Die große Wunschmaschine

25. September 2023. Regisseurin Barbara Frey bilanziert ihre dreijährige Intendanz beim NRW-Landesfestival der Künste Ruhrtriennale, die soeben mit einem Nina-Hoss-Solo zu Ende gegangen ist.

Interview von Andreas Wilink

Barbara Frey, Intendantin der Ruhrtriennale 2021–2023, in der Jahrhunderthalle Bochum © Daniel Sadrowski

25. September 2023. Barbara Frey, geboren 1963 in Basel und von Hause aus Schlagzeugerin und Regisseurin, übernahm nach ihrer Intendanz am Zürcher Schauspielhaus (2009–2019) die Leitung der Ruhrtriennale. Im Interview mit Andreas Wilink blickt sie auf die drei Jahre ihrer Intendanz zurück.

Andreas Wilink: In einer Ihrer diesjährigen Festival-Eigenproduktionen, dem in die Tiefe und Unterwelt vordringenden Musiktheater von Georges Aperghis, "Die Erdfabrik", lautet ein Vers: "Wo bin ich?" Diese Frage ist dem musikalischen Drama nicht unbekannt. "Wo bin ich?", fragt in Mozarts "Zauberflöte" Tamino, als er erwacht. "Wo bin ich hier?" – Haben Sie sich diese Frage selbst auch verwundert gestellt, als es für Sie, die Schweizerin, losging im Revier und nun, nachdem Ihre Intendanz endet, immer noch und anders?

Ich habe das Raunen durchaus vernommen, unser Programm sei so düster. Ich verschweige nicht, dass sich da Druck aufgebaut hat. Geht es nicht etwas fröhlicher? – Wie bitte? Angesichts unserer krisenhaften Welt! Das verstehe ich dann nicht mehr. So fühlen und denken Menschen in einer Krise. Dem sollte man sich als Künstler*in stellen.

Barbara Frey

Barbara Frey: Ich würde es eher umgekehrt sagen: Wo ist der Ort, an dem sich diese Frage nicht stellt. Sie stellt sich für mich überall, auch dort, wo man sich beheimatet fühlt. Ich kenne keinen Unterschied in der Grundempfindung, im Nicht-Wissen, wo ich bin. Die Frage bleibt virulent, weil sich der Geist in einer Weise bewegt, die sich nicht kontrollieren lässt. Es ist doch nicht so, dass ich sage, wo mir etwas vertrauter ist, da bin ich ganz ruhig, und wo nicht, bin ich aufgeregter. Das ist auch der Unterschied zwischen Mensch und Tier. Für einen neugierigen Menschen stellt sich die Frage immer.

Anders gefragt, hat die Spezifische des Drei-Jahres-Zyklus und hat das Eigene der Ruhrgebietslandschaft etwas mit Ihnen gemacht? Was hat Sie überrascht, womit haben Sie nicht gerechnet?

Wir, unsere Kurator*innen, die Künstler*innen und das Team der Ruhrtriennale, haben mit vielem nicht gerechnet. Zuallererst haben wir nicht mit Covid gerechnet. Die Pandemie hat uns schon in der Vorbereitungsphase, dann in den ersten beiden Spielzeiten 2021 und 2022 begleitet. Sie und ihre Folgen hat unser Leben sehr verändert, jenseits vom Festival, dennoch auch in der Binnenstruktur eines Betriebs wie dem unseren. Wir haben inhaltlich auf vielen Verschiebebahnhöfen rangiert; 2022 mussten wir auf die Duisburger Kraftzentrale verzichten und konnten erst in der dritten Saison die ganz große Oper – Leoš Janáčeks "Aus einem Totenhaus", inszeniert von Dmitri Tcherniakov – herausbringen. Im zweiten Jahr folgte der Krieg gegen die Ukraine, mit allem, was sich damit bis heute verbindet. Als dritter Faktor spielen die massiven klimatischen Veränderungen eine Rolle für ein Sommerfestival, das in Industriehallen stattfindet.

