DIE HAKEN, DIE DIE SACHE HAT

24. Oktober 2022. "Mich interessieren Randbemerkungen, Einwürfe, Apropos. Nebensächliches, das zur Hauptsache wird wie das Abwasser im Schacht." In der Hamburger Poetikvorlesung spricht die Dramatikerin Enis Maci über ihr Schreiben fürs Theater.

Von Enis Maci

Enis Maci bei der Hamburger Poetikvorlesung | Screenshot

24. Oktober 2022. Ihre Poetikvorlesung "DIE HAKEN, DIE DIE SACHE HAT " hielt Enis Maci am 22. Oktober 2022 an der Theaterakademie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. nachtkritik.de bringt sie hier in Erstveröffentlichung und dokumentiert den Auftritt im kurzen Videoausschnitt und im Podcast mit der vollständigen Rede. Die Poetikvorlesung ist eine Veranstaltung der Hamburger Theaterakademie / Hochschule für Musik und Theater, kuratiert von Eva-Maria Voigtländer, gefördert von der Rusch-Stiftung Hamburg mit Unterstützung der Holger und Mara Cassens Stiftung. In den vergangenen Jahren wurden die Hamburger Poetikvorlesungen von Wolfram Lotz, Ferdinand Schmalz, Thomas Köck, Ivna Žic und Miroslava Svolikova gehalten.

 

Enis Maci bei der Hamburger Poetikvorlesung
Kamera: HfMT Webcast, Schnitt: Laura Gericke 

 

Podcast

 

 

 

DIE HAKEN, DIE DIE SACHE HAT

von Enis Maci

 

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Escape the emptiness
cause that shit is slow and it kills
the flow and the skill

Immortal Technique – Leaving The Past

 

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1
LEERVERKAUF:
VERÄUSSERN WAS GELIEHEN IST

 

Du hast Feinde da draußen –
sie fordern eine neue Sprache, die alte unablässig verwendend. Man versteht sie ja so gut.

Du hast Feinde da draußen
– was sie tun ist erlaubt. Richtig ist es nicht, Versehen nie.

Es stimmt: Sie wollen dich kaufen. Sie wollen deine Rede, deine Leidenschaften, deine Biografie, jedes Wort, das du in den Chat gehaucht, in den Raum genuschelt hast, sie wollen das alles nehmen und zermahlen und sich schamlos einverleiben.

Willst du das nicht – wundern sie sich. Weil die Warenwerdung des Selbst vielen ja so nützlich scheint, dass sie ihr Elend am eigenen Leib – und freiwillig! – vorantreiben.

Dabei verhält sich der regulierte Markt der vom Staate subventionierten Künste zum freien so, wie sich der hölzerne Kaufmannsladen deiner Kinder zum REWE auf der andern Straßenseite verhält.

Dabei war die Idee ja, gerade nicht im Einzelhandel anzuheuern. Im Writers' Room. In der Gesamtschule, der Lokalzeitung.

Klar, die Idee war, etwas herauszufinden, und der Text ist Schatzkarte und Landschaft zugleich – "if a play was exactly like a landscape", ja, was dann?

Schrift auf Geröll, riesige Buchstaben, bloß von Berggipfeln aus zu entziffern, wenn da Berge wären. Planetare Zaubermaltafeln, die mit einem Wisch wieder blank werden. Worte, die in die Höhe ragen wie ein Joshua Tree oder Essigbaum, deformiert und grell und schön. Das Netz der Baldachinspinne im Herbst, wie es überm Gras liegt, sichtbar nur frühmorgens und am späten Nachmittag, wenn die Sonne ganz tief steht. Webwerk, das sich selbst hervorbringt.

Und das Garn? Ich denk an rotbewollte Schafe, die auf Magmainseln weiden, an die Viehherde des Geryon. Herkules nimmt sich vor, die Tiere zu schlachten, und ihren Hüter gleich mit. Geryon weiß – Herkules hat keinen guten Grund. Er weiß – das Ende der Herde zeichnet seines voraus.

Geryon walked the red length of his mind and answered No
It was murder And torn to see the cattle lay
All these darlings said Geryon And now me

Und im selben Buch zitiert Anne Carson Baudrillard, der schreibt: "Konsum ist keine Leidenschaft für Substanz, er ist eine Leidenschaft für Codes".

Codes – zertrümmern und bedienen, neu verschränken, auseinanderziehen wie kosmische Limousinen, die – Carrier Bag lässt grüßen –, alles, alles enthalten, und die Landschaft von ihrer Rückseite her umzirkeln, A40, Rhein-Herne-Kanal, Reihenhaus, Fanal einer untergehenden Welt, Supernova, roter Zwerg.

Schreiben ist ein Ausschlussverfahren. Differentialdiagnose. Auf dem Globus die verdunkelten Weltsenken nachzeichnen, ihre Hitze spüren, und sich fragen:
HOW LOW CAN YOU GO?

Die Idee also:
Ich schreibe einen Text und ich versuche etwas zu sagen oder herauszufinden oder zu fragen. Irgendwie so, dass es stimmt. Ich versuche einen Witz zu machen oder einen Witz zu zeigen oder –

Ich versuche, dass ATEM aufs Papier kommt.

Die Prosa ist abgeschlossen. Der dramatische Text ist luftig. Für immer unfertig.

Unrat und Haken und Maschen –
feststecken und durchschlüpfen und –
sich verstricken.

Wegen dir bleib ich dabei, kehr ich zurück: wegen DIR
das Aufregende, Gemeinsame

– DU –

bist auch noch da.

DU für die der Text immer ist und nicht ist.
DU ohne die Theater nicht wird.

Ich kenne keinen einzigen Menschen, der etwas anschauen will, bei dessen Herstellung an ihn gedacht wurde. Der sich freut, wenn Hollywood das Ende ändert, der Reaktionen des Testpublikums wegen, oder häufiger: wenn dieses sozial erwünschte Kackende aus vorauseilendem Gehorsam schon vorher reingeschrieben wurde.

