Peinlich mit den Freundis

17. April 2023. Regisseurin Leonie Böhm setzt ihre Austreibung der bösen Klassiker-Geister fort. Diesmal geht es Antigone ans staubige Gewand. Folgerichtig lautet die Devise: Ausziehen, Schamgrenzen abbauen und beherzt in die "Scheiße" hüpfen. Für eine bessere Welt. Für uns alle?

Von Christine Wahl

"Antigone" in der Regie von Leonie Böhm am Maxim Gorki Theater © David Baltzer / bildbuehne.de

17. April 2023. Ungefähr nach einer Viertelstunde, noch in der Auftaktphase von Leonie Böhms "Antigone"-Abend im Berliner Maxim Gorki Theater, tritt Julia Riedler mit einer guten Frage an die Rampe. (Die Veranstaltung hatte bis dato im Wesentlichen aus einer kollektiven Verrenkungsimprovisation bestanden, in deren Verlauf sich die vier beteiligten Schauspielerinnen jeweils die Spucke der anderen in Gesicht oder Mund tropfen ließen.) Was er eigentlich sehe, wenn er ihnen zuschaue, will Riedler von einem Zuschauer in der ersten Reihe wissen. Seine Antwort ist weiter hinten leider schlecht zu verstehen. Aber der Reaktion der Akteurinnen nach zu urteilen, muss er in seiner Not so etwas gesagt haben wie: vier schöne Frauen. Jedenfalls wird sein ästhetisches Urteil auf der Bühne ein bisschen ironisiert, aber wirklich nur ein bisschen. Man bleibt grundsätzlich wahnsinnig nett an diesem Abend – womit wir auch schon bei einem seiner Probleme wären, aber dazu später. 

Nachhaken im Parkett

Erst einmal kommen die Schauspielerinnen im Dialog mit dem besagten Zuschauer auf Zentrales zu sprechen. "Siehst du auch, dass ich mich ein bisschen schäme?", hakt Lea Draeger in Richtung Parkett nach – und etabliert damit nicht nur das Thema für die folgenden hundert Minuten, sondern holt sich gleichzeitig schon mal eine Art prophylaktische Absolution ab. Nach dem Motto: Ja, Leute, das sieht nicht nur peinlich aus, was wir hier oben treiben, sondern das ist peinlich, und zwar uns selbst am allermeisten. Aber: Glaubt uns, das muss so! Denn – so schreibt es der Dramaturg Tarun Kade in Reminiszenz an den Probenprozess im Programmzettel: "Schamgrenzen reproduzieren in meinen Augen Systeme, die eigentlich hochproblematisch sind. Sie produzieren Gewalt."

Schamgrenzen einreißen für eine bessere Welt – so also ließe sich die Idee von Leonie Böhms Antiken-Unternehmung auf der Gorki-Bühne zusammenfassen. Wir schämen uns für Angst, wir schämen uns für Schwäche, weil wir es so gelernt haben, lautet der Tenor – und "befreien wir uns aus unserem Felsenhaus" der daraus abgeleitete Imperativ. Das ist auch der Link zur Antigone. Denn die setzt sich ja über die Staatsräson hinweg – bricht konkret das Herrschergesetz ihres Onkels, König Kreon, indem sie ihren Bruder Polyneikes beerdigt, der sich gegen Theben gewendet hatte – und wird dafür lebendig eingemauert.

Abi-Party und Welterneuerung

Zahava Rodrigo hat den Schauspielerinnen entsprechend eine Art Felsenhöhle ins Gorki gebaut, die einerseits mit ihren Pappmaché-Gesteinsarrangements am Boden durchaus eine solche sein will, andererseits qua Verhängung mit dunkler Raffgardine auch die Anmutung eines Schutzraums verströmt, eines safe space, in dem man eben – nun ja – geschützt peinlich sein kann. In dieser eigentümlichen Ambivalenz – Welterneuerungsanspruch auf der einen, Abi-Party-Appeal auf der anderen Seite – bewegt sich der komplette Abend.

