Das weite Land - Ruhrtriennale
Im Mausoleum der Liebe
21. August 2022. Eine Atmosphäre der Beklemmung und des Befremdens herrscht in der Jahrhunderthalle Bochum. Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey inszeniert Arthur Schnitzlers Werk um Ehemänner und Ehefrauen.
Von Andreas Wilink
21. August 2022. Eine unsichtbare Stimme erläutert – entomologisch kolossal anschaulich – den Befall von erdbestatteten Menschen durch bestimmte Insektenlarven und Käfertiere. Arthur Schnitzlers Seelendrama verwandelt sich durch diesen Prolog (und zwei weitere Zwischenspiele über Fauna, Artenvielfalt und Balzverhalten) zur Leichenbeschau an – scheinbar – lebendigen Körpern. Wobei zu fragen bleibt, ob wir es bei den bürgerlichen Subjekten der Wiener Gesellschaft mit dem menschlichen Aas oder den Aas-Vertilgern zu tun haben. Für ein "entweder oder" jedoch müssen wir uns nicht entscheiden.
Geschäftig inaktiv
Alles schwarz. Im Hintergrund ein Trauerzug, der den durch Suizid geendigten Korsakow begleitet. Vorn sitzt Genia Hofreiter, die dem Friedhofsbesuch fernblieb. Durch einen transparenten Schleier-Vorhang treten die Übrigen hervor, wie aus dem Schattenreich und ortlosen Nichts. Oder sollt’ es gerad umgekehrt sein, und sie, Gespenster des Wirklichen, treten ein ins Schattenreich des Lebens? Entree oder Exit. Was ist real, was Welt des Anscheins? Wir begegnen Menschen in ihrer "geschäftigen Inaktivität", wie der Historiker Philipp Bloom die Schlafwandler dieser Vorkriegsepoche charakterisiert.
"Das weite Land" wird 1910 wie selbstverständlich in St. Petersburg als einer europäischen Metropole uraufgeführt, 1911 folgen unter anderen Berlin, Prag und Wien. Für den Sigmund Freud-Zeitgenossen Schnitzler erregt die Sexualität – der erotische Reigen und die Pausen dazwischen – psychische Konflikte und moralische Erschütterungen. Sie ist Antrieb gegen den Tod und ist sein Beförderer. Wovon handelt das Ehe- und Liebesdrama? Von "Herzen, in denen nichts verjährt", und von solchen Organen, denen dieses Unbefristete fremd ist, vom tragischen Bewusstsein und vom Talent, zu vergessen, vom Unordentlichen des Lebens und davon, dass "das Natürliche das Chaos" sei, von Lüge und Misstrauen.
Schlank und schmal
In die Jahrhunderthalle Bochum, Monument stählernen Erfolgsstrebens, dessen Vergänglichkeit melancholisch stimmt wie ein prächtiger Grabtempel auf dem Wiener Zentralfriedhof, baut Barbara Frey ein Mausoleum der Liebe. Der Katafalk ihrer Aufführung lässt nicht Platz für Unwesentliches. Das (wenn auch vergiftet) Süße eines Plaudertons ist den Dialogen entzogen für eine knappe, schnelle, heruntertemperierte screwball tragedy, wie auch Farbe und Muster aus den Kleidern entfernt sind; bis auf drei schwere Ledersessel fehlen Interieurs und Dekor. Die Personen – etwa Itay Tiran als Doktor Mauer: ein markant gezogener Gedankenstrich – sind schlank und schmal gefasst. Elastisch für das Arrangement auf dem Spielfeld, dessen Regelwerk undurchschaubar ist, und für Verschiebungen in der Statik der Beziehungen, während musikalische Zäsuren nervös die Szenenabfolge takten.
Eine Atmosphäre der Beklemmung und des Befremdens herrscht. Größere Entfernung liegt zwischen den Menschen als nach Metern zählende Distanz. Extreme Vereinzelung, wenn Hofreiter, der Glühlampenfabrikant, der "sich von jedem nimmt, was ihm gerade zusagt", über Genias schuldloses Schuldig-Sein an Korsakows Tod spricht, während Genia hinter dem Vorhang verschwindet wie Eurydike in die Unterwelt. Oder wenn er für eine kurze Gefühlsexplosion seiner jungen Geliebten Erna (Nina Siewert) gegenüber etwas einfordert, von dem er weiß, dass es das nicht gibt: Dauer, Versprechen, Gemeinsamkeit.