Sagen wir etwa: Bei Hunger Games. Katniss und Peeta, der sichere Bank und zweite Wahl ist, eigentlicher Sympathieträger in dieser postapokalyptischen Heldenwelt, in der die folgenlose Enthüllung immer schon längst stattgefunden hat – Panama Papers, Epsteins Insel, Springer-Skandal –, Katniss und Peeta, die am Ende, wenn die Schlacht gewonnen, die Revolution ihren inneren Feinden davongesprungen ist wie ein flauschiges Tierchen aus Geryons roter Herde, Katniss und Peeta, die dann also ein amerikanisches Country-Life leben: Prairie-Dresses, Kinderlein, Sonnenuntergang. Und so – steht es ja schon in der Buchvorlage.

Wieder mal am langen Arm der Selbstzensur verhungert. Ein Verbrechen bezeugt, und den Tatort nicht wiedergefunden.

Ok. Wenn sie dich wirklich kaufen wollen, wenn du dich wirklich wissentlich verkaufst – was ist dann mit den größeren Geschäften? Was ist zum Beispiel mit Reality TV? Was ist mit 18 Kids and Counting und Naked Attraction und Love Island? Was ist mit Roland Schills kokainzerfressener Nase? Mit den TikTok-Programmierern? Marktgesetz und Staatszensur?

"Von nun an ist das Wichtigste für Schriftsteller, dass diese keine Welt der Schreibenden [mehr] ist", schreibt George Orwell 1940, und irrt sich grad, INDEM er Recht hat. Weil es ja doch eine Welt des ewigen Schreibens und ÜBERschreibens ist, der konkurrierenden, sich wie Wale und Kalmare verschlingenden Erzählungen, die auf einen Kassenbon passen wie Merz' Steuererklärung auf einen Bierdeckel passt, die Kommoditäten sind, und der Subventionsbetrieb, die Buchpreisbindung, die Rundfunkgebühren, die eigentlich eine Kurtaxe sind, ein Eintrittsgeld – sie zeigen das Vermutete längst: Die Festung Europa ist ein Freizeitpark, und wir Schreibenden in ihr: Darsteller einer untergehenden Gattung, wie es das Nilpferd ist oder das unter Hospitalismus leidende Nashorn im Berliner Zoo; das sind wir, umgeben von Roboter-Engeln, die dich festnehmen, verhören und therapieren können.

Überhaupt – die Sprache der Psychotherapie, die angeblich Rettung versprach – Trauma und Abuse und Boundaries, immer wieder Boundaries –, diese Mental-Health-Sprache schleicht sich in Zeitungsartikel, Theaterstücke und Instagram-Politbildchen gleichermaßen. Und mit einem sanften Daumenstrich – seit ich ein neues Telefon habe, hat sich die Evolution meiner ganzen Spezies exponentiell verschnellert, meine Sehne dehnt sich immer weiter und weiter, ich werf sie aus wie eine Angelrute –, mit einem sanften Daumenstrich also gelange ich zum nächsten Thema. Da sind sie, die desaströs modischen Schwestern Rupi Kaurs, welcome to Diaspora Poetry: Ein Mango- oder Maulbeerbaum. Das zu glänzenden Zöpfen geflochtene Haar der Ahnin. Ihre zum Gebet gefalteten Hände, substanzlos wie eine in Plastik gefasste Dürer-Kopie, von der Quelle abgeschnitten wie der Nord-Krim-Kanal, Pose bloß, mehr nicht. Man möchte, wenn man das so liest, nie wieder eine Pflanze beschreiben, oder ein Gefühl.

Übrig bleibt die Weigerung, den Mut zu ihr vorausgesetzt (weiß nicht, ob ich ihn hab), und auch das sieht Orwell voraus: "Die passive Haltung wird zurückkommen, und sie wird noch bewusster passiv sein als zuvor."

Hunger Games jedenfalls. Passt ja eh total gut: Panem et Circenses, Brot und Spiele.

Ist das Theater der Austragungsort dieser Spiele, oder ist es das Spiel? Es geht ja um nichts. Es ist ja nicht mal ausverkauft. Das ist ja keine imperiale Arena hier, auch wenn wir es durchaus mit einem Imperium zu tun haben.

Es ist die Rede vom Politischen als Abziehbildchen im großen Panini-Album Subventionsbetrieb. Es ist die Rede vom Verhältnis des Schreibens zur Herrschaft. Eine prekäre, unauflösbare Frage, die sich trotzdem permanent stellt. Umso lauter, je nachdrücklicher die Rede von der richtigen Seite, auf der WIR also stünden, gehalten wird. Feministische Außenpolitik beginnt im Goethe-Institut. Und Hollywood – represents.

Klar, das alles kommt irgendwie NACH dem Schreiben, aber: VOR der Aufführung.

Schreiben fürs Theater, das heißt ja: ständige Kontaktaufnahme mit einem Staatsapparat in Geberlaune, nur: Wie lange gibt er noch? Und: Warum mir? Was gibt der Staatsmacht das Gefühl, in mir einen Kristallisationspunkt sich auszahlender Investition gefunden zu haben? Sollte mir dieses Vertrauen zu denken geben?

Und wenn es sich verliert, das Vertrauen? Gelobe ich zumindest feierlich, kein einziges Thinkpiece über die Arbeitsbedingungen Kulturschaffender, über Care-Arbeit und GESELLSCHAFT zu verfassen, ist doch das Klagen über diese Dinge selbst längst Ware geworden. Die Redakteurin, die Jurorin, der Mäzen – man schnappt danach. Von Reproduktionsarbeit, von der Hausfrau, die den Malocher fit für die Fabrik macht, spricht man hingegen nicht mehr.

Schreiben und Herrschaft, das Ästhetische und das Politische, untrennbar verstrickt wie die Ruten eines Brombeerstrauchs, wie der NATO-Draht, in den ein Vater seinen ungehorsamen Sohn wickelt, und ja: wie DU und DU und DU im "Stück".