Klimatische Störungen, das ließe sich auch metaphorisch verstehen.

Ich meine zunächst Fragen nach struktureller und ökologischer Nachhaltigkeit. Wenig nachhaltig ist etwa der schnelle Wechsel der Intendanz und dem kuratorischen Team im Drei-Jahres-Rhythmus. Hinzu kommt die Architektur der Industriedenkmäler, die hinsichtlich der Freisetzung von Emissionen Herausforderungen mit sich bringt, deren Bewältigung oft jenseits unserer Wirkungsmacht stehen und dennoch ein neues Handeln erforderlich machen. Die Unberechenbarkeit der Temperaturen ist eine weitere Tatsache, die etwa dazu geführt hat, dass wir den Sommernachtstraum zunächst in Skipullovern und Wollsocken geprobt haben und die Halle aufgeheizt werden musste, bevor wir dann ein paar Wochen später im Unterhemd da standen. Und so wird's ja weitergehen in der Zukunft. Trotzdem sind wir extrem privilegierte Menschen, nicht vom Krieg bedroht. Uns ging es in den drei Jahren oft so, dass wir durch die Einschränkungen unseren Status und unsere Freiheit, auch die Freiheit, ein solches Festival zu gestalten, noch mehr zu schätzen gelernt haben. Darüber hinaus habe ich den Eindruck gewonnen, dass Deutschland extrem bürokratisch ist, kein inspirierendes Klima damit schafft, um in Ihrer Metaphorik zu bleiben. Da muss man sich etwas überlegen.

Es gab bisher nur zwei nicht Regie führende Intendanten, wobei der Gründungsintendant Gerard Mortier den Rahmen gesetzt und Stefanie Carp keine Spur oder nur eine politische Schleifspur hinterlassen hat; Jürgen Flimm wiederum hatte sich sehr zurückgehalten beim Inszenieren. Übernimmt sich die Person, die die Intendanz innehat, mit der Doppelbelastung? Wie frei konnte Ihr Kopf für die eigene Kunst sein?

Ich hatte das in dieser Form bereits zehn Jahre lang in Zürich gemacht – sehr gerne gemacht, und auch hier im Ruhrgebiet. Ich finde es für mich gut, dass man, wenn man an der Spitze einer solchen Organisation steht, parallel auch im Stollen ist, bildlich gemeint. Wie zuletzt in unserem Container-Dörfchen bei der Mischanlage der Kokerei Zollverein in Essen, wo ich Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" inszeniert habe und alle am künstlerischen Prozess Beteiligten ständig zusammen waren.

In der Mischanlage mischte es sich gewissermaßen.

{zitat}

(Frey lacht) Ja, ganz genau. Als Regisseurin bin ich anders nahbar, auf der Suche. Da ist aber jedes Individuum anders. Und dass es in der Doppelfunktion Belastungs-Cluster gibt, ist ja normal. Und ich hatte ein Superteam.

Sommernachtstraum Ensemble Burgtheater hinten Sneesby rechts NagelecMatthias Horn RuhrtriennaleShakespeares "Ein Sommernachtstraum", von Barbara Frey inszeniert, läuft nach der Ruhrtriennale-Premiere im Repertoire des Wiener Burgtheaters © Matthias Horn / Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale hatte eine Schweizerin, einen Flamen, demnächst noch einen Belgier mit Ivo van Hove, einen Niederländer und ansonsten einige Westdeutsche als Intendant*innen, aber niemanden aus der ehemaligen DDR bzw. den neuen Bundesländern. Dabei wäre die Erfahrung des Strukturwandels, die auch Ihr Bühnenbildner Martin Zehetgruber aus seiner Heimat, der Steiermark, kennt, des Risses in der Lebensgeschichte, der Zerstörung von Landschaft doch ein Gemeinsamkeit stiftendes Element. Ich will Sie nicht nach möglichen Namen fragen; mir geht es vielmehr um den Wahrnehmungshorizont der verantwortlichen politischen und kulturbürokratischen Gremien. Darüber, nehme ich an, können Sie etwas sagen...

