Der Referenzpunkt

27. Februar 2024. René Pollesch, der große Dramatiker, Regisseur und Intendant, ist gestorben, plötzlich, unerwartet, zu jung. Sein die Gewissheiten der Bühne erschütterndes Theater hat alle Redakteur*innen von nachtkritik.de geprägt, in unterschiedlicher Weise. Wir würdigen ihn in Schlaglichtern.

Von Christian Rakow, Esther Slevogt, Christine Wahl und Janis El-Bira

René Pollesch (1962–2024) in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin © David Baltzer

Der die Stühle besorgt von Christian Rakow | Was soll nun werden? von Esther Slevogt | Eine Drehung weiter von Christine Wahl | Mit dir und dem Mond von Janis El-Bira

Der die Stühle besorgt

Von Christian Rakow

27. Februar 2024. Was war das erste Bild, der erste starke Eindruck vom Pollesch-Theater? Nein, nicht die wilden Cowgirls, die irgendwann um 2000 im Berliner Podewil auf Hockern daherritten und sich ihr Leiden an der Übertaktung des Arbeitslebens von der Seele brüllten. Scheiße! Wobei, die schon auch. 

Aber doch, das Bild, das mich nie wieder losließ, war eigentlich eine Petitesse. Im Prater der Volksbühne (wo Pollesch ab 2001 Spielstättenleiter war), es läuft irgendeine Repertoirevorstellung, kein großes Premierenkino oder so, aber die Hütte ist voll, Leute stehen unschlüssig rum, es mangelt an Plätzen. Und dann kommt einer und schafft noch ein paar Stühle herbei, stellt sie jedem einzelnen hin. Das war Pollesch, in Jeansjacke. Und das ist er für mich immer geblieben: der Typ, der die Stühle besorgt, damit Du Dir nicht die Beine in den Bauch stehen musst.

Die landläufige Meinung ging ja so: Pollesch ist super edgy, gesättigt durch die schwierigen Theorien aus den Merve-Bändchen, Diskurs am Limit, Franzosen first, dazu gewaschen mit allen Wassern der Postdramatik, bissl arrogant gegen das Stadttheaterige (das er eh nie gucken ging), immer irre schnell und knallhart auf Recycling gepolt. Sätze und Gedanken laufen von Stück zu Stück mit, werden neu kombiniert und irgendwann dann auch verwandelt, bis der Zyklus brummt (Pollesch soll es wohl auf über 200 Texte gebracht haben, die er landauf, landab stets selbst inszenierte). "Too much of the same", sagten seine (nicht wenigen) Kritiker dazu. Für alle anderen funktionierte Pollesch wie ein Stadtplan, der einen sicherer und bewusster durch die Straßen laufen lässt. Stadtpläne liest man nicht aus.

Tatsächlich hat sich Polleschs Theater mit seinen Spieler*innen (die er als Co-Autor*innen ansah) in diverse Richtungen ausdifferenziert. Mit Martin Wuttke und Sophie Rois war es immer am verspieltesten, leichtesten. Boulevard wie auf Koks. "L'Affaire Martin! Occupe-toi de Sophie! Par la fenêtre, Caroline! Le mariage de Spengler. Christine est en avance." Keiner hatte Titel wie Pollesch. Mit Fabian Hinrichs wurde es über die Jahre immer ernster, einfacher, direkter, existenzieller. Zuletzt noch vor zwei Wochen ja nichts ist ok ein bitterschöner, traurigwitziger Soloabend. Ein Gang durch die Ruinen der Komödie, in dieser Zeit, die alles Lachen zu ersticken scheint.

Fantomas 03 805 Apollonia t Bitzan uMartin Wuttke in "Fantômas" an der Volksbühne © Apollonia T. Bitzan

Einmal traf ich Fabian Hinrichs in Potsdam, um mit ihm über den Friedrichstadtpalast-Abend Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt zu sprechen. Pollesch käme nie nach Potsdam, sagte Hinrichs. Sie träfen sich immer in Berlin. Warum? "Ich will René die Schönheit von Potsdam nicht zumuten", so Hinrichs. Die kann er nicht aushalten? "Kann sein. Wie ein Salzwasserfisch, der ins Süßwasser kommt."