Eines Montags sitze ich im Regionalexpress auf dem Weg ins bayrische Füssen. Ich lausche Björn SC Deigners sehr gutem Hörspiel Die Polizey über die Entstehung derselbigen. Vor dem Fenster das saftige Voralpenland. Am Horizont erscheint ein Schloss: Neuschwanstein. Es ist das Vorbild jedes Disney-Schlosses. Der alte Walt sieht es und schreibt eine Postkarte. Darauf steht: Build this. (Stimmt übrigens nicht.)

Ein anderer Montag. Es ist Nacht. Unsere winzige, orange geflieste Küche dampft. Late-Night-Snack: Nudeln mit Spaghettisoße. Ich sitze auf einem Hocker im Türrahmen und lese das Internet vor. Und da steht: dass die Polizei nach Rancière das Gegenteil des Politischen sei. Und das Politische nicht etwa eine Arena, in der Kämpfe ausgetragen würden, sondern: der Kampf selbst.

Nur, wenn DAS stimmt – und in dieser Nacht von Montag auf Dienstag gegen 01:13 bin ich überzeugt davon –, wenn das also stimmt: Was bedeutet das Auslegen und Zurechtschneiden und Ausstaffieren dieser Kämpfe, das aggressive Nivellieren ihrer Unterschiede, ihre Bastardisierung zum lahmen, gut verkäuflichen Glitzertand, ihre kleinstadtmodenschauhafte Präsentation in der Stadttheater-, der Feuilleton-, ja, auch der Museums-Arena dann? Ist das denn nicht das Gegenteil des Lebens überhaupt?

Das Nudelwasser kocht über, der Herd piepst, und mir fällt das Geräusch ein, das ein Greis macht, wenn er sich mit einer herzhaften Bewegung den Schweiß von den Eiern quetscht, in der Sauna. Das selbstzufriedene Geräusch der klebrigen Greiseneier, tausendmal vervielfältigt zu dem Applaus, der auf jede Entjungferung folgt:

Schlotz schlotz, Uraufführung.

 

2
WAS SPÄTER IST, DAS WEISS ICH NICHT

 

Ich versuche also was –
Den Atem also rein in den Text, oder –
Den Text irgendwie stolpern lassen, atem- oder vielleicht ruhelos, hab das Rubbellos also schon wieder aufgeribbelt, das System schon wieder nicht ausgedribbelt, schon wieder bloß zwei Schweinchen freigerubbelt – Wie macht die Polizei: "Oink Oink" grunzt das Los und zum Trost kratz ich noch ein Kleeblatt frei, zähl die Blätter, doch es sind bloß drei und ich –
denke, dass wir die Wiedervereinigung Irlands noch erleben werden.

Und ich –
denk an die Kartoffel in Leopold Blooms Hand. Der Sohn eines ungarischen Juden und einer protestantischen Irin bezeugt das Ende der Kolonie mit einer andern Kolonien entnommenen, schmutzigen Knolle in der Jacketttasche.

Und ich –
denk an seine Molly, die Bad Boy Boylan bumst, und ans Zauberkraut Moly, das eine Lauchzwiebel ist, das abwehrt, was schadet, und schützt, was nützt. Zur Zeit der Zwiebel, sagt man im Albanischen, wenn man eine weit entfernte, vage erinnerte Epoche meint. Weiter zurück liegt nur die Zeit des Furzes. Von ihr wissen wir nichts.

Urknall. Vor der Ausbreitung der Gase war bloß Grauen, das eine Leere ist:
"Escape the emptiness, cause that shit is slow and it kills the flow and the skill."

Ulysses jedenfalls: Das Geile dran, schreibt Orwell in seinem Essay Inside The Whale, das Geile dran sei das Gewöhnliche des Materials. Joyce entdecke ein Amerika, das die ganze Zeit vor unserer Nasenspitze gelegen habe.

Und darum gehts ja: Enthüllen, was ohnehin schon da ist. Offenlegen, was sich bedeckt hält, wenn auch nur halbherzig. Eine Grabung anstellen, in der Zeche oder im Sandkasten. Die Abwässer, die den Schacht fluten, könnten sich als eigentlicher Rohstoff entpuppen.

Was schmerzt denn da am Herkommen? Wer trägt die Schuld und warum? Wieso verstößt ein Vater seinen Sohn? Was hat es mit den Flechten und dem Flechten auf sich? Gibt es das – unter dieser, deiner Haut, ein Platz, an dem du gerne bist?

Dass ich was herauszufinden versucht habe, zeigt sich natürlich erst hinterher. Vielleicht wird es in Zukunft anders sein, wahrscheinlich sogar. Dies ist keine Prognose, nur ein Querschnitt des Geschehenen.

In order to know, one must always go back, schreibt Gertrude Stein.

Vorher wissen, was hinterher passiert, ist das größte Versagen. Die Zeit verrinnt falschherum. Quellen legen Flüsse trocken. Regenfäden prasseln in den Himmel.

Und vorher, das heißt nicht nur: VOR dem Schreiben, sondern auch: VOR dem Theater, VOR der Probe, VOR der Aufführung. VORHER Bescheid wissen heißt, das Wasser zurück in die Normbrunnenflasche spucken, heißt heißer Aus-Atem, der in deinen Rachen kriecht, bis du prall und rosa wirst, ein Gummiflamingo, eine nicht runterzukriegende Rettungsboje, von der Tiefe, von der Schönheit der Korallenriffe maximal entfernt.

Und dass ich mich diese Dinge gefragt habe, wusste ich also erst hinterher.
Währenddessen, während des Schreibens etwa, passiert ja dies:

Etwas wird zu etwas anderem. Ein Unwohlsein wird zu einem Versuch. Erst der Versuch führt zur Frage, die viele ist, so viele, wie die Sache Haken hat. Die Haken werden zu Tentakeln, die DICH streicheln, und DU und DU und DU, ihr macht dann etwas anderes daraus.