(Frey zögert): Ich glaube, dass sich dieses Festival in einem grundlegenden Wandel befindet, wie überhaupt das kulturelle Leben. Damit meine ich nicht nur die Dringlichkeit von Nachhaltigkeitsbestrebungen in der Kultur angesichts der Klimakrise. Das Publikum diversifiziert sich. Die Künstler*innen-Szene tut dies ebenfalls. Es wird nach anderen und erweiterten Formen der Teilhabe gefragt oder verlangt. Das Kaufverhalten der Menschen hat sich zudem verändert. Wie plant man und wie weit im Voraus, welche Einflüsse spielen hinein? Und, das möchte ich schon sagen, hier im Revier existiert eine gewisse Beharrungskraft, was den Gründungsmythos der Ruhrtriennale und ihre als legendär erinnerten Aufführungen angeht. Damit wurden wir ununterbrochen konfrontiert. Ich finde, es widerspricht dem Geist des Festivals, die Intendanzen gegeneinander auszuspielen, jede darf, muss anders ausgerichtet sein. Mittlerweile gibt es auch anderswo in der Welt Festivals, die in Industriebrachen spielen, das Alleinstellungsmerkmal der Ruhrtriennale schwindet. Das ist nicht schlimm, man muss sich nur darüber klar sein. Und es gibt hier, gut begründbar gewiss, bestimmte nostalgische Kräfte. Über die Kumpel-Mentalität wird immer noch viel geredet. Das hat auch seine Bedeutung, hat viel Positives, Identitätsstiftendes, davor habe ich Hochachtung. Aber das gigantomanisch nostalgische Potenzial verstellt auch etwas. Man muss loslassen. Nostalgie kann sonst auch verhindern. Mir fällt dazu der Titel der Autobiografie von einer meiner All-Time-Favorites, von Simone Signoret an: im Original "La Nostalgie n’est plus ce qu’elle était". Diesem Prinzip bin ich hier manchmal begegnet: einer Nostalgie der Nostalgie.

Ein Grundproblem stellt sich seit Beginn: das Bespielen der Industriehallen und -areale und Ins-Werk-Setzen ihrer Eigengesetzlichkeit, was Raum, Größe, Struktur, Bedingungen angeht. Es gehört präzises Deuten und Schauen dazu, um in Ihren drei großen Inszenierungen – Poe, Schnitzler, Shakespeare –, koproduziert mit dem Burgtheater, das eine konventionelle Bühnenperspektive verlangt, das Verhältnis der Aufführung zum jeweilig anderen Spielort zu erfassen. Ohnehin muss man sich nach zwei Festival-Jahrzehnten vielleicht von der Idee verabschieden, die womöglich nur ein Phantom war, dass die Hallen ihr Eigenleben permanent herausposaunen sollen. Es sind Spielorte, die sehr unterschiedliche Passepartouts bilden können für sehr unterschiedliche künstlerische Perspektiven.

Ich muss zunächst auf eine publizierte Behauptung und ein mich sehr irritierendes Gerücht reagieren, meine Inszenierungen seien hier nicht erdacht und konzipiert worden, sie seien importiert. Das ist falsch. Die Idee für alle meine großen, hier zur Premiere gebrachten Projekte kam mir ausschließlich in dieser Region, in der ich viel unterwegs war. Die Arbeiten entsprangen meiner ureigenen Erkenntnis, mich hier mit diesen Stoffen, Poes "Der Untergang des Hauses Usher“, Schnitzlers "Das weite Land" und Shakespeares "Ein Sommernachtstraum" zu beschäftigen. Der Start mit Edgar Allan Poe war in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck, der eigenwilligsten Halle mit ihren Monstermaschinen, die so viel an Eigenschwingungen hat, dass man als Künstler*in mit Wucht darauf reagieren muss. Manche Künstler*innen sagten sogar, hier könnten sie wegen der Dominanz des Raumes nicht arbeiten. Bei Schnitzler entwarfen wir in der Jahrhunderthalle Bochum eine Black Box, um damit Erstaunen zu erregen: Wo ist sie hin, die Halle!? Zum Ende des Stückes erscheint dann mit der riesigen Tunnelfräse die Realität des Raumes. Schließlich die Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord: Sie stellt mit ihrer Leere und Weite die Welt des "Sommernachtstraums" in die totale Einsamkeit.