Die Rauheit Berlins, dieses Unfertige, Asoziale, Abgerockte, Widerspenstige, Gebrochene, das die Stadt in den Nachwendejahren und bis heute (mit sicher abnehmender Tendenz) ausstrahlte, das lag immer unter dem Theater von René Pollesch. Deshalb war es nie abgehoben intellektuell oder hipsteresk, wenn er sein soziologisches Instrumentarium auspackte, wenn er marginalisierte Perspektiven sichtbar machte (zig Jahre bevor es trendy wurde), wenn er die Macht der heteronormativen Repräsentation zerwitzelte (hatte ich das Wort "Heteronormativität" vor ihm überhaupt gekannt?), wenn er die Zahnräder des Turbokapitalismus zum Klingen brachte.

Als Pollesch 2021 die Volksbühnen-Intendanz übernahm, da wusste ich nicht, ob das wohl passen würde. Klar ging es bei der Berufung primär darum, den großen Spieler*innen der Castorf-Zeit wie Martin Wuttke oder Kathrin Angerer ihre Heimat zurückzugeben, dieses sonderbare Biotop, wo Spielweisen sprießen, die man nirgendwo sonst im Theater findet, so närrisch, so klug. Aber Pollesch als Kapitän fürs große Schiff? Er war ja eben eher der Mann der kleinen, eng vertrauten Teams, ein Mann der Garage, nicht der großen Turbinenhallen. Und schon gar nicht ein Mann für Repräsentation, die ein Intendant ja doch auch zu leisten hat. Er sträubte sich ja schon gegen Interviews!

Man kann viel Schmähliches über die Volksbühne der letzten Jahre sagen. Bereits der Einstieg war verstolpert, hingeschlunzt, alles wirkte provisorisch, mitunter desorganisiert. Der Bruch mit Vinge/Müller (die eigentlich fest fürs Leitungsteam vorgesehen waren) blieb nicht zu verschmerzen. Und doch hatte dieses Haus bis zum heutigen Tag die einzigartigen Abende zu bieten, die wirklich unvergleichlichen, die man an keinem Haus sonst kriegt. Von Polleschs eigener Hand: Geht es Dir gut? und "ja nichts ist ok", oder von Fabian Hinrichs in seinem findlingshaften Sardanapal, oder bei Julien Gosselin mit Extinction. Die Liste ließe sich lange fortführen. Und natürlich das spinnerte Zeug wie Meeses Monosau mit der Rückkehr der bezwingenden Schlingensief-Spielerin Kerstin Graßmann. Wo wird man das von nun an finden?

Bei den besonderen Künstlern ist noch das Misslungene eindrücklich und sinnfällig. In den letzten Jahren sah man Pollesch ringen: mit dem Verlust des postmodernen Koordinatensystems, mit dem Schwinden der Leichtigkeit, mit dem Herandrängen lange ungekannter Freund-Feind-Schemata. Am deutlichsten vielleicht in dem großen, ungelösten Maskenspiel des Fantômas. Ein gescheiterter und doch lange nachhallender Abend. Befreiungsbewegungen, die Pollesch fürs Theater angestoßen hat, verhärten sich. "Woke" ist heute zum Schimpfwort geronnen, sein emanzipatorischer Gehalt wird unkenntlich. Davon erzählten die Volksbühnen-Abende seit 2021, aber oft unterschwellig, zaghaft, manchmal auch verhuscht. Polleschs Theater brauchte den Tanz der Zeichen, aber die bleierne Zeit verlangt nach Doktrin.

"Es gibt ein Licht, das niemals ausgeht" waren die letzten Worte, die Fabian Hinrichs 2019 im Friedrichstadtpalast sprach. In "Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt". Was soll das heißen? Mit metaphysischem Gedöns und Die-Seele-lebt-weiter und Irgendwo-sehen-wir-uns-wieder und Etwas-von-Dir-bleibt musste man René Pollesch nicht kommen. Er war Materialist genug. Liebe ist kälter als das Kapital, auch einer seiner Stücktitel. Nicht für die Ewigkeit, sondern für das Hier und Jetzt. Es gab ein Licht, das niemals ausgeht. Und es ist aus.

Was soll nun werden?

Von Esther Slevogt

Er war eine singuläre Erscheinung im deutschsprachigen Theater. Wie kann es jetzt überhaupt weitergehen ohne ihn? Dass er gerade in dem historischen Moment stirbt, wo wir sein zugewandtes, kluges, witziges und gegen die Kälte aller Ideologie so resistentes Theater so dringend brauchen wie nie! Mit René Pollesch wurde eine zentrale Figur meiner Theatersozialisation plötzlich vom Erdboden verschluckt. Jemand, der in den 1990er Jahren auf den so utopielos gewordenen Brettern der Welt erschien und das ganze Elend des im und vom Kapitalismus verratenen und verkauften Individuums mit den Mitteln des Theaters untersuchte, zerlegte und dabei auf eine sehr eigene Weise dem sprachlos Gewordenen selbst wieder Stimme (und Bilder) gab.

Es war, als hätte jemand die Fenster des politischen Theaters weit aufgerissen, und mit der frischen Luft ein ganz neues Theater hineinwehen lassen in seine miefigen Echoräume. Der Zeichen und Diskurse zum Tanzen aufforderte und auch wirklich zum Tanzen brachte. Schon jeder Titel war Gedicht, Versprechen, Zitat und Einladung zum Denken in einem. "Liebe ist kälter als das Kapital" (2007) oder Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang (2010), Je t'adorno (2014) oder Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt (2019). Damals, im Jahr 2019, konnte man aber schon spüren, dass dieser Glaube zu schwinden begann und die Verzweiflung wuchs, gegen die Fabian Hinrichs sich als Akteur im Berliner Friedrichstadt-Palast auf der größten Showbühne der Welt auflehnte, sich ihr gleichzeitig maximal aussetzte.

von einem der auszog 2 560 leooreblievernicht uSophie Rois (links) in "Mein Gott, Herr Pfarrer!" an der Volksbühne © Gordon Welters

Pollesch hatte ja auch immer kongeniale Partner für sein radikales wie spielerisches Denken, sein lustvolles und wagemutiges Surfen auf den Diskursen, den Schabernack, den er mit den Dingen und Zeichen trieb. Ob Bert Neumann, sein Brother in Crime als Bühnenbildner, ihm einen Orcawal (Von einem, der auszog, ... 2015) als irgendwie absurden Supersignifikanten auf die Bühne baute oder sie in schwarz-schimmerndes Lametta kleidete (Service / No Service, 2015), ob er im Prater vor Blümchenvorhängen vom Ende des Individuums sprechen ließ (Ein Chor irrt sich gewaltig, 2009) oder auf der Weite der Drehbühne plötzlich wieder der Planwagen der Mutter Courage gezogen wurde (Kill Your Darlings, 2012). Oder Schauspielerinnen und Schauspieler wie Sophie Rois, Martin Wuttke, Christine Groß, Katrin Angerer oder Milan Peschel, die den typischen mäandernden und vom Assoziationsstrom getriebenen Pollesch-Sound zum Klingen brachten. Zuletzt war es Fabian Hinrichs, der den so an seiner Substanz als menschliches Wesen tief zweifelnden Einzelnen (von dem ein Kern in jeder Pollesch-Figur steckte) vielleicht am Vollkommensten darzustellen vermocht hat.

Auch als Intendant hat René Pollesch Theater ermöglicht, dass es so nirgendwo mehr gibt. Der das Haus, wofür er steht wie für kein anderes, die Berliner Volksbühne, immer noch zu einem Ort der existenziellen Berührung machte, als rundherum die Wüsten sich immer weiter ausgebreitet haben – weil überall sonst das Theater immer hohler wird, von falschen Tonblagen überstimmt, immer ideologischer und kälter. Was soll nun werden?

Eine Drehung weiter

Von Christine Wahl

Unvergessen, wie sich Fabian Hinrichs in "Kill your Darlings" mit einer Turnerriege vom Schnürboden der Volksbühne abseilt, zum Soundtrack von "Streets of Philadelphia". Wie Nina Kronjäger als "Heidi Hoh" Ende der 90er im Podewil in einem Verbalstakkato, das man bis dato noch nie gehört hatte auf einer Bühne, das Ich im Neoliberalismus auseinandernimmt. Wie sich Bernhard Schütz in "Stadt als Beute" mit einem übergriffigen Smarthouse duelliert – anno 2001, als für die meisten noch nicht mal das Googeln ein selbstverständlicher Handgriff war. Wie sich Martin Wuttke in "L'affaire Martin!" optisch abendfüllend in Bert Neumanns Bühnenraum auflöst, weil sein Kostüm genauso aussieht wie die Tapete, vor der er spielt. Wie Sophie Rois dazu unter Anspielung auf den damals aktuellen Donnersmarck-Film in ihrem unnachahmlichen Tremolo die überaus berechtigte Frage in den Raum wirft: "Was soll das eigentlich sein, das Leben der anderen?!" Wie Fabian Hinrichs in "Geht es dir gut?" einer startenden Rakete nachschaut, die er verpasst hat, weil er vor dem Aufbruch noch seinen "Reisemantel" holen musste. Und wie er in "ja nichts ist ok" – der letzten Pollesch-Premiere, vor zwei Wochen – einen Rollkoffer hinter sich herziehend über die Bühne rennt, Runde um Runde, und wie es da tatsächlich diesen kurzen Moment gibt, diesen Wimpernschlag, in dem man wider jedes bessere Wissen plötzlich glaubt, es könnte einen Aus- und Aufbruch geben aus der globalen Unbehaustheit.

Alles Bilder, die sofort da sind beim Gedanken an René Polleschs Theater, das den Boulevard so dialektisch, wie sich das vor ihm niemand vorstellen konnte, mit dem unmittelbaren Diskurs verschwistert hat und zu dem noch so viel mehr zu sagen wäre als das. Alles Momente auch meiner persönlichen Theatersozialisation, die unmöglich auf einen Punkt zu bringen sind, aber weil ich es hier ja irgendwie muss, entscheide ich mich für den, wie zutiefst emanzipatorisch René Polleschs Theater ist, und zwar im umfassendsten Sinne des Wortes.

ja nichts ist ok1 64698m c thomas aurin uFabian Hinrichs in "ja nichts ist ok" © Thomas Aurin

Pollesch hat das Theater nicht nur von naiven Repräsentationsvorstellungen entkoppelt – von dem, was er gern mal die "authentische Kuh" nannte – und das unbehauste Individuum dabei tatsächlich auch ein Stückweit von seiner Unbehaustheit befreit, indem er es in soziologischen Überbauten verortet hat. Allerdings ohne – das ist absolut zentral – es in ihnen aufgehen zu lassen. Sondern das Pollesch-Theater hat die gesellschaftlichen Bühnenverhandlungen auch auf eine sehr spezfische Weise von der Moralinsäure befreit, mit der sie ja andernorts bis heute nicht ungern übergossen werden, ohne dabei die Sachlage zu versimplifizieren. Das Publikum wiederum wurde durch das Pollesch-Theater davon erlöst, die Bühnenkunst einfach nur abnicken zu müssen, weil es immer schon eine Drehung weiter war. Ertönte andernorts – um nur ein Beispiel zu nennen – wacker der Ruf nach beruflicher Selbstverwirklichung, hatte Pollesch längst den neoliberalen Imperativ darin erkannt und wendete sich lieber der Frage nach dem revolutionären Potenzial der Entfremdung zu. Und das alles, dank seiner (Selbst-)Ironiefähigkeit, bei kompletter Abwesenheit alles Besserwisserisch-Apodiktischen.

Emanzipatorisch war René Polleschs Theater auch deshalb, weil die Frage, ob eine Schauspielerin oder ein Schauspieler seine Texte spricht, für ihn schon vor 25 Jahren absolut keine Rolle spielte, ohne dass er es – und darin liegt für mich der wahrhaftgste Emanzipationsakt – als Programm vor sich hertrug. Was für eine Befreiung, in den 1990er Jahren Catrin Striebeck, Caroline Peters, Nina Kronjäger oder Christine Groß dabei zuzusehen, wie sie – in erhabenster Selbstverständlichkeit ihre Diskurskaskaden über die Volksbühnenrampe ballernd – in einem sehr umfassenden Sinn den Begriff Sexyness neu definierten, nämlich aus einer bis dato nie gesehenen Power und Lebendigkeit heraus.

René Pollesch und sein Theater werden unglaublich fehlen. Nicht nur als Ausnahme-Kunst an und für sich, in der sie einen alle – von Fabian Hinrichs über Kathrin Angerer, Lilith Stangenberg oder Astrid Meyerfeldt bis zu Martin Wuttke, Sophie Rois, Franz Beil und, und und – immer wieder so ureigen und individuell umhauen konnten. Sondern sie wird auch schmerzlich fehlen als Referenzgröße für den ganzen Theaterbetrieb.

Mit Dir und dem Mond

Von Janis El-Bira

Berlin, 2005, gerade angekommen. Nichts glänzt, so schön neu. Die Monatsspielpläne der Volksbühne: schwarzweiß gefaltet. Die Tickets am Verkaufsstand in der Uni: ein paar Euro. Wir gehen fast überall hin. René Pollesch – es ist die Phase seines Wechsels vom Prater ins Große Haus – ist längst schon theaterweltberühmt. Viel verstehe ich nicht in seinen Stücken, manches nervt mich. Aber sie sind kurz und aufgeputscht, schnelllebig und scheinbar unverbindlich wie die Stadt, in der ich jetzt lebe. Ich gehe weiter hin. Unter den Auch- und Mit-Gehenden lieben wir es, diese unausdenklich schrägen Stücktitel auszusprechen – "L'affaire Martin!" (und der lange französische Rest…), "Tod eines Praktikanten", "Du hast mir die Pfanne versaut, du Spiegelei des Terrors", "Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!". Aber wenn’s kurz sein muss, reicht: Wir schauen den neuen Pollesch. Ein bisschen Pose ist auch dabei, klar. Die Marke sagt alles. Distinktion durch möglichst dichten Zeichengebrauch. Weiterhin verstehe ich trotzdem nicht viel. Das braucht Zeit. Und es braucht die Menschen, an deren Seite ich mich hineinliebe in dieses einfach komplizierte Theater. Mit denen es sich herumrätseln und ahnungslos sein lässt ob der vielen Haraway-Nancy-Lacan-Zitate. Mit denen man überfordert und müde sein kann auf dem nackten Theaterboden, damals, 2017, beim langen Volksbühnen-Abschied. Denen man zusieht, wie sie bei der x-ten "Kill your Darlings!"-Vorstellung auf dem Hintern durch die Pfützen des Bühnenregens rutschen, während Morrissey singt: "And once again, I turn to you." Mit denen man anderswo sagen kann: Das ist ja wie bei Pollesch! Obwohl es das nie, wirklich nie ist. Mit den flüchtigen und den guten Bekannten, den Nahen, den Allernächsten. Mit denen man dann noch etwas trinken geht oder nach Hause oder noch viel weiter.

Und so höre ich nach und nach anders hinein in diese Texte. Höre ihr Unerlöstes, ihr sehrendes Begehren, ihre Melancholie. Eine Melancholie, derer sie sich manchmal zwischen aller hyperreflektierten Versiertheit fast zu schämen schienen, die sie aber zum Glück doch auszusprechen den Mut hatten. Vor allem die gemeinsam mit Fabian Hinrichs entwickelten Abende waren die Rückzugskammern eines Theaters, das immer alles war, nur gewiss nicht auf dem Rückzug. Ein Theater, von dem sich überhaupt ganz unmöglich schreiben lässt, dass es "war". Weil Pollesch doch immer Gegenwart heißt! So ließ es sich gut und fast unbemerkt altern mit dem Pollesch-Theater und seinen Menschen, vor und neben mir. Bis ich wieder in so einem Pollesch/Hinrichs-Abend sitze, neulich, mit Dir, und der Mond, der kitschige Theatermond, geht auf über der Bühne und es heißt: "In mir ist alles fertig. In mir ist nichts richtig fertig." Und mir laufen ein paar Tränen übers Gesicht und ich weiß nicht genau, warum. Wie auch jetzt wieder, aber jetzt weiß ich's. Es war, fast 20 Jahre lang, eine verdammt persönliche Sache.

 

René Pollesch spricht über sein Theater in der Reihe "Neue Dramatik in 12 Positionen" von nachtkritik.de und dem Literaturforum im Brecht-Haus Berlin

 

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Kommentare  
Nachruf auf René Pollesch: Traurig
..traurig und nach dem Lesen der Texte noch viel trauriger.
Nachruf auf René Pollesch: Danke
Danke für diese schönen Texte. Habe in all den Jahren zwar immer wieder, aber doch viel viel viel zu wenig von ihm gesehen, merke ich jetzt. Fuck. Todtraurig.
Nachruf auf René Pollesch: Schock
Vielen Dank, Ihr Nachtkritiker, für diese klugen und persönlichen Reflexionen, die helfen, mit diesem Schock umzugehen.
Nachruf René Pollesch: Dankbar für die gemeinsame Zeit
Ich hatte vor Jahren die Gelegenheit bei ihm zu hospitieren und arbeite deswegen heute im Theater. Was für ein kluger und gleichzeitig charakterlich wunderbarer Mensch ist nun fort. Danke für alles, René!
Nachruf René Pollesch: Danke..
… Janis El-Bira für die guten Worte.
Nachruf René Pollesch: Unheimlich sympatisch
Danke, René! „René.“ So hast Du dich mir vorgestellt. 1999. Oder 2001? Im Prater. Als Du im Bühnenbild mit Kakteen und Westernlandschaft (oder im nachgezimmerten Globe?) einen Spieleabend veranstaltet hast mit einem selbsterfundenen Brettspiel. Und Sushi. Da wusste ich noch nicht, wer Du bist. Nicht, wer Du mal werden solltest. Nur, dass Du mir unheimlich sympathisch warst und dass ich so Theater machen wollte. Nah. Spielen. Gemeinsam. Zusammenkommen. Mit Genuss. Das war meine ganz persönliche „Diskursbude“. Danke, René!
Nachruf René Pollesch: Wie bei Schlingensief
Danke für eure Worte.
Eine ganze Welt scheint abzulegen. Wie beim Tod von Christoph Schlingensief. René, es ist kaum auszuhalten. Aber die Freiheit, der Mut, die Widersprüche... die Volksbühne kann nicht aufhören. In echt und als Illusion, im Verwehen und als Chance. Let's did it going on.
Nachruf René Pollesch: Wunderbarer Mensch
Ach wie traurig. Ich hatte die Freude und das Vergnügen in Stuttgart die Lichtgestaltung für zwei von Renés Stücken zu erstellen. Er war ein wunderbarer Mensch, immer korrekt, freundlich und höflich (das alte wunderbare Wort, das viele nicht mehr kennen). Er kannte stets unsere Namen - auch Jahre später noch.
Eine wahrhaft große Persönlichkeit ist leider von uns gegangen - sehr schade. Finde Frieden.
Nachruf René Pollesch: "Hörbar Rust" auf radioeins
Ich höre gerade die Hörbar Rust vom Oktober 2021 auf radioeins.de mit René Pollesch als Gast (findet man auf der Startseite). Bin zu jung und konnte nicht wissen, was für ein toller Mensch er ist. Nun werde ich das Schauen nachholen und schauen, was auf den Bühnen von ihm bleibt. Eine tolle Sendung über sein Leben mit seiner Lieblingsmusik. Den link kann ich hier glaube ich nicht posten. Leider gibt es zu wenige Menschen wie ihn.
Nachruf René Pollesch: Link Hörbar Rust
Link Hörbar Rust Pollesch

https://www.radioeins.de/programm/sendungen/hoerbar_rust/211017_horbar_rust_14846.html
Nachruf René Pollesch: Ruhe sanft!
https://vimeo.com/803270819
Danke für alles, René, ruhe sanft!
Nachruf René Pollesch: Tief in diesem Haus
Manche geschnittenen Blumen verwelken schon vor den Türen der Volksbühne,
es werden frische gebracht, Kerzen neu entzündet.
Ich ahne schon den neuen Schmerz, wenn auch dieses Ritual verebbt.
Vermissen werde ich René weiterhin, und dadurch bleibt auch er für mich am leben.

Ist es Zeit mal wieder Camus zu lesen !
wäre ein schöner Titel für eine der nächsten Inszenierung von Ihm gewesen.

Tief in diesem Haus, überleben die Vertriebenen, die Verstorbenen, die Geliebten, die Geschichten immerfort.
Hätte die Volksbühne Kacheln zum Erinnern, wie die Heilandskirche in Sacrow, an den Aussenwände, eine Freude für Alle.
So bleiben es die Holztische der Kantine.


Es werden Träume sein ,die uns erwachen lassen.
Es werden Träume sein ,die uns erwachen lassen !
Nachruf auf René Pollesch: Zukunft
Wie geht es eigentlich jetzt weiter mit der Volksbühne? Wer übernimmt Polleschs Funktion?
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