Die Verwandlung ist die älteste aller Figuren, heißt es bei Canetti. Und die Idee einer Figur bloß die Fixierung bestimmter Verwandlungen. Dabei liegt die Macht nicht im Festnageln des Vorgangs, sondern im Vorgang selbst. Ich verwandle mich, und dich, und du verwandelst mich, und wir uns –

Die Haken, die die Sache hat, sind viele. Denk an die Angelrute, an den Brombeerstrauch. Denk an den NATO-Draht, den ein Vater braucht, um seine Wahrheit niet- und nagelfest zu machen.

Ein Mann ficht aus, was er ausfechten muss. Etwas umwickeln und selbst nicht verwickelt werden, das ist – so viel steht fest –: unmöglich.

Die Haken, die die Sache hat, sind viele.

Haken, der

1. gekrümmte Vorrichtung zum Aufhängen oder Einhaken von Objekten
2. winkeliges Schriftzeichen (vgl. diakritisches Zeichen, vgl. Vokalzeichen)
3. nicht offensichtliche Schwierigkeit
4. plötzliche Richtungsänderung bei fliehenden Tieren
5. Schlagtechnik beim Boxen
6. Eckzähne einiger Wildtiere, vor allem weiblicher Wildschweine (auch genannt: Bachen)

Die Haken, die die Sache hat, sind eine Sauerei. Oder – etwas wunderbar Notwendiges. Der Klettverschluss zwischen DIR und dem Text.

Weil: Die Sache, die die Haken hat, ist ein Text fürs Theater.
Die Sache, die die Haken hat, hat noch mehr: grobe Maschen etwa.

Masche, die

1. aus Garn, Faden, Draht oder Ähnlichem gefertigte Schlinge, die beim Stricken, Häkeln oder durch Verknüpfen entsteht
2. als Zierde getragenes Haarband

Die Masche, die man fallen lässt. Die Masche, die – dein Haupt ziert, dein Genick umschlingt: das unverzichtbar Unnötige. Die billige, die absolut miese Masche. Das Fadenspiel, abgedroschen, totgezockt.

Der Faden, an dem man hängt, und Klothos knotige Hand, die dich bedrängt, die – aufgespannt – die Schere hält. Herkules war der erste Disney-Film, den ich im Kino sah, und Pinocchio, viel früher, der erste, der mir Angst einjagte.

In Immortal Techniques Freedom of Speech gibt es ein Sample aus Pinocchios Lied, das ich so vor Wochen erst das erste Mal auf Englisch hörte:

I got no strings to hold be down
To make me fret or make me frown
I had strings, but now I'm free
I got no strings on me

Als Kind sah ich den Film nur ungern bis zum Schluss. Ich spulte zurück, sobald Pinocchio, auf dem Schulweg zum Schwänzen verführt, ins Showbiz abzurutschen drohte.

Pinocchio, wie er ein Feuer anzündet, im feuchten Bauch des Wals. Unter seiner Haut ein Platz, an dem es brennt. Pinocchio, der selbst noch hölzern ist, den die Nässe fremder Eingeweide am Selbstmord hindert. Und später dann, nach Läuterung und Wiedersehn mit Schöpfervater Gepetto, nach Todeskampf und ja, sogar nach kurzem Tod, verwandelt sich Pinocchio in das, was er immer schon war: einen echten Jungen aus Fleisch und Blut.

Natürlich erzählt Walt Disney Pinocchios Geschichte als eine der Assimiliation. Aber da ist ja noch mehr, hinter dem family-friendly mid-century Horror nur halbherzig verborgen: Der Gedanke, dass die Tat dich zum Menschen macht. Unterlässt du sie, verholzt du wieder. An der Ohrmuschel fängt es an. Greif doch ruhig mal nach den Feinden. Prüfe ihre Knorpel. Feinde – verschwenden ihre Fähigkeiten nicht. Sie verwenden sie bloß.

Als Jona aufgefordert wird, nach Ninive zu reisen, um der Stadt ihre Vernichtung zu verkünden – flieht er Hals über Kopf, und heuert als Matrose an. Gott aber entfesselt einen gewaltigen Sturm. Jona springt über Bord, gradewegs ins Maul eines großen Fisches. Er sagt:

"Das Wasser reicht mir bis an die Kehle, / die Urflut umschließt mich; Schilfgras umschlingt meinen Kopf."

Der Fischer James Bartley war 36 Stunden lang im Magen eines Pottwals gefangen, 1891, abseits der Falkland-Inseln. Bis – seine Kameraden das Tier harpunierten. Bis – sie es häuteten, und ihn fanden, verstört und nass, die Haut von Magensäure ausgeblichen.

Der Kopf des Pottwals enthält ein Öl, das Walrat heißt. Man hat einmal Kerzen daraus gemacht. Sie waren der Maßstab für alle anderen Lampen. Moby Dick wurde im Licht des Pottwals geschrieben. (Das stimmt.)

Inside the Whale von George Orwell erschien im Jahr 1940, kurz nach der Premiere von Disneys Pinocchio. Orwell, wie er ins Kino geht, vielleicht in Pimlico, warum nicht, da wo London mithin am Londonhaftesten ist, terraced houses, Georgian style, und ein seltsamer, klebriger Wohlstand. Die Herren aschen in sandgefüllte Kübel. Mister Orwell knackt ein Ale. Er trägt seinen guten Mantel, der sein einziger ist. Aufregung im abgedunkelten Saal. Jungs in kurzen Hosen, die von ihren Vätern ausgeführt werden. In einem halben Jahr wird London bombardiert. Pimlico bleibt, selbstverständlich, unberührt.

Orwell schreibt über Henry Millers Tropic of Cancer, mehr noch aber über das Verhältnis von Texten zu ihrer Zeit. Licht ins Helle bringen.

Miller, sagt Orwell, behandle das Englische als gesprochene Sprache, gesprochen ohne Furcht, das heißt Furcht vor Rhetorik oder dem ungewöhnlichen oder poetischen Wort.

Henry Miller wiederum sitzt in der Villa Borghese und rasiert seinem verlausten Mitbewohner Boris die Achseln. Miller fragt sich: Wie kann man an so einem schönen Ort Läuse haben? Näher kommen sich die beiden nie.

Henry Miller blickt über die träge Seine und akzeptiert das alles.

Das alles akzeptieren, schreibt Orwell im Jahr 1940, das hieße: "Konzentrationslager akzeptieren, Gummiknüppel, Hitler, Stalin, Bomben, Flugzeuge, Dosenessen, Maschinengewehre, Putschs, Säuberungen, Slogans, Fließbänder, Gasmasken, U-Boote, Spione, Provokateure, Pressezensur, Geheimgefängnisse, Aspirin, Hollywoodfilme und politische Morde. Nicht nur diese Dinge, natürlich, aber diese Dinge unter anderen."

Zivilisation. Verfall. – Das alles akzeptieren, schreibt Orwell, bedeute, es unzerkaut zu schlucken.

Schlucken wie Llonas Fotze in Tropic of Cancer alles und jeden schluckt:
"Eine Fotze unter Millionen, Llona! Eine Laborfotze und kein Lackmustest, der ihre Farbe annähme. Sie war auch eine Lügnerin, diese Llona. Kaufte ihrem König Karl nie ein Bett. Sie krönte ihn mit einer Flasche Whisky und ihre Zunge war voller Läuse und Morgen. Armer Karl, er konnte sich nur in ihr verkriechen und sterben. Sie atmete ein und er fiel raus – […] ein Loch ohne Schlüssel." – Das ist der Magen des Wals.

Und Orwell spricht von Miller, der von Aldous Huxley spricht, der wiederum vor einem Bild El Grecos steht, das Der Traum Philipp des II. heißt. Und Huxley findet, die Menschen auf den Bildern El Grecos sähen stets so aus, als befänden sie sich in den Bäuchen von Walen, in Gefängnissen aus Eingeweide, die Miller aber eigentlich schön vorkommen, geschützte Mutterleiber, aus denen Einsicht diffundiert. Orwell aber meint, auch Miller selbst sei, und zwar gerne, im Inneren des Wales, der in seinem Fall durchsichtig ist. Er sieht auf die andere Seite und hat doch keinen Impuls, in das draußen Geschehende einzugreifen. Er lässt, wie Jona, zu, geschluckt zu werden.

Das Jahr 1940 war ein Schaltjahr. 13 Tage liegen zwischen Pinocchio und Inside The Whale.

War es das Treffen zwischen Gepetto und Pinocchio, da im Magen, der eine Arena ist, das Orwell an El Greco bei Huxley bei Miller denken lässt?

Ich schaue mir ein Video an, in dem ein Pottwal geschlachtet wird.

"Cuttin' in a whale is like peelin' an apple – you keep heavin' on the windlass till he's all unwound", verrät mir der Text zwischen zwei stockenden Szenen.

You keep heavin' on the windlass till he's all unwound, wundlos, unwind, windstilles Bild, ein Mann, der einen Riesen killt, unwind what has to be unwound, wundlos windstill unüberwindbar verwundet, in Stücke: nein, in EIN Stück gerissen –

Der Blubber des Pottwals wird in einem langen tonnenschweren Streifen abgeschnitten. Er kommt mir endlos vor. Das Tier schälen und zu keinem Kern vordringen. Dort, wo das Walherz sein sollte, wartet bloß – tick tack, tick tack – die Zeit der Zwiebel.

Und die Walmänner – gierig stehen sie, die seit Monaten zärtlich sind miteinander, auf einem dünnen Steg zwischen Schiff und offener See und stechen mit ihren Enterhaken auf die Haie ein, die ihnen, nach dem Netz schnappend, folgen. Unverbesserlich undomestizierbar beißen sie die Hand, die sie vielleicht füttern, vielleicht töten will.

Die Haken, die die Sache hat. Ich zähl sie auf –

 

3
DIE BÖSEN MYTHEN

 

Erstens:
Dass das Gemeinsame mit allen zu machen sei.

So wie man nicht in alle verliebt, mit allen befreundet sein kann, kann man auch nicht mit allen arbeiten. Der Subventionsapparat aber paart irgendwelche Regisseure mit irgendwelchen Autoren, weil er sie zufällig im gleichen Einkauf besorgt hat, weil er – sie zu besitzen glaubt.

Im Theater sitzen und sich dessen schämen, was da passiert. Die eigene Mitschuld wälzen wie einen Pfennig, auf dem bald schon die Fassade einer restaurierten Kathedrale prangt – Lädt denn mein Text am Ende zu seiner eigenen Verstümmelung ein?

Zweitens:
Dass bestimmte Leute, mit ihren allzubestimmten, die Mehrheit nicht betreffenden Themen, dass diese Leute nicht mehr als Menschen zweiter Klasse gölten – das ist natürlich gelogen. Am Theater wird, wie überall sonst auch, erwartet, man möge sich seiner Herkunft gemäß verhalten. Schlachte aus, woher du kommst: aus der Arbeiterklasse, aus der Ausländerbehörde, von der letzten Abtreibung.

Nein. Demut gib nur dem, der sie nicht fordert. Mach dich nicht mitschuldig an der Erniedrigung deiner Person unter dem Deckmantel der Vielfalt. An dieser Stelle geht es leider nicht ums Herausfinden, um Form und Versuche, Sound und Synapsen. Hier geht es um was Anderes. Eine hässliche Angelegenheit.

Am Ende – stehst du in der Schlange zum veganen Reisgericht, auf einer dieser mit allen Wassern der Repräsentationspolitik gewaschenen Kulturveranstaltungen, und siehst dich ratlos um. Im Backstage nur Kanaken. Franziska klatscht – wir tanzen.