Titel: Antigone: Autor: nach Sophokles - Fassung: Leonie Boehm und Ensemble. Regie: Leonie Boehm. Buehne: Zahava Rodrigo. Kostueme: Laura Kirst. Licht: Lutz Deppe. Dramaturgie: Tarun Kade. Ort: Maxim Gorki Theater. Premiere: 16. April 2023.no model release. Spielerinnen: Julia Riedler / Haimon, Eva Loebau / Antigone, Cigdem Teke / Ismene und Lea Draeger / Teiresias - Livemusik: Fritzi Ernst u.a..Engl: theatre, actor, actresscopyright: david baltzer / bildbuehne.deHöhle, Lehmpool und "Antigone"-Ensemble © David Baltzer / bildbuehne.de

Gleich als Intro versammeln sich die Schauspielerinnen um die Livemusikerin Fritzi Ernst und regeln die Erwartungshaltung in Richtung Kindergeburtstag herunter: "Ja, ich pfeif' auf deine Regeln, denn du schaust auf mich herab, wenn ich auf die Schnauze segel', kommen Freundis, die ich hab", schmettern sie kollektiv, um später wiederum in hohem Ton Sophokles zu deklamieren: "Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch." Vor allem aber wird – in beiden Tonlagen – immer wieder in Aussicht gestellt, dass hier jetzt gründlich der "Staub hinweggefegt" würde, der "auf dieser ganzen Scheiße liegt". Gerade darauf aber wartet man – und das ist angesichts des Anspruchs dieses Abends natürlich fatal – vergeblich.

Denn mal ganz abgesehen davon, wie man persönlich zu Schamgrenzen steht und welche (kultur)geschichtliche Funktion man ihnen individuell zuschreibt, begibt sich der Abend mit diesem Anspruch natürlich auf eine unglaubliche Fallhöhe: Alle Regeln hinter sich lassen, alle Gesetze verlernen, auf dass etwas Neues geschehe! Und dann – erzählt man sich gegenseitig von der Angst vor der Einsamkeit für den Fall, dass man erst nach den Freundis stürbe. Reibt sich mit einem lehmartigen Stellvertreter der freizulegenden "Scheiße" ein (da man sie sich erst gründlich anschauen müsse, um sie irgendwann hinter sich lassen zu können).

Foyergespräch: Fango-Packung

Der dramaturgische Höhepunkt des Abends besteht darin, dass sich Çiğdem Teke, die sich bis dato auffällig zurückgehalten hatte, sämtliche Kleider vom Leib reißt und nackt in den Lehmpool springt – wie es zuvor ähnlich auch schon ihre Kollegin Eva Löbau getan hatte und es hernach ebenfalls Julia Riedler tut. Jo mei, möchte man da sagen – wenn das jetzt der ultimative Befeiungsakt ist, dann wirkt das doch – freundlich formuliert – ein bisschen klein; gemessen an "Antigone" gleichermaßen wie am eigenen Anspruch.

Als Leonie Böhm zu inszenieren begann, hatte sie eine ganz eigene Methode entwickelt. Statt, wie es im Branchentrend liegt, kanonische Stoffe dramatisch zu überschreiben, hielt sie umgekehrt gerade an den Texten fest, um sie sich mit den Spieler:innen buchstäblich zeitgenössisch anzueignen: an der Oberfläche Performance, in der Tiefenstruktur beinharter Goethe und Co. Wenn das richtig gut lief, gelang dabei tatsächlich das Kunststück, Kanon-Klassiker wie spontane Äußerungen eines Zeitgenossen klingen zu lassen. Inzwischen – so ist es jedenfalls bei dieser "Antigone" – überschreibt Böhm auch: Die insgesamt ohnehin nur 13-seitige, viel Platz für Improvisationen lassende Spielfassung ist ein Gemeinschaftswerk von Böhm, Tarun Kade und dem Ensemble auf Sophokles-Basis. Früher transzendierte sich das Subjekt bei Böhm quasi in den Resonanzraum der Geschichte hinein – und wurde spannend. Hier verkleinert es Antigone auf den ziemlich überschaubaren eigenen Kosmos. Heilerde als "Scheiße"-Ersatz: Die "Fango-Packung" ist in den anschließenden Foyer-Gesprächen der running gag.

