im "Falstaff" von Guiseppe Verdi (Regie: Christoph Marthaler) bei den Salzburger Festspielen 2023 © Salzburger Festspiele / Ruth Walz

2023 lief anders. 2023 haben wir uns nicht oft getroffen, um über das Kommende zu sprechen. Ich – hatte im Spätfrühling eine sensationell schwierige Zeit im Theater mit Byrons Sardanapal. Keine sinnlose Zeit. Keine unergiebige Zeit. Eine schwierige Zeit.

Danach: Film in der Schweiz gedreht. Danach: Film in Bayern gedreht. Und schon war es später Herbst. Und René – keine einfache Zeit als Intendant und Künstler. Kann man nichts Anderes drüber behaupten. Und schon war es später Herbst.

Dann haben wir bemerkt: Es ist später Herbst. Wir haben kein Bühnenbild.

Anna Viebrocks gebrauchter Bungalow

René meldet sich bei Anna, Anna Viebrock. Sie hat nicht wirklich freie Zeit. Sagt: Leider kann ich nicht. Schade. Tage vergehen. Anna meldet sich: Ich will euch helfen. Habe noch ein fertiges, abgespieltes Bühnenbild, aus "Falstaff", Verdi, Salzburg. Keine Ahnung. Vieles wird danach weggeschmissen, Lagerhäuser kosten die Häuser seit ein paar Jahren zu viel. Alles kommt weg.

Anna: Man könnte drüber nachdenken. Was meint ihr? Es geht aber nicht alles zu lagern in Berlin. Nur Teile. Der Bungalow. Die Steine. Der Pool. Ich muss aber auch erst einmal selbst nachdenken, sagt Anna. René, zu mir: Sind immer gut gefahren mit Bühnenbildern, die unabhängig von unseren Gedanken, Gefühlen, unseren Absichten (!) schon da waren.

Ja. Kill your Darlings – Bert Neumann, der Brecht-Planwagen, der Brecht-Vorhang, alles schon fertig vor Beginn der Proben. Koproduktion mit Turin, Prämisse: Brecht, "Fatzer". Fügung: Hatte mit Laurent Chetouane "Fatzer" bewältigt, 2008, Schauspiel Köln.

Ich konnte damals das 500 Seiten Fragment mehr oder weniger auswendig. Das war nicht gesund. Kill your Darlings: Egon Friedell, 1938 klopft die SA an seine Tür in Wien. Bevor er sich aus dem Fenster stürzt, ruft er nach unten, zu den Passanten: "Treten Sie bitte beiseite. Ich springe. Jetzt." Denke an René. In dieser Zeit viel Springsteen gehört. Ja, und? Traurig im Hotel "Feuerwerk der Turnkunst" gesehen. Ex-Olympioniken in Mehrwert-Kostümen. René geschrieben: Akrobaten, auch bei uns. Fallen vom Himmel. Wusste, ihm würde das gefallen.

Mein Freund Sebastian erzählt von der Cutter-Regel: Kill your Darlings. Das ist nicht "Wem die Stunde schlägt", Hemingway, nein. Erzähl es René. Weil ich wusste, es würde ihm gefallen. Er würde es weitertreiben. Konnte mich drauf verlassen. Sein Schlusstext: "Wenn wir Beide es noch nicht einmal schaffen, wie soll das hier überhaupt gehen" – ja, René.

Glauben4 1200 Willian MinkeFabian Hinrichs und René Pollesch auf den Proben zu "Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang" an der Volksbühne 2010 © Marcus Lieberenz / Bildbühne

Anderes schon vor Probenbeginn fertiges Bühnenbild, beispielhaft, weil gigantisch groß: Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt im Friedrichstadt-Palast, beim tollen Berndt Schmidt (Intendant) – fertiges Revue-Bühnenbild, bitte sehr. Im Auto damals Radio gehört, "Jump", Van Halen, Muskel-Rock. Passte zur fahrbaren Showtreppe, war wie in Venice Beach extra für diese Treppe aufgenommen, spürte ich; die sich drehen konnte wie David Lee Roth vor 40 Jahren. Aber auch zu Domenico Scarlatti, die Treppe gleitend vor und zurück, fast schwebend. Barockmusik, Klavier, langsam die Treppe rauf und runter gehen, Showtreppe abwärts. Scarlatti, Lieblingskomponist von Roger Willemsen, dem besten Freund von Joseph Vogl, meinem Freund. Vieles kommt zusammen. Auch aus dem Nichts.

Lars Eidinger und Henry Hübchen unabkömmlich

Das neue Stück – ich wollte nicht alleine spielen. Mit wem? Lars (Eidinger), zu Besuch mit seiner Frau in Geht es Dir gut?. Nach der Vorstellung "Vielleicht machen wir irgendwann mal was zusammen, Fabian?". "Ja" Ich deute es René an. René: "Ja". Einige Tage später Treffen bei René. Potsdam – nein. Gut. Ostermeier ist aber dagegen. Ich schicke Henry Hübchen eine Email. Antwort: "Ich bin im Süden. Viel Spaß!".

Ich sage: Dann spiele ich eben wieder alleine. Uns wird etwas einfallen. "Ja!"

Wir haben immer Anderes gesucht

Bauprobe. Frage Anna, ob Front und Rückseite nicht zwei verschiedene Gebäude sein könnten. Vorne Bungalow. Hinten ganz anderer Ort. Wohnungen. Vielleicht zwei Wohnungen. Sie: Ja, aber bitte keine popeligen Möbel rein. Mit Tapeten und sowas. Nicht alles fertig. Ich: Ich möchte mir aber nicht alles vorstellen müssen (Materialismus). Anna knickt nicht ein. René: Wird schon.

Proben in Rummelsburg. Nachts Orson Welles-Filme gesehen. Orson Welles als Voice-Over-Erzähler, weiche tiefe Stimme. Das würde ich gerne ausprobieren. Mit Microport, obwohl ich Microports tatsächlich hasse. Aber: andere Formen suchen, anders.

In diesen Tagen bewusst viel David Bowie gehört. Behauptung: die Harmonien und Melodien sind typisch geblieben, Kern unverändert, Stilistik hat er verändert. René sieht es auch so: Wir haben immer Anderes gesucht.

Bestellung: der schönste je geschriebene Text

Ich gebe eine Bestellung bei ihm auf: bitte einen Text über "den Menschen". Bitte den schönsten Text den du je geschrieben hast. Über "den Menschen". Blitzen in den Augen bei René. Universalismus! Wir lachen. Was soll das sein, der schönste Text? Der Mensch? Proben. Ich habe eine Nacht-Phantasie: Gewaltszene am Pool, Herbstwind, nasse Gesichter. Der eine schreit: "Sag es". Der andere: "Was denn?". Traue mich zaghaft, das andeutungsweise auf der Probe in Rummelsburg vorzumachen. Nein nein, richtig, das ist gut! Idee kommt auf: Ich könnte mehrere Personen spielen. "Wie denn?" Ja, es könnte eine zerrissene, zersplitterte WG sein, schreibe ich ihm. Er: Ja!

Ich gebe eine Bestellung bei ihm auf: bitte einen Text über "den Menschen". Bitte den schönsten Text den du je geschrieben hast. Über "den Menschen". Blitzen in den Augen bei René. Universalismus! Wir lachen.

Ich probiere Sätze aus: Sauberkeitsprobleme in der WG, politische Gespräche, dazwischen immer der Erzähler. Für uns beide ist das neu. Was spricht daraus? Wissen selbst noch nicht: Ist das was? Ja! Ja? Würde gerne zwei Schrank-Klappbetten haben. Schaue bei Ebay-Kleinanzeigen nach. Es gibt zwei in Lichtenberg. Anna lässt sich drauf ein.

Tage vergehen. Wir brauchen einen Titel, zumindest einen Arbeitstitel. Schreiben uns hin und her. Das Witzebuch meines Sohnes heißt "Angriff auf die Lachmuskeln", habe es heimlich zur Probe mitgenommen. Finde das als Titel hervorragend, allerdings als Einziger. René und ich schreiben uns SMS, über die Seele des kommenden Stücks. Das, wo kein Schulterklopfen hilft. Ich schreibe ihm per SMS: "Es ist ja nicht einfach ok. Nichts ist ok". René antwortet mir: "ja nichts ist ok". "Das ist doch der Titel". Er lacht jetzt bestimmt, denke ich. Anna gefällt er auch. Wir reden darüber, warum er uns gefällt. Greifen zu, erst einmal. Es wird der Arbeitstitel. Es wird der endgültige Titel. In jeder Hinsicht.

Zweite Bestellung: das Ja zum Leben

Meine zweite Bestellung bei René, noch aus den "Let's Dance"-Überlegungen: Was würde passieren, wenn wirklich gesprochen werden würde. René sagt: Ja , das, was man nicht abnicken kann. Ja. Sarah Kane, sage ich. Wie würde das klingen. Er schreibt, abends. Ich lese es am nächsten Morgen. Ja. Ja. Ich vermisse nur: das Ja zum Leben, Nietzsches "Ja". Zu allem Schmerz, aller Freude, zu aller Ödnis, zu Allem. Er: aber das habe ich doch... wir suchen im Text. Bisher finden wir beide nur "Nein". Wir lachen. Über den Abgrund dieser Texte hinweg. René schreibt weiter.

Arbeite in Potsdam währenddessen an "persönlichem Sachbuch", Arbeitstitel "Das Gegenteil von Schönheit", über Ästhetik von Neubaugebieten; bin aufgewachsen in einem Neubaugebiet, Hamburg-Nordost, im Falladabogen. Lese Peter Walthers bewegende Biographie über Rudolf Ditzen (= Fallada), Falladas Brief aus der Psychiatrie, aus dem Entzug: "Irgend etwas in mir ist nie ganz fertig geworden, irgend etwas fehlt mir. (…) Ich wär gern selbst mal zu jemandem rübergegangen". Ich denke dabei an René. Denke ihn immer mit. Ich ihn, er mich. Sende ihm den Brief. Es geht ihn an; wusste ich. Am nächsten Tag dieser Text, Sätze nur aus Subjekt, Objekt, Prädikat, ein Auszug:

Ich will nichts.
Ich will nicht, dass aus Angst etwas geboren wird.
Ich hasse das Gefühl wenn du da bist.
Ich liebe dieses Gefühl wenn du da bist.
Ich liebe sonst nichts.
Ich hasse alle andern Milliarden Gefühle.
Alles was nicht unendlich ist, ist klein klein klein.
Ich hasse es, wenn jemand schläft, als wäre er noch im Gefängnis.
Ich hasse jeden Streit über den Krieg.
Meinungen können von mir aus auseinandergehn.
Ich hasse es, wenn wir getrennt schlafen, der eine bei Minus 4 Grad auf der Straße und der andere
in seinem Bett.
Ich hasse es wenn wir im Krieg sind.
Ich kann nicht mehr so weitermachen.
Ich kann nichts mehr machen, das mich ans Weitermachen erinnert.
Ich kann nichts mehr ansehen.
Ich kann nichts mehr anfassen.
Ich hab zuviel von der Couch meiner Eltern in meiner DNA.
Ich hör noch immer das Knautschen der Knautschlackcouch in meiner DNA.
Ich hab zu wenig an der Brust meiner Mutter herumgekaut.
Ich bin zu viel an der Brust meiner Mutter hochgekrochen.
Ich hab zu wenig geduscht als Baby.
Ich hab zu wenig geduscht als greiser Mann.
Ich finde, alle um mich herum haben zu wenig geduscht.
Ich finde, die wenigsten da draussen sind für das 21. Jahrhundert geeignet.
Ich sehe überhaupt nichts mehr.
Ich denke überhaupt nichts mehr.
Ich kriege leider zu viel hin.
In mir ist alles fertig.
In mir ist nichts richtig fertig.
Ich mag leider auch niemanden.
Ich mag noch viel weniger als niemanden.
Ich sterbe in den Augenblicken die zu weit weg sind.
Ich sterbe erst ganz weit hinten wo nur noch Arschlöcher sind.
Ich sterbe unter unvorstellbaren Qualen.
Ich lebe unter unvorstellbaren Qualen.
Ich arbeite unter unvorstellbaren Qualen.
Ich liebe nur dich unter unvorstellbaren Qualen.
Ich liebe zu wenige.
Ich würde gerne mal selbst zu jemandem rübergehn.
Ich wäre gerne mal rübergegangen.
Ich würde gerne einmal rübergegangen sein.

Schwer, das jetzt zu lesen. Zu sprechen. Mir ist klar: Das wird ein zentraler Text werden. Auch im Gesamtwerk. Eine andere Sprache. Eine ganz andere Sprache. Wie wo wann wer ihn spricht? Ich spiele ja angeblich drei Personen (sage aber, dass ich vier spiele), plus Erzähler: Paul, Stefan, Claudia. Wer spricht diese Texte? Wer weiß das schon. Kleist: "die dunkle Ahnung, die das Rad des Geistes und der Phantasie antreibt", sinngemäß.

Ohne René macht es nicht wirklich Freude

Haben also nun die Erzähler-Texte, die WG-Szenen, die ich improvisiert habe. Kommt noch der vierte Mitbewohner vor? Wer ist der Vierte? Am Anfang des Abends erlebt man einen Anruf, der tatsächlich so geführt und dann transkribiert wurde. Es geht um Finger, die operiert werden müssen, Zahnarztbesuche, Witzebücher.

René telefonierte, ich hatte an diesem Tag auch das Witzebuch meines Sohnes mit dabei. Und eine Wurzelbehandlung. Wo führt das alles hin? Worauf steuern wir zu? Das wissen wir nicht. Das ist aufregend, gefährlich, die Befreiung wird kommen, von außen. Woher sonst? Würde gerne, dass die Gewaltszene vom Anfang noch einmal auftaucht. Wann, wie – das wird sich zeigen. Immer daran denken, dann kommt die Antwort. Immer wieder das Ganze und die einzelnen Teile in sich bewegen.

ja nichts ist ok1 77307mc c thomas aurin uFabian Hinrichs im Zwiegespräch mit sich selbst in" ja nichts ist ok " an der Volksbühne in Berlin © Thomas Aurin (Montage)

Habe noch einen zweiten Traum: Statisten (10? 13?) begraben mich unter sich mit ihren Körpern. Vorher frage ich sie: Wer seid ihr? Wir kommen um Dich zu begraben. Die Statisten kommen während der ersten Endproben, René ist im Krankenhaus. Ich versuche, alles, was wir haben, zu inszenieren. Niemand kann von sich selbst wegtreten. Ich wechsle Stühle, Brille auf, Brille ab usw., die tollen Kostüme von Tabea (Braun). Ohne René macht es nicht wirklich Freude.

Probiere die Nachtszene: Ein Schrankbett wird ausgeklappt, dann das andere. Stille. Da, genau da und dann müssen sie kommen, die Sätze, die nicht abzunicken sind. Da. Paul sagt es der schlafenden Claudia. Paul sagt es sich, allen. Ich mir? René sich? Allen? Ich bin froh, es stimmt. Ich würde es René gerne zeigen. Es wird ihm gefallen, das weiß ich.

Dann Wiederholung der Gewaltszene am Pool, vorher langer Dialog am Pool zwischen Paul und Claudia, ich finde meine Texte zu flächig, verschiebe aber die Probleme und gehe zum Ende über, das Ende mit den Statisten. Sie sind nun einmal extra einbestellt worden, obwohl mittlerweile ist klar: Werden die Premiere auf jeden Fall verschieben müssen.

Wie nennt man ein weißes Mammut?

Trotzdem: Wir proben. Das Meiste wird später so auch bestehen bleiben, auch das Ende. Die Witze aus dem Büchlein meines kleinen Sohnes (er weiß es nicht): Statisterie auf von links nach VML, langsam, blicken zu F. P: Was sind das für Leute? F setzt Brille auf S: Sie kommen um dich zu begraben, (Erzähler). P: Was? Was? Menschen begraben F (vor Drehscheibe). F: Darf ich euch noch was sagen? Wie nennt man ein weißes Mammut? Hellmut. Was sitzt im Baum und weint? Eine Heule. Fragt die eine Kerze die andere: Was machst du heute Abend? Ich gehe aus. 29 LICHT: fade zu black Alle stehen auf, Vorstellungsrunde: F: Wer bist du? : Ich heiße (…) F: Und wer bist du? : ich heiße (…) Und wer bist du? … F: Ich heiße Fabian.

Es fehlen aber noch zentrale Texte. Das ist so. René kommt aus dem Krankenhaus. Ich spiele ihm alles in seiner Küche vor, vor seinem sprechenden Kühlschrank, der später auf der Bühne stehen wird, als Sprecher auch (es ist natürlich nicht derselbe Kühlschrank); damit er einigermaßen vorbereitet ist, auf alles, was auf der Bühne bisher stattfindet. Ja! Aber es fehlt etwas, etwas schwer zu Greifendes. Nicht Moral. René schreibt in den nächsten drei Tagen drei Texte, alle sind sehr stark. Zwei werden später vorkommen (siehe Nachruf).

Eine Frage bleibt: "Wer ist der Vierte Mitbewohner?" frage ich ihn. Ich möchte, dass wir das nicht völlig unbeantwortet lassen. Hatte ein Interview von Joseph (Vogl) mitgebracht aus 2017. Der Attentäter aus Las Vegas, 2017, Countryfestival, unzählige Tote. Die Feindseligkeit, das ist es. Ja. Das ist es.

Das Wesentliche gehört nicht hierher

Das war es. Und das war es natürlich auch gar nicht. Die vielen inhaltlichen Pfade, die unzähligen unzähligen nahen Gespräche, der gestimmte Raum zwischen René und mir, sein Schreiben, zuhause - das hat hier keinen Platz. Es ist das Wesentliche. Und das Wesentliche gehört nicht hierher. Es gibt keine Sprache dafür. Vielleicht irgendwann? Für die Trauer ? Wenn ich in der Stille bin, wird es dunkel. Wie ein 10.000 Meter tiefer Ozean.

Irgendwann kamen die Worte, die Bilder, und die Stimmungen aus sich selbst heraus. Wir haben viel gestrichen, viel verdichtet.

Das Leben können wir nicht verlängern. Resi. Aber wir können es verdichten.

Das Leben konnten wir nicht verlängern. Reserl. Aber wir konnten es verdichten.

 

Fabian Hinrichs, geboren 1974 in Hamburg, ist Schauspieler und Regisseur. Er war Ensemblemitglied der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 2000 bis 2005 während der Intendanz von Frank Castorf und machte sich dann als freier Schauspieler selbstständig. Er zählt zu den renommiertesten Film- und Fernsehschauspielern Deutschlands. Im Theater war er in den letzten Jahren nur sporadisch zu erleben und wenn, dann immer bei René Pollesch. Zuletzt erarbeiteten sie ihre Stücke, offiziell ausgewiesen, in Co-Regie. Während der Intendanz von René Pollesch an der Volksbühne zeigte Hinrichs auch seine eigene Lord-Byron-Umsetzung Sardanapal.

Der hier veröffentlichte Text erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

 

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Kommentare  
Hinrichs über Proben mit Pollesch: Witzbuch
Ja, so geht Theater - als Auskramen von Resonanzräumen miteinander kommunizierender Personenkreise. Es hat was Kannibalistisches. An sich. Insofern ist der Text nicht neu, nur mit anderen Personen, konkret benannten und anderem Text. Ein Frage bleibt und bohrt sich in mein Hirn: Warum weiß der (kleine, aber immerhin zur Sammlung von Konkretem fähige) Sohn des Schauspielers nicht, dass Papa sein Witzbuch zu kommerzialisierbaren Zwecken benutzt?
Hinrichs über Proben mit Pollesch: Verständnisfrage
Liebe*r KunstundFreiheit, eine Frage: "der Text [ist] nicht neu, nur mit [...] anderem Text"? Wie geht sowas?
Hinrichs über Proben mit Pollesch: Gute Frage
Lieber Jens Raschke: Gute Frage gefunden, nicht wahr ?- kann man drüber nachdenken, wenn man sie erst einmal selbst gefunden hat...
Hinrichs über Proben mit Pollesch: Zynisch
#1 Was für ein zynischer, bitterer und bösartiger Kommentar. Der Text von Hinrichs bezeugt eben kein "Auskramen", es ist eben keine Dokumentation von etwas "Kannibalistischem". Und es ist eben nicht etwas Altbekanntes. Sondern der Text ist ein bemerkenswerter Ausweis von etwas sehr Schönem und Seltenem: wie eine künstlerische Welt entsteht; indem man die Welt um einen herum hineinlässt in das Theater. Die Frage nach dem "Witzebuch": es ist ganz unmöglich, das Stück gesehen zu haben und dann diese wiederum bösartige "Frage" zu stellen, die ja gar keine Frage ist. Denn wenn man das wundervolle Stück gesehen hat, kommt einem gar kein giftger Gedanke, der sich im Verwertungs- und Ausbeutungsbereich abspielt. Sondern man wird Zeuge von etwas Größerem: nämlich überpersonaler Kunst. Ist man natürlich verbittert, unfreundlich und missgünstig, dann sieht man wahrscheinlich nur die eigene Mickrigkeit in Allem. Und das ist dann auch eine Welt, die aber eher die Form eines engen kleinen Streifens besitzen dürfte. Was der Text zeigt ist ja eben das Wunder der Kunst, wenn sie gelingt: aus Kleinstem und Größtem, Essentiellstem und Randständigstem entsteht eine verdichtete Welt großer Schönheit und Kraft. Schauen Sie es sich an, es wird Sie verändern, wenn Sie es zulassen.

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Liebe Kommentartor*innen,
vorsorglich bitten wir darum, diesen Kommentarbereich nicht für gegenseitige Anfeindungen zu gebrauchen.
Wir behalten uns vor, entsprechende Beiträge nicht zu veröffentlichen.
Mit herzlichen Grüßen aus der Redaktion
Janis El-Bira
Hinrichs über Proben mit Pollesch: Mehrere Wahrheiten
Vielleicht könnte es 2024 wenigstens in einem Forum wie diesem möglich sein, dass alle den verstörenden Gedanken aushalten, dass es mehrere Wahrheiten geben kann. Dass ein Text oder eine Aufführung verschieden gelesen werden können. Und ich fände es auch dem Werk und der Haltung eines besonderen Künstlers wie Rene Pollesch angemessen, dass jemand auch kritisch schreiben darf, ohne dafür von denen, die sich erleuchtet fühlen, auf einer persönlichen Ebene nieder gemacht zu werden.
Absurd, wenn der Moderator im Grunde schreibt, bitte sich hier nicht persönlich angreifen, aber einen Angriff veröffentlicht er dann noch.

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Werter Alexander,

ich teile Ihre Position. Der Kommentar #4 bleibt aber m.E. haarscharf unter der Schwelle eines persönlichen Angriffs. Daher auch die Verwarnung - trotz Veröffentlichung.
Mit herzlichen Grüßen
Janis El-Bira
Hinrichs über Proben mit Pollesch: Fan der ersten Stunde
Als Pollesch-Fan der ersten Stunde und jemand, der mit anderen Ästhetiken oft wenig anfangen konnte, teile ich Ihre Begeisterung für den Abend, liebe Julia.

Aber wir sollten vorsichtig sein, andere als mickrig oder verbittert abzuqualifizieren. Das wirkt unangenehm sekten- und jüngerinnenhaft. Dabei ertappe ich mich auch selbst.

Der Text von Herrn Hinrichs spricht für sich. Danke, dass Nachtkritik dieses Vermächtnis geteilt hat.
Hinrichs über Proben mit Pollesch: Nichts geschmälert
# Sehr geehrte Julia, ich hatte das "Auskramen" und auch das "Kannibalistische" absolut nicht zynisch, sondern todernst (im Zusammenhang mit einem durch Tod gerade vollendeten Lebensweg m.E. angemessen) als ganz normale, weil notwendige Grundbestandteile wirklich guten Theaters, gemeint.
Und auch die Frage nach der - durch Hinrichs eingestandene Unwissenheit des eigenen Sohnes hinsichtlich der Benutzung von dessen Witzbuch - meinte ich todernst. Weil ich denke, dass wir ganz allgemein - sowohl im Theater als auch in der Literatur - nicht unbeteiligte Dritte im Unwissen darüber lassen sollten, wenn wir etwas, was ihnen eigen ist, für unsere Zwecke - auch nicht an-verwandelt - benutzen. Auch und erst recht dann nicht, wenn es sich dabei um Kinder handelt... Da stimmt dann für mich und meine Wahrnehmung bei allem Verständis für den Schmerz (woher wollen Sie wissen, dass ich den nicht teile???) irgendwas mit diesem Text nicht und nur Hinrichs selbst kann wissen, was genau nicht, wenn es stimmen sollte, was ich wahrgenommen habe und für ihn wahrnehmbar äußere - das schmälert weder Hinrichs Leistung, noch dessen Trauer noch (und vllt am wenigsten das!) das Andenken an Pollesch-
Hinrichs über Proben mit Pollesch: Muss man dürfen
Alles gut und schön, aber ich finde Geschichten über Witzebücher und Marmorkuchen, wenn sie hier veröffentlicht werden, muß man auch doof finden dürfen.
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