Drittens:
Dass das ginge, eine Vielzahl an Stücken im Jahr, auf Kommando, worüber du willst sogar, und was du zu wollen hast, eine bestimmte Warenform.

Weil ich das Angestelltenverhältnis stets gemieden habe, kann ich hier nicht anfangen vom tatsächlichen Arbeitengehen als ehrenhafter Ersatzhandlung.

Viertens:
Das Theater hat keine "gesellschaftspolitische Relevanz". Es "eröffnet keinen Dialog". Es "greift keine wichtigen Debatten auf". Tut es das doch, ist es falsch.

Die Subventionsinstitutionen – um die man kämpfen muss, weil sie ein letztes, wenn auch staatlich vermitteltes, Überbleibsel von Öffentlichkeit darstellen –; die Subventionsinstitutionen wissen vorher schon, was sie suchen. Und was sie finden werden. Sie liegen also per se falsch, auch wenn es richtig ist, dass es sie gibt. Das Schöne entsteht im Spalt zwischen zwei Mühlsteinen. Hier liegt die Bühne verborgen: im Zwischenraum.

Fünftens:
Dass das harmlos sei, das öffentliche Sprechen, das Formulieren sogenannter Statements, Interviews, Programmhefttexte, dieses Formen von Gedanken mit dem Mund, Gedanken, die bis auf alle Zeiten gegen dich verwendet werden, als eine Art Geheimerklärung, als hättest du sie nicht selbst abgegeben.

Sechstens:
Dass die Kunst einen Auftrag habe. Dass sie sei, UM ZU –

SCHWACHSINN.

 

4
DRECK AM STECKEN

 

Der Wendepunkt liegt hinter uns. Zeit also für die Katharsis. Beim Schreiben dieser Zeilen ereilt sie mich leider, leider nicht.

Katharsis, die
altgriechisch für Reinigung

bezeichnet im Allgemeinen die psychische Reinigung durch Ausleben innerer Konflikte und verdrängter Emotionen, speziell Aggressionen

bezeichnet im Besonderen die seelische Reinigung als Wirkung der antiken Tragödie

Katharsis, die Reinigung, oder, Latein, purgatio. Von da ist es nicht weit zum Fegefeuer, Purgatorium. Wer wird hier eigentlich von was gereinigt, und wohin komm ich, wenn ich sauber bin?

Den Helden sein unausweichliches Schicksal annehmen sehen und seine eigenen Schlüsse ziehen, wie ein Mädchen, das mit Puppen spielt.

Leidenschaft also in Nützliches verwandeln (Lessing erst, und dann, ganz anders: Gramsci), Spüren also UM ZU handeln, und zwar gemäß sozialer Konvention.

Fühlen, was du nicht fühlen darfst: Marie Kondo, Deep Cleanse, Katharsis. Rauslassen, was da ist. Oder, mit Blick auf die um sich greifende Kritische-Männlichkeits-Literatur, dem binären Gegenstück zur großen Care-Arbeits-Offensive: Versuchen, das zu fühlen, was du ohnehin nicht fühlst, aber auch nicht fühlen dürftest, etwa das Bedürfnis, deinen Sohn in NATO-Draht zu wickeln. Komm schon, Mann, konzentrier dich drauf, auf das verboten Ungefühlte, als wolltest du dich, im grellen Schlecker-Hinterzimmer dem Ladendetektiv vorgeführt, möglichst schnell zum Heulen bringen. Im Märchen sagt die Hexe: Wenn du einen Zuber voll Tränen weinst, so will ich dich freilassen.

Eine der abfälligsten Beleidigungen im Albanischen ist – die Bezeichnung als Waschzuber. Das spielt an auf die Schwiegertochter, die des Schwiegervaters Füße wäscht, wen der den Sohn besucht. Geste der Ehrerweisung, aber eigentlich: der Selbsterniedrigung.

Einen anderen reinigen, weil der es – grundlos – von einem erwartet. Weil er glaubt, das zu verdienen. Weil er er ist und du du. Nein. Das mach ich nicht. Der regelmäßige, sich wiederholende Akt der Hygiene ist ein einsamer. Die finstere Lächerlichkeit ist, wie Wolfram Lotz in diesem Saal schon vor Jahren feststellte, unter gar keinen Umständen zu schreiben. Der Schwiegervater kann sich selber bücken, schrubben und – auch die Zehenzwischenräume unbedingt abtrocknen!

Nun schimpft man ja nicht Wäscherin – man schimpft Zuber. Dieser Typ ist ein totaler Waschzuber, sagt man. Er lässt sich hinstellen, wo andere ihn wollen. Er nimmt den ganzen Dreck klaglos in sich auf, verwahrt ihn gut, verbirgt ihn unter einem öligen Spiegel. Und trübe schwebt: Die abgelegte Haut anderer, in klitzekleinen Fetzen.

Vielleicht – kann man ja in diesem Schmutz die Zukunft lesen, wie aus Knochen und aus Eingeweiden, wie aus dem Vogelflug? Zeigt sich, wenn man das Ding ein bisschen kippt, die Flüssigkeit ins Wanken bringt – was anderes? Wenn nicht was wird, so doch, vielleicht, was ist? Im Zweifel ist da ja zumindest – ein Spiegelbild: ein Strahlenkranz, wie von Fett, das auf Brillengläsern klebt. Sterne krönen, Sonne kleidet dich. DU – hast etwas gesehen.

Apokalypsis, die
altgriechisch für Enthüllung, Offenbarung

bezeichnet den Weltuntergang, die Zeitenwende, die Enthüllung göttlichen Wissens, die Enthüllung des Wissens um das, was kommt, nein: was kommen MUSS.

Byebye Katharsis. Der Schmutz bleibt in den Ecken liegen, der Schlaf glüht weiter in den Augenwinkeln, und auch der grünliche Abdruck deines Wasserglases bleibt, wo er ist.