... und erzählt so von der Stellung des Menschen im Kosmos.

Ja, diese einsame Scheibe der Drehbühne ist ins Nichts gesetzt. Shakespeare lebte zwar schon im Kopernikanischen Weltbild, obwohl er vielleicht eigentlich Ptolemäer war und sich die Welt als Scheibe vorstellte. Durch unsere verwendeten Materialien sieht die Bühnengestalt aus, als sei sie von draußen ins Drinnen geholt, als gehöre sie tatsächlich in den Landschaftspark. Wir hatten, entgegen einigen medialen Unterstellungen, eher bei den Rückumsetzungen an der Wiener Burg zu kämpfen, um das alles wieder anzupassen.

Genau das, was Sie beschreiben, nenne ich subtil, nicht plakativ und grob. Dieses Sich-in-Beziehung-Setzen ist ein intellektueller Vorgang. Das heißt, was Sie interessiert, seelischen Grenzregionen und Zwischenzuständen nachzuspüren, bei Poe, bei Schnitzler, bei Shakespeare, bei Dostojewski, brachte Sie in keinen Konflikt mit dem Imperativ, den die industriellen Relikte aufstellen?

Nein, ich habe mich nicht eingeschränkt gefühlt. Ich bin ja nicht alleine in den Hallen und ihnen ausgeliefert, wir machen gemeinsam etwas. Toll dabei ist, wie unterschiedlich die Wirkung jeweils auf ein Kollektiv ist. Übrigens, ich kann selbst auch Platz machen und jemandem den Vortritt lassen, um zum Beispiel eine so gewichtige Oper wie "Aus einem Totenhaus" als Eigenproduktion herauszubringen. Um als Festivalmacherin solche Produktionen zu ermöglichen, brauche ich gemeinsam mit anderen Institutionen koproduzierte Arbeiten. Diese Mischkalkulation hat im Übrigen bei der Ruhrtriennale Tradition. Und es ist richtig, was Sie sagen. Ich fände es schwierig, den Kunstschaffenden zu diktieren, wie sie die Hallen interpretieren sollten. Jede*r ist auf eigene Weise mit den Räumen umgegangen.

Die Hallen sind Mahnmale in noch einem anderen Sinn. Die moderne Menschheit, so Peter Sloterdijk, kann als Kollektiv von Brandstiftern gelten, die an die unterirdischen Wälder und Moore Feuer legen. Kehrte Prometheus heute auf die Erde zurück, würde er seine Gabe womöglich bereuen angesichts des drohenden Untergangs der Welt im Feuer globaler Erwärmung. Die vulkanischen Hallen sind Zeugnisse unserer Hybris.