Kennen die Eheleute einander nun im Innersten oder überhaupt nicht?: Michael Maertens als sanfter Gewalttäter Hofreiter, der die Idee Jugend vernichten muss, Katharina Lorenz als Verstandes-Vestalin Genia. Sie bleiben, ob im Zusammenbruch wie sie, ob in Annahme des Schicksals wie er, in ihrer ungeheuren Einsamkeit. Und Unfreiheit, mögen sie sich auch frei fühlen.
An früher Stelle seiner Autobiografie "Jugend in Wien" erschließt sich für Schnitzler die Welt der Bühne nicht als eine von Täuschung und Trug, vielmehr als eine des Spiels, "über deren Unwirklichkeit keinen Augenblick ein Irrtum walten konnte". Diese Einsicht habe "zu der Entwicklung jenes Grundmotivs vom Ineinanderfließen von Ernst und Spiel, Leben und Komödie, Wahrheit und Lüge beigetragen", das ihn, "über alle Kunst hinaus", so sehr bewegt habe. Nun ist es gerade die Unwirklichkeit, in der seine Dramenfiguren verfangen sind und die ihr Scheitern, Verfehlen und Vermeiden verursacht. Das Unwirkliche, das das Beziehungslose ist, verhindert das Lebendige ihres Wesens.
Im Zwielicht
Plötzlich eine Erscheinung: ein Wärme-Mensch inmitten der Kälte, ein – weiblicher – Körper, der sich seiner selbst bewusst mitteilt und verströmt. Bibiana Beglau als Frau Meinhold, deren Sohn Otto (von Felix Kammerer knäbisch weich gespielt) der Geliebte Genias wird und den Hofreiter im Duell töten wird, zeigt im Gespräch mit Genia eine Herzensklugheit, die Härte einschließt. Eine Komödiantin, was sonst!, die sich auskennt mit Masken und dem, was unter ihnen verborgen liegt. In einem sehr feinen Besetzungscoup spielt Beglau auch den lange von Frau Meinhold geschiedenen Herrn von Aigner: ein philosophischer Kopf, dem Schnitzler vorbehält, den Titel aufzulösen: "Die Seele ist ein weites Land".
In seinem Großessay "Wer noch kein Grau gedacht hat" schreibt Peter Sloterdijk: "Keine menschliche Handlung, die nicht in unüberschaubare Folgenreihen ausläuft, keine Unterlassung, die nicht die Welt durch fehlende Effektfolgen mitgestaltet, kein Mitmensch, der nicht in das Zwielicht seiner Situation eingetaucht ist, umgeben von den wenigen nahen und den unzähligen fernen Anderen in ihren eigenwüchsigen Zwielicht-Feldern …"
Gebrochene Helligkeit, darum geht es bei Schnitzler. Um Grautöne. Barbara Frey leuchtet sie aus: unerbittlich, peinvoll konzentriert. Der Vorhang öffnet sich zum Schlussbild, nachdem der Tod dem Spiel das Ende setzt: Martin Zehetgruber türmt das Dolomitenpanorama, geborstene Bodenplatten und ein riesiges Fräs-Rad, das sich in den Stein frisst. Zerstörungswerk Leben.
Das weite Land
von Arthur Schnitzler
Regie: Barbara Frey, Bühne: Martin Zehetgruber (Mitarbeit: Stephanie Wagner), Kostüme: Esther Geremus, Musik: Josh Sneesby, Sound Design: Thomas Wegner, Licht Design: Rainer Küng, Dramaturgie: Andreas Karlaganis.
Mit: Bibiana Beglau, Dorothee Hartinger, Sabine Haupt, Felix Kammerer, Katharina Lorenz, Michael Maertens, Branko Samarowski, Nina Siewert, Itay Tiran.
Premiere am 20. August 2022
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten Minuten, keine Pause.
www.ruhrtriennale.de
Kritikenrundschau
"Die Regie von Barbara Frey spürt – wie man es von ihr gewohnt ist – akribisch genau den Textschichten nach. Da ihre Inszenierung körperlich über weite Strecken sehr statisch bleibt, liegt eine Menge Gewicht auf dem Text“, schreibt Stefan Keim in der Welt (Online: 21.8.2022). "Wenn man den starren Regierahmen akzeptiert, öffnet sich der Blick für unendlich viele Feinheiten.“ Handwerklich sei alles großartig gemacht, das Ensemble sei toll, jeder Gedanke sitze. „Aber bei aller offensichtlichen Qualität hat die Inszenierung etwas Steriles und Mutloses."
Simon Strauß freut sich in der FAZ (online 21.8.22) über einen "feinfühlig inszenierten Abend", der zeige, warum uns der Dramatiker Arthur Schnitzler bis heute packe: Großzügig überlasse Regisseurin Barbara Frey den Text "ganz ihrem wunderbaren Schauspielensemble". Auf der Bühne bestimmten "die verschiedenen Tonlagen" das Geschehen. Dabei, so der Kritiker weiter, sei Michael Maertens in der Rolle des Glühbirnenfabrikanten Friedrich Hofreiter mit seiner "wunderbar manierierten" Diktrionsart "der Tonmeister, der seine Sätze so spricht, dass man nie weiß, welches Wort er als nächstes hervorheben wird."
"Die Erstarrung im Status quo, das Bemühen um menschliche Annäherung und das Minenfeld aus Aufrichtigkeit und Verschweigen, das die Ehe ist, wurden nie schärfer in Dialoge gefasst als in diesem Drama", schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (online 21.8.22). Und Barbara Freys "kongeniale Produktion" zeige, "dass es, indem es sich weigert, eindeutige Antworten zu geben, in einer Welt des allgegenwärtig schnellen Urteils zeitgemäßer ist denn je".
Barbara Frey führe das Burgtheater-Ensemble absichtsvoll "extrem statisch", urteilt Karin Fischer im Deutschlandfunk (21.8.22). "Alles nicht echt gefühlt", laute die Botschaft ihrer Inszenierung. Wie bei Dramatiker Schnitzler gebe es in ihr "kein Mitleid, keine Freundschaft, kein Vertrauen – nirgends". Die Figuren stünden deshalb "viel herum, oft mit hängenden Armen". Gleichwohl attestiert die Kritikerin dem Abend eine hohe Anschlussfähigkeit an die Gegenwart: Schnitzler seziere "die moralische Verkommen- und Verlorenheit einer saturierten Gesellschaft, die sich durch Statussymbole und Freizeitvergnügungen definiert, keine Werte mehr kennt und beim Thema Treue den Neandertaler auspackt". Vielleicht sei das "der Grund, warum die Figuren uns wie gute Bekannte vorkommen, obwohl ihnen Barbara Frey die authentischen Gefühle genommen hat".
"Wie bei diesem hochkarätigen Ensemble und dieser Regisseurin nicht anders zu erwarten, ist der Abend trotz der gepflegten Langeweile, die er verströmt, ein Schauspielerfest. Keine Regiemätzchen", schreibt Shirin Sojitrawalla in der taz (23.8.2022). "Das, was einem bei Schnitzler noch federleicht schien, kommt bei Frey erdenschwer daher.“ Frey "verdichtet" Schnitzlers Drama "und arrangiert die dazugehörigen Figuren zum gut aussehenden Skulpturenpark (Kostüme: Esther Geremus). Alle wirken wie erstarrt und bleiben, von kurzen Momenten abgesehen, auf Abstand, inklusive des Publikums."
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wie kommen Sie eigentlich darauf, dass das „nur“ eine Preview sei?
Das Stück und das wunderbare Bühnenbild von Herrn Zehetgruber passen ganz wunderbar in die Jahrhunderthalle! Die weite und tiefe dieses Raumes lassen die Figuren noch verlorener wirken. Das Stück ist durch diese einzigartige Inszenierung und der herausragenden Darsteller ein Glück und ein Geschenk für Bochum!
Ich habe diesen Abend genossen und wenn ich das behaupten darf, alle Zuschauer!
Es gab einen frenetischen Applaus!
Der BILD des Borers am Ende verbindet sich ganz poetisch mit dem Ruhrgebiet und der Halle!
Tausend Dank!
https://rp-online.de/kultur/premiere-von-das-weite-land-bei-der-ruhrtriennale_aid-75535107