 

Antigone
von Leonie Böhm & Ensemble nach Sophokles
Regie: Leonie Böhm, Bühne: Zahava Rodrigo, Kostüme: Laura Kirst, Lichtdesign: Lutz Deppe, Dramaturgie: Tarun Kade.
Mit: Lea Draeger, Eva Löbau, Julia Riedler, Çiğdem Teke und Fritzi Ernst (Livemusik).
Premiere am 16. April 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Widerstand ist hier: ein Schlammbad, so Barbara Behrendt bei rbb Inforadio (17.4.2023). Wie immer bei Leonie dient das antike Drama lediglich als "Absprunghilfe für eigene psychologische Erkundungen", mit denen die Regisseurin im besten Fall den Grundkonflikt eines Dramas zu fassen bekomme. Aber mit Sophokles’ Drama beschäftige sie sich diesmal gar nicht erst, so Behrendt. Böhm setzt schon viel früher an und fragt: "Wie überwindet man die eigene Scham und Todesangst, wie wird man so unangepasst wie 'Antigone', wenn wir alle doch unbedingt geliebt werden und am Leben bleiben möchten?" Aus dieser Frage könnte ein brisanter Abend entstehen, doch die vier Schauspielerinnen improvisierten allzu unterspannt, es werde "wahnsinnig viel geredet und doch nur wenig gesagt". Als wolle die Inszenierung "sämtliche bösen Vorurteile bestätigen, die man über deutsches Performance-Theater hegen kann", wälzten sich Nackte auf Selbstfindungstrip im Schlamm. "Keine Geschichte, wenig Inhalt, viel Befindlichkeit und Selbstmitleid."

Keine "Anti-'Antigone'" zeige das Gorki, sondern "eine Reihe von Kurzschlüssen", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (17.4.2023). "Nach Sophokles" heiße bei Böhm und ihrem Ensemble "Totalverweigerung": Raus aus der Opferrolle, laute die Parole, und dabei müssten die Klassiker als "Unterdrückungsapparate" daran glauben. "Selbstmitleid und Selbstironie halten sich ungefähr die Waage", schreibt Schaper. Sonst wäre dieser "Kindergeburtstag bei schlechtem Wetter" unerträglich. "Aber die Frage stellt sich schon: Warum sich das anschauen?"

"Ich will mich nicht ständig in meiner eigenen Scheiße drehen", heiße es in der Inszenierung, aber "genau diese Kreisbewegung ist es, in die die Regisseurin Leonie Böhm und ihr Ensemble am Gorki-Theater hineintrudeln", bemerkt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (17.4.2023). Verbundenheit finde sich hier lediglich in der "situativen Schicksalsgenossenschaft" der vier Spielerinnen. "Solchen hierarchischen und toxischen Theaterüblichkeiten wie Konflikt, Orientierung, Form, Botschaft oder gar Pathos will diese Theaterkunst ausweichen. Stattdessen geht es zurück auf Los – zu einer Art Kult des Spiels." Aber, so Seidler, das Ekeltheater mache – anders als der 2005 derart diffamierte Hexenauftritt in Jürgen Goschs "Macbeth" – keinen Spaß.

In munterer Assoziation umspielen Böhm und Ensemble den Antigone-Mythos, schreibt Michael Wolf im Neuen Deutschland (17.4.2023), und greifen dabei Themen wie Scham, Einsamkeit, Fürsorge auf. Gegen die existenzielle Angst vor der absoluten Freiheit unterstützen sie einander, "nehmen sich heraus, an diesem Abend für ihre Gattung zu sprechen, doch – und das macht die Attraktivität dieser Arbeit aus – verstehen sie das nicht als Auftrag für den hohen Ton, für die Wendung ins Abstