Je t'adorno - René Pollesch fährt im Bockenheimer Depot Frankfurt mit einer Straßenbahn namens "Desire" in die Frankfurter Schule
Endstation Diskurssehnsucht
von Michael Laages
Frankfurt, 8. März 2014. Da wäre zunächst mal die gute Nachricht: René Pollesch hat schon wieder einen Text geschrieben, der zwar auf mehrere Sprecher verteilt, aber eigentlich eine Art innerer Monolog ist, und der (wie auch schon recht oft) ziemlich selbstquälerisch von der Unmöglichkeit der Liebe in modernen Zeiten handelt. Auch der Soziologe und Philosoph Theodor Wiesengrund Adorno, einst im Institut für Sozialforschung eine der prägenden Persönlichkeiten der Frankfurter Schule, schrieb gelegentlich über die Liebe; genauer (und im Programmheft): über den verzweifelt zwanghaften Versuch des modernen Menschen, ausgerechnet in ihr, der Liebe also, die großen Wahrhaftigkeiten des Lebens herstellen zu können. Ist aber "Je t'adorno" darum ein Stück Theater in des Denkers Sinn? Zweifel sind erlaubt.
Jetzt kommt die weniger gute Nachricht: René Pollesch hat wieder einen Text geschrieben wie Dutzende zuvor; wie von der Papierrolle im unermüdlichen Diskurs mit sich selbst und der Welt. Und vielleicht kann sich von Pollesch nurmehr überraschen lassen, wer eigentlich gar nichts mehr von ihm erwartet; schon gar keine Überraschung.
Aber zugegeben, der Auftakt im Bockenheimer Depot, der einstigen Straßenbahnzentrale im Frankfurter Nordwesten, ist durchaus überraschend – als theatraler Überfall sozusagen. Für eine Weile nämlich spielt der Ensemblesprechchor Theater pur, eher noch Zirkus. Er rauscht mit einem von Bert Neumanns Team nachgebauten alten Straßenbahnwagen durch eine Wand aus Pappkartons herein in den leeren Raum und sprengt im Weiteren auch gleich noch die Kartonwände rechts und links. Dann bemühen sich die Mitstreiter, zwei Damen, drei Herren, aus den Kartons einen möglichst hohen Turm zu bauen – natürlich so lange, bis er wackelt und stürzt.
Reise nach Desire
Seitlich auf dem Straßenbahnwagen steht "Desire", einmal normal, einmal in Spiegelschrift; das Quintett klettert hinein, kettet sich an den Füßen zusammen und beginnt vor laufender Live-Videokamera (und also für uns nur auf der heil gebliebenen Rest-Kartonwand dahinter zu sehen) über "A Streetcar named Desire" zu philosophieren, also über "Endstation Sehnsucht" von Tennessee Williams. Ob denn wirklich immer drin sei, was drauf stehe, also "Sehnsucht", und ob das reicht; ob die nun drinnen sei oder draußen, die Sehnsucht, auf dem Wagen oder in den Insassen ... undsoweiter.
Tja. Schön. Und nahe liegend im Straßenbahndepot. Wäre allerdings noch ein wenig genauer hingeschaut worden, funktionierte der Diskurs nicht mehr ganz so gut – denn die Straßenbahn "heißt" ja nicht "Desire", sondern sie fährt nach "Desire", was bekanntermaßen ein Stadtteil von New Orleans ist. Wenn aber "Desire", also Sehnsucht, vor allem das Ziel aller Bewegung wäre, müsste die Debatte notgedrungen anders laufen. Aber das sind ja Peanuts, Kleinigkeiten.
Gedankenverloren oder in Gedanken?
Die erste Stückphase berührt natürlich noch viel mehr Themen, vor allem Fragen von Liebe und/oder Nichtliebe im Zustand des Aneinander-gekettet-Seins; Pollesch nutzt auch oft und gern immer wieder Adornos Nachdenken zur Gefahr des Überfahrenwerdens bei "gedankenverlorener" Überquerung von Straßen. Das Wort prägt sich ein: "gedankenverloren" – "in Gedanken" wäre die weniger finstre und nicht ganz so verlustreiche Variante.
In Gedanken oder gedankenverloren driftet das Quintett durch den Text. Mal verlässt das Personal die Bahn und macht eine Art Stadtführung durch die herumliegenden Kartons, eine schnallt sich auch vor die Bahn und spielt einigermaßen grundlos "Mutter Courage"; dann klettern sie wieder rein und stürzen sich kollektiv in einige Szenen, die Komik-Kundige sehr schnell "Monty Pythons Flying Circus" zuordnen können.
Immerhin verschiebt sich durch die Szenen deutlich das Gewicht des Abends – er wird immer alberner. Das ist gar nicht so unangemessen, denn mit der speziellen Struktur ernsthaften Pollesch-Sprechens kommt eigentlich niemand wirklich zurecht; selbst Silvia Rieger, von der Volksbühne zugereist, und deutlich anders "gestimmt" als Linda Pöppel und Oliver Kraushaar, Lukas Rüppel und Vincent Glander, fängt plötzlich an, Sätze "wie gedacht" zu sprechen, also logisch und absichtsvoll verständlich. Und das war zumindest in früheren Ausgaben eher selten das Ziel des rauschhaften Diskurses mit den Mitteln des Theaters.
In der lokale Pointe stecken geblieben
Schließlich stopfen alle fünf den Wagen voll mit Kartons und krabbeln selber noch mit hinein; und im Hintergrund beginnt ein Feuerwerk aus Film-Szenen, in denen Fahrzeuge auf Schienen zu sehen sind: Buster Keaton ist mit dem "General" unterwegs, der Dampflok aus dem Stummfilm, riesige Lokomotiven zerschreddern Autos auf Bahnübergängen, und einmal rauscht sogar noch mal die Straßenbahn durchs Bild, das "Streetcar" also, das nicht "Desire" heißt, sondern dort hin fährt.
Auf dem Heimweg, nach wie immer sehr freundlichem Beifall, bleibt dennoch unabweisbar der Eindruck, am falschen Ort das falsche Stück gesehen zu haben ... Pollesch "funktioniert" mit eingeschworenem Ensemble, und das heißt: hier nicht; und mit der Straßenbahn haben sich Pollesch und Neumann derart in die eine lokale Pointe verrannt, dass die andere "lokale" Beschwörung, die des Großdenkers Adorno, kaum noch auszumachen war. An der Bockenheimer Warte, der dem Depot nächstgelegenen U-Bahn-Station, scheint übrigens eine Straßenbahn aus dem U-Bahn-Untergrund hervor zu brechen – ein Straßenkunstwerk. Ab- und Untergründe, aus denen irgendetwas hervor brechen könnte, sind bei Pollesch im Depot eher nicht zu finden.
Je t'adorno (UA)
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Tabea Braun, Video/Live-Kamera: Ute Schall, Licht: Marcel Heyde, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Vincent Glander, Oliver Kraushaar, Linda Pöppel, Silvia Rieger, Lukas Rüppel.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Es sei psychologisch längst nicht mehr schmerzhaft, dass "das Unbewusste eben auch der Schlüssel zu gar nichts" (Zitat aus dem Pollesch-Text) ist, schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (10.3.2014). Selbst die Frage, ob ein Theaterabend sich damit nicht vor allem an seinem eigenen künstlerischen Problem abarbeitet, sei dabei nicht verboten, "vielmehr quasi vorgesehen". "Natürlich ist das extrem risikolos." "Je t’adorno" wende sich gegen den Mehrwert, plädiere "nicht gerade überengagiert, aber beharrlich und vor Wiederholungen nicht zurückschreckend" für die Selbstverständlichkeit und Berechtigung des Außen: "für Models, die einfach den Laufsteg entlanggehen, und gegen Schauspieler, die glauben, sie müssten auf dem Laufsteg immer noch irgendetwas anderes machen". Aber machten die Schauspieler im Bockenheimer Depot nicht auch immer noch irgendetwas anderes? "Ja, stimmt. Glücklicherweise."
Peter Michalzik findet auf Spiegel online das Schönste an diesem "längsten Pollesch der jüngsten Theatergeschichte" ("iPhone-gestoppte 1:33:57") die Zwischenspiele mit Musik und ohne Worte. Inhaltlich sei "Je t'adorno" weniger rekordverdächtig als der Papp-Turm zu Babel, den die Schauspieler am Anfang errichten. Mit Adorno habe das ganze nicht wirklich etwas zu tun, Pollesch sei vielmehr weiter auf seinem "Feldzug gegen Sehnsucht, Empfindung, Mitgefühl, Gefühl, Ich, Liebe und was man sonst noch im Inneren des Menschen ansiedeln kann" unterwegs. Ausgesprochen interessant findet Michalzik die unterschiedlichen Spielweisen, die man wunderbar beobachten könne. Linda Pöppel, Pollesch-Neuling, spreche so hochdrehend wie ein alter Pollesch-Routinier; Silvia Rieger spiele auf ihre trocken divenhafte Art, "als würde sie sich wirklich gerade überlegen, was sie da sagt". Insgesamt sei der Abend "etwas kalauernd, aber auch sehr unterhaltsam". "Hat da jemand gesagt, dass die Wiederbeleber des Serienformats bei HBO sitzen? Für das Theater muss man René Pollesch das Copyright lassen."
Pollesch wolle "mal wieder nicht weniger als alles verhandeln", schreibt Astrid Biesemeier in der Frankfurter Neuen Presse (10.3.2014). Alles sei natürlich sehr viel für 90 Minuten. Doch dank der schauspielerischen Leistungen sei der Abend trotzdem "oft sehr erheiternd". Die fünf Spieler entließen Polleschs Sätze allesamt "mit schöner Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit in die Welt". Mit Adorno habe das Ganze "selbst auf einen zweiten Blick" nicht wirklich viel zu tun. "Lustig, kurzweilig und handwerklich ziemlich ausgeklügelt ist es trotzdem."
"Der Tanz der voll Inbrunst diskutierten Absurditäten kommt immer mehr in Fahrt", so Kerstin Holm in ihrer eher deskriptiven Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.3.2014), in der Begeisterung anklingt. Polleschs "äußerst vergnüglicher Textmix über die Aporien menschlicher Anziehung, Abstoßung und Selbsterkenntnis" jongliere mit Adorno-Zitaten, aber auch "mit Extrakten aus Adornos Philosophenkollegen Lacan und Žižek." Lob gibt's auch für "das vorzügliche Frankfurter Schauspielerquintett".
Der Abend sei "konzentriert, kurzweilig und oft auch komisch", findet Alexander Jürgs in der Welt (11.3.2014). Pollesch stelle – frei nach Adornos Ampelforderung – die Frage, ob es überhaupt ein Recht darauf geben kann, gedankenverloren am Leben zu bleiben. "Dieser Disput wird bald eine Art Leitmotiv des Abends." Auch auf die Gentrifizierungsdebatte der Gegend um das Bockenheimer Depot, wo lange die Uni stand und nun Begehrlichkeiten geweckt sind, reagiere Pollesch. "Das ist drastisch, vielleicht auch plump, aber kalt lässt es einen nicht."
Die siebte Uraufführung in diesem Jahr!, staunt Vasco Boehnisch in der Süddeutschen Zeitung (11.3.2014). Polleschs Theater bündle zuweilen "neue und gereifte Ideen zu thesen- und bildstarken Wegmarken. In Frankfurt war Pollesch dagegen jetzt kreativ eher auf Durchreise." Ach ja: "Schein und Sein, die ewigen Pollesch-Themen", aber ohne rechten Furor. "Gebremst wird der Text abgeschritten. Ein bisschen Freiheit, Wahrheit, Lieb, Philosophie", doch der Diskurs nehme wenig Fahrt auf. Auch szenisch hatte Pollesch "schon mal mehr zu bieten als Live-Video hinter Flittergardine".
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(Werter Beckmesser,
danke für den Hinweis. Ist erledigt.
MfG, Georg Kasch / Die Redaktion)
Oft wird Pollesch ja unterstellt, er bringe der Verweigerung von echter Emotion und Identifikation eine Polemik gegen die Durchökonomisierung der Gesellschaft auf den Punkt, aber letztlich handelt es sich hier nur um rein privatistische Neurosen die einer sich erdreistet wie ein Kind in der analen Phase absolut zu setzen und auf uns alle und die Welt zu übertragen. Kulturfaschismus à Volksbühnen-Szene-Schickeria.
Und dass er in Deutschland so hoch gehandelt wird, wäre ohne die Nationalsozialisten und ihren miesen kulturellen Hinterlassenschaften sowieso nicht denkbar.
Beide teilen ein gestörtes Verhältnis zu den eigenen Emotionen.
Und wenn es also kein Ich und kein Innenleben, keine echten Gefühle und keine Empathie gibt, wieso soll man dann überhaupt noch die Würde des Menschen achten? Mit diesem Relativismus kann man noch ganz anderen "Schabernack" betreiben als diesen Pseudo-Durchblicker-Wortgeklingel-Intellektualismus; ...wie uns die Nazis - ich meine die von damals - nun leider vorgeführt haben. Und vor dem Hintergrund ist dieses Produkt emotionaler Vernachlässigung gar nicht mehr lustig.