Unbedingt, die Hallen sind Zeugnisse einer gigantischen Zerstörungswut und zugleich Zeugnisse unserer Verletzlichkeit. Bei Dostojewski gibt es am Ende seiner "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“, die Nina Hoss vorträgt, die Stelle, wo es heißt, dass der Mensch eher im Prozess des Strebens zum Menschsein gelangt und das Ziel gar nicht erreichen will. Dostojewski wählt den fantastischen Vergleich mit dem niemals sich verändernden Ameisenhaufen. Der Mensch hingegen baut etwas und verweigert sich dann, darin zu wohnen, während die Ameisen den Ameisenhaufen haben und immer haben werden. Wir aber wollen immer mehr und mehr. Und wenn wir es haben, zerbricht es uns in den Händen. Die Hallen sind große Ingenieurskunst und stellen ein gigantisches Fragezeichen dar. Noch das würde ich nach drei Jahren sagen: Man sollte die Hallen nicht zu sehr romantisieren. Die Hallen sind nicht besonders romantisch, wenn man sich so lange wie wir darin aufgehalten hat. Sie sind herausfordernd, rough und manchmal auch von wahrhaft rätselhafter Schönheit. Aber etwas Kitschiges daraus zu machen, nein, das geht nicht.

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch1 c Matthias Horn Ruhrtriennale2023Barbara Freys Auftaktinszenierung der Ruhrtriennale 2021: "Der Untergang des Hauses Usher" nach Edgar Allan Poe © Matthias Horn / Ruhrtriennale

Das Gegenteil wäre für Ihre drei Jahre richtig. Es bestand Verdunkelungsgefahr.

Ich habe das Raunen durchaus vernommen, unser Programm sei so düster. Ich verschweige nicht, dass sich da Druck aufgebaut hat. Geht es nicht etwas fröhlicher? – Wie bitte? Angesichts unserer krisenhaften Welt! Das verstehe ich dann nicht mehr. So fühlen und denken Menschen in einer Krise. Dem sollte man sich als Künstler*in stellen.

Noch ein Aspekt, den die Hallen enthalten. Das "Remember me", das wir auch aus Purcells Lamento der Dido kennen und das Verantwortlichkeit einschließt, ist Ihnen ein zentraler Beweggrund. Und tauchte in unterschiedlicher Gestalt im Programm auf, etwa in Julian Rosefeldts filmischer Groß-Installation "Euphoria" über die Gier des Menschen, den Fluch des Unbelehrbaren und zivilisatorische Ignoranz. Die Hallen sind vieldeutig.

Man muss es ganz schonungslos sehen. Es bestehen viele Qualitäten nebeneinander. Manchmal kommen die Hallen mir vor wie Lebewesen, die oft aus unerfindlichen Gründen selbst Geräusche produzieren. Irgendwo entlädt oder entsperrt sich etwas. Durch Temperaturunterschiede vielleicht. Mich amüsiert das, weil eine meine Großmütter tatsächlich in einem Geisterhaus gelebt hat, wo es schaurige Geräusche gab und ich als Kind Angst hatte, dorthin zu gehen, weil es mir dort unheimlich war. Die Hallen haben ein Eigenleben, manchmal wirken sie abweisend, und man denkt, sie hätten keine Lust, Kunst zu beherbergen; oder sie wirken wie gleichgültige Riesen; manchmal sind sie sehr zart und einladend und, je nachdem, wie sie ausgeleuchtet werden, zeigen sie wesenhafte Züge und erinnern mich an einem Walfischbauch. Und manchmal sind es einfach nur Rosthaufen.

Noch ein letztes zu den Hallen. Sie behaupten auch eine rabiate Form von Machtpolitik, sind Ausdruck von Herrschaft, männlicher Herrschaft. Sie, Barbara Frey, machen einen Systemwechsel aus und beklagen den Vorrang der Ökonomie, der Effizienz, des Consulting, der Marketing-Strategien. Wie sind da Ihre Erfahrungen?

Das gibt es, natürlich. Ich müsste lügen, wollte ich das verneinen. Schon auf Grund der anfangs genannten Krisen erlebten wir nicht nur Harmonie. Darüber hinaus: Die Ruhrtriennale ist auch eine große Wunschmaschine, muss unterschiedlichste Perspektiven mitdenken. Da bestehen auseinanderdriftende Sehnsüchte, und man muss, einhergehend mit der bereits benannten Bürokratisierung, zusehen, wie sich die eigene Grundspannung halten lässt.

Wo liegen die Ursachen? Bei den Hierarchien und Ebenen, kommunalen, regionalen, Landesverantwortlichkeiten, in denen das Festival eingehängt ist?

Damit hat es auch zu tun. Aber auch mit dem herrschenden Vergaberecht hierzulande, das einen fairen Wettbewerb garantieren soll und sehr viel Bürokratie mit sich bringt. Dazu kommen – durch die vielfältigen Krisen unserer Zeit – der grassierende Fachkräftemangel und längere Materiallieferfristen.

Programmatisch war es eine weiblich autonome, nicht weiblich exklusive Ruhrtriennale unter anderem mit Leonora Carrington und Olga Neuwirth, Florentina Holzinger, Mette Ingvartsen, Ligia Lewis, Constanza Macras, Sarah Nemtsov, Eszter Salamon, Elisabeth Stöppler, Gisèle Vienne – und mit Barbara Frey. Eine starke Setzung.

Eine freie Entscheidung, weil wir diese Künstlerinnen bewundern, sie auf diese Bühnen gehören. Ich habe mit meinen 60 Jahren – die Theaterfrauen meiner Generation sind nicht eben auf Bäumen gewachsen, um zu Tausenden gepflückt zu werden – kein Verständnis mehr dafür, wenn der Anteil von Frauen nicht stimmt. Das Festival war bislang sehr männlich ausgerichtet, rein prozentual. Ich halte diese andere Gewichtung für absolut notwendig. Es wird sonst langweilig bis unerträglich bei einem männlich ausgerichteten Regiekult, der doch wohl Rost angesetzt hat. Wobei ich explizit sage, dass es viele, vor allem junge Männer gibt, aber auch solche, die gleich alt sind wie ich und älter, die auch die Nase von einem mehr oder minder versteckten oder manifesten Antifeminismus voll haben. Trotzdem, es ist irre schwer, das zu verändern. Wie kann man endlich Aufsichtsrat-Gremien diverser besetzen und nicht bloß davon reden! Wenn ich mir die Weltpolitik anschaue, ist der Feminismus sehr zurückgeworfen worden. Es gibt einen großen Backlash auch für andere emanzipatorische Bewegungen. Da sind Beharrungskräfte am Werk, auch des Patriarchats, oft so laut, dass es einem in den Ohren dröhnt, und teilweise – und das ist ebenso gefährlich – indem sie sich so ein bisschen verlieren in Strukturen und in einem vermeintlich modernistischen Alltagsdenken, während bei genauem Hinsehen viel Konservativismus unterwegs ist.

Zum Schluss, ich habe mich gefreut über Ihre Art des Abschiednehmens. Sie lassen Friedrich Hollaenders "Wenn ich mir was wünschen dürfte", gesungen von Marlene Dietrich, und Hilde Knefs "Eins und Eins, das macht Zwei" in den schweren Dostojewski der "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch", die bei Nina Hoss ganz leicht und durchsichtig klingen, hineinspielen, so dass es changiert und die Gravitas des Textes mit Humor entlastet. Es hört sich an, als würde das Gebäude in seinem Tiefinneren die beiden Chansons und ihre singulären Interpretinnen gebären. Kein Zufall!

Schön, dass Sie das noch ansprechen. Beide, Dietrich und Knef, sind eng mit meinem Leben verbunden. Als kleiner Mensch habe ich schon die Knef gehört, die wunderbare Langspielplatte "Halt mich fest", eine Lieblingsplatte meiner Mutter, die den Namen so lustig aussprach: wie "Kneff". Ella Fitzgerald, die wiederum meine Eltern beide liebten, hat die Knef "die größte Sängerin ohne Stimme" genannt. Was für ein Kompliment! Da ist die Selbstironie, ihre Trockenheit, das Schmirgelpapierhafte, das die Knef hatte. Und die Dietrich: Zum einen erinnere ich mich an die Fotos der Transparente mit "Marlene, go home", als sie nach dem Krieg in Deutschland auftrat und als "Nestbeschmutzerin" verleumdet wurde. Und dann steht mir ein Foto vor Augen, das mich sehr geprägt hat, von ihr im Atelier von Giacometti in Paris. Marlene Dietrich hatte den niedergeschlagenen, lang gezogenen Hund – die Skulptur von Giacometti – gesehen und wollte Giacometti kennenlernen. Intuitiv hatte sie in dem Hund das richtige erkannt: nämlich den Künstler selbst, der früh morgens im Regen betrunken aus den Kneipen nach Hause in sein Studio läuft.