Nicht Katharsis, sondern Apokalypsis, denn: auch die frischgewaschene Sau wälzt sich im Dreck. Bacchien der Bachen. Polizeieinsatz. Das hier lohnt sich nicht, es holt sich – den Sonnenstrahl in dein Auge und darauf, umgedreht, ein Bild, das du dir machst.

Apokalypsis, totale Offenlegung. Der Planet als steinerne Wüste. Gas und Wind und Glut. Tod durch Landschaft. Welt ohne uns: does not compute, nicht vorstellbar.

Apokalypsis, Verrat. So wie: verraten, was man denkt.

Miller, sagt Orwell, spielt Geige, während Rom brennt, und anders als die Meisten, die dies tun, spielt er mit dem Gesicht hin zu den Flammen.

Apokalypsis, Enthüllung, eigentlich: ein Polizeibericht zukünftiger Verbrechen, Minority Report, Tom Cruise befragt die im warmen Babybecken dämmernden, ruhiggestellten Pre-Cogs. Nur gemeinsam sehen sie voraus, was morgen ist. Was morgen ist, geschieht, WEIL sies voraussehn.

Im Raum zwischen Wachen und Schlafen –

triffst du Engel, die Monster sind. Sechs-, zwölfflüglige Wesen, von Augen bedeckt. Vierzigäugige Blicke, die dich durchbohren wie ein Angelhaken, umso tiefer, je mehr du dich wehrst. Sie sehen alles. Ihr Blick schmilzt Stahl. Sie haben kein Gesicht. Sie sind wie Kafkas Odradek als rachsüchtiger Actionheld.

Und JoJo singt: Leave / Get out / Leave / Right Now / It’s the end of you and me –

Was folgt denn auf das Ende?

Es ist natürlich leichter, davon zu sprechen, was das Schreiben im Allgemeinen, was das Schreiben fürs Theater im Besonderen, was Theater im Besondersten –; es ist natürlich leichter, davon zu sprechen, was diese Dinge eben nicht sind, nicht sein sollen, wo die Feinde sind und wo die Gegner, wo die Haken und die Tücken, es ist leichter, sich diesen Dingen verneinend anzunähern, weil – sprechend vom Sprechen, schreibend vom Schreiben zu erzählen, ist, als wolle man mit einer Fotografie die Fotografie selbst erklären, mit einem einzigen Film das Wesen des Films.

Jeder gute Text gerät, immer weiter werdend, zu dem, was er behandelt. Sound und Form und Inhalt SIND nein WERDEN nein MACHEN Text.
Das Theater als Selbstvergewisserungsstätte Gleichgesinnter interessiert mich nicht. Wir sind ja gar nicht gleich gesinnt. Mit denen, die da lachen – besonders denen, die sich auf meiner Seite wähnen –, ich hab mit ihnen nichts gemein. Auch wenn sie meine Miete zahlen? Ganz besonders dann. Das weiß doch jede, die einmal gequält über die Witze ihres Chefs geschmunzelt hat.

 

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WAS MICH INTERESSIERT

 

ist meine Nachbarin, beim Hochtragen der Einkäufe, wie sie mir erzählt, wie sie einmal, hochschwanger, den Eisenacher Friedhofshügel hochrobbte.

Klammern, die sich öffnen, und in ihnen: Welten.

Das Leben "drüben", und ein Ex-Mann, dessen Name längst vergessen ist.

Mich interessieren Randbemerkungen, Einwürfe, Apropos. Nebensächliches, das zur Hauptsache wird wie das Abwasser im Schacht.

Eine bestimmte Art, Verwirrung zu stiften.

Schachtelsätze, die in Gedankenstrichen, oder besser: gar nicht enden.

Episoden, zwischen denen ein Kind gefüttert, eine Ananas umgetopft wird, wie die Ananas, die früher im Zimmer meiner Klavierlehrerin stand. Wie sie in Tränen ausbrach, als ihr Auto auf den Schrott musste, Fiat Panda erster Generation, und sie schilderte mir jede darin unternommene Reise, und – das hatte ich immer gefragt – wie die Notenberge im Kofferraum dorthin gekommen waren, Blatt für Blatt. Das Zittern ihres kleinen Fingers, des einzigen, den sie lackierte, metallicgrün wie ein Rosenkäfer, zehn Jahre lang.

Mich interessieren die Hintergrundinformationen zu den Konferenzteilnehmern.

Mich interessieren Epen, die, verkapselt wie ein Geschwür, im Inneren der Erzählerin, die ein Archiv ist, schlummern, bis sich die richtige Zuhörerin nähert, Schlüssel-Schloss-Prinzip:

Mich interessiert die Schlampe von Pulheim. Sie schleppte sich, schmutzig und verkühlt, aus dem jüngst besiegten Bombenkeller in die Arme der Gewinner. Sie ging mit den Soldaten und kam mit Konserven zurück, die ALLE Pulheimer Kinder aßen, deren Mütter aber die Heldin ohne Cape, die Maria Magdalena des Rheinlandes sowie ihr Mann aus der Kriegsgefangenenschaft heimkehrte, an denselben verrieten. Zwei Tränen tropfen, lange nach der Tat, in zwei Gläser Pfalzwein rein.

Mich interessieren die Jahrestage. Dass eine Stimmung wiederholt werden kann, auch wenn das Ereignis, das sie auslöste, trivial ist oder längst vergessen.

Das Gespenstische, das in den Erfahrungen zweiter, dritter Hand liegt. Als könnte sich die selbstlose Pulheimerin, die damals jünger war, als ich es heute bin, in dieser Stadtrandstraße plötzlich materialisieren.

Mich interessieren Dinge, die mich absolut nichts angehen.

Die Lokalzeitungsmeldungen aus dem Jahr 1971. Die Abgründe der Wayback-Machine. Dilettantisch übersetzte Gerichtsakten. In der British Library alle Veröffentlichungen bestellen, die auf den eigenen Nachnamen getaggt sind, und schauen was so los ist, bei den globalen Namensvettern.

Abschweifungen, auf denen Sprache surft. Der Klang eines Wortes erinnert dich an ein anderes. Und DICH und DICH und DICH. Grelle Lettern, vom Helikopter aus gesehn. Das vom Hospitalismus geschlagene Nashorn, es läuft vor und zurück, es versucht, etwas herauszufinden. Sein tragischer Spaziergang – ein Lektorat.

Orwell liest bei Miller von Huxley bei El Greco und so mach ich mir einen Reim auf Philipp und Don Carlos, auf die spanischen Habsburger, Herrschaft und Entstellung, Prince Andrew und Euthanasie, und lande so, irgendwie, wieder im Bombenkeller –

Das ist die Sache, für die ich streite, in der ich mich verfange. Sie handelt von Apokalypsis, von Enthüllung als Lebensweise: das Dramatische am Erzählen. Nicht Episches Theater, sondern Epik im Theater.

Freundschaft heißt: das tausendmal Besprochene besprechen.

Das hier ist also für die Storyteller und die Profisänger, das ist für den Barden, der auch Stasispitzel ist, und für seinen einstmals in Stacheldraht gewickelten Sohn. Das hier ist für die Bauern, die Geschäfte in der Stadt haben, die den Marktplatz mit ihrer Ernsthaftigkeit verdunkeln, die schreckliche Leere eines Frühsommermorgens verdrängend. Das hier ist für die Kinder, die wütend werden, wenn sich ein falsches Wörtchen einschleicht in die Geschichte, die sie brauchen, um einzuschlafen, das hier ist für die Schläfrigen, die zwischen Aggregatzuständen flackern. Für die Freunde, für ihr Montagmorgenchatstakkato: Was ist passiert und was wird passieren? Wer hat hier wen geküsst und warum? Das hier ist für den Mann, dessen Geschichte ich tausendmal verfälscht habe, für den Mann am Busbahnhof, der schrie: Wenn ich dich heute nicht finde, find ich dich morgen (das schnellste Stück der Welt), das hier ist für die Treppenwitzexperten, denen die richtige Antwort immer einen Moment zu spät einfällt –

"Speaking is hard when you got strings attached", heißt es bei Immortal Technique.

Und das stimmt ja auch. Unter den Paten dieser Rede sind ein 9/11-Truther und ein Kolonialbulle. Enis Maci, Oink Oink. Warum? Weil sie Verschwender sind. "Speaking is hard when you got strings attached" – man kanns ja trotzdem mal versuchen. Stört ja nicht nicht, denn: dies ist eine liberale Demokratie. Dies ist ein kapitalistischer Staat. Ich könnte hier niemals stören, egal, wie sehr ich mich anstrenge.

Mich interessieren Plastik und Scheiße, Kohle und Lehm. Ohne die elende Rede von Anthropozän und Archäologie und Hastenichgesehn. Einfach mal glotzen. Einfach mal lauschen. Sich einfach mal spüren. Der Befreiungsschlag ist greifbar. Natürlich überfordert er.

Ich brauch keinen Konflikt. Ich brauch keine Figuren. Ich brauch nicht einmal ein verschissenes dramatisches Feld, weil dieses Feld, das Spielfeld, auf dem wir uns bewegen, das Feld unserer gegenseitigen Anziehungskräfte – das ist ja eh schon da. Das brauch ich alles nicht noch künstlich herzustellen. Ich brauch bloß – ATEM.

Ich brauch die Scham, vor der sich in letzter Zeit alle so fürchten. Die Scham und den Stolz, die Gegenstand der Freiheit sind.

Immer nur Spaß haben – das ist keine Lebenserfüllung, sagt Wolfgang Schäuble. Er ist ein Schwein.

Und ja: Ich brauch die Gegner. Gebt mir Gegner. Wo sind die Gegner. Ich scheiß auf radikale Zärtlichkeit. Ich fick sie alle.

Keine Entschuldigungen. Keine politischen Einordnungen. Kein Kuschen vor der Seife, in der sie dich lebendig begraben wollen.

Der Text liefert seine Stacheln mit. Er hat sich durch den Brombeerstrauch gewälzt. Er hatte leider, leider mit der NATO zu tun. Er war eine Runde angeln. Und DU – bist so lieb, dass du ihn laust. Pulst seine Widerhaken raus. Und – holst dir einen Splitter.

 

QUELLEN

 

Anne Carson – Autobiography of Red
Björn SC Deigner – Die Polizey
Walt Disney – Pinocchio
Immortal Technique – Freedom of Speech
Immortal Technique – Leaving The Past
James Joyce – Ulysses
Buch Jona /Altes Testament
Franz Kafka – Die Sorge des Hausvaters
Sarah Kane – Crave
Ursula K. LeGuin – Carrier Bag Theory of Fiction
Wolfram Lotz – Poetikvorlesung 2017
Enis Maci – Eröffnungsrede Ruhrfestspiele 2021
Enis Maci – Lorbeer
Henry Miller – Tropic of Cancer
Offenbarung des Johannes / Neues Testament
George Orwell – Inside the Whale
Pier Paolo Pasolini – La Divina Mimesis
Jacques Rancière
Getrude Stein – On Plays
Peter Thomas – Katharsis
(in: Haug, Haug, Küttler (Hrsg) – Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus)
usw.

 

Enis Maci Hamburger Poetikvorlesung uEnis Maci, geboren 1993 in Gelsenkirchen, ist Dramatikerin. Maci hat Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Kultursoziologie an der London School of Economics studiert. In der Spielzeit 2018/19 war sie Hausautorin am Schauspiel des Nationaltheaters Mannheim. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Literaturpreis "Text & Sprache" des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft und dem Literaturpreis Ruhr. Im Jahr 2021 war Enis Maci Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul und der Villa Aurora in Los Angeles.

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