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch1 c Matthias Horn Ruhrtriennale2023Finale mit Nina Hoss: Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" war Barbara Freys Aschiedsinszenierung ihrer Ruhrtriennale-Intendanz © Matthias Horn / Ruhrtriennale

Vielleicht habe ich solche in Ihrer Frage beschriebenen Ideen auch deshalb, weil diese Frauen Pionierinnen für meine Generation sind. Die, wie Sie gesagt haben, aus der Tiefe des Gebäudes emporsteigen. Nina Hoss hat das sofort verstanden. Für mich ist meine Zeit bei der Ruhrtriennale also, um das Lied von Hollaender zu zitieren, keine "schlimme, sondern eine gute Zeit" gewesen, weil ich ganz viel lernen konnte von den Menschen der Region, dem hiesigen Team der Ruhrtriennale und den eingeladenen Künstler*innen und wie sie sich auf die Region eingelassen haben. Dennoch gab es Reibungsverluste. Das hatte mit der Komplexität der Umstände zu tun, von denen wir gesprochen haben, und auch mit ...

... einer Ängstlichkeit gegenüber künstlerischer und persönlicher Nichtanpassung?

Ja, vermittelt als Domestizierungsversuche. Es soll immer von allem mehr geben, mehr Einnahmen, mehr Wohlgefallen, auch mehr roter Teppich. Ich will das nicht verschreien. Wie gesagt, das Festival ist im Wandel – wie alles. Es gibt da keinen luftleeren Raum. Nun, man könnte künftig den Ruhrgebietsbezug auch abschaffen. Uns war er in den drei Jahren wichtig, zuletzt etwa mit Mats Staub Langzeitprojekt "Jetzt & Jetzt", das 100 Menschen aus dem Pott porträtierte. Oder die fotografische und filmische Arbeit des in Witten bei Bochum lebenden Kollektivs loekenfranke, das uns sensibel und präzise Geschichten über den Strukturwandel erzählt hat. Interessant bleibt jedenfalls, inwiefern die Wunschmaschine Ruhrtriennale auch etwas aussagt über eine fortgesetzte politische Identitätssuche des Ruhrgebietes.

Barbara Frey 800h c Daniel Sadrowski uBarbara Frey, geboren am 29. April 1963 in Basel, ist Regisseurin und Theaterleiterin. Sie studierte in Zürich Germanistik und Philosophie und kam 1988 als Musikerin und Regieassistentin ans Theater Basel, das damals von Frank Baumbauer geleitet wurde. Seit 1992 arbeitet Barbara Frey als Regisseurin, 1999 bis 2001 war sie Hausregisseurin an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin, 2005 bis 2008 in gleicher Funktion am Deutschen Theater Berlin. Von der Spielzeit 2009/10 bis 2018/19 leitete Frey als Intendantin das Zürcher Schauspielhaus. Beim Schweizer Theatertreffen 2016 wurde sie mit einem Schweizer Theaterpreis ausgezeichnet, 2022 wurde sie mit dem Grand Prix Darstellende Künste / Hans-Reinhart-Ring gewürdigt. 2021 bis 2023 war Frey Intendantin der Ruhrtriennale. 

(Foto: Daniel Sadrowski / Ruhrtriennale)

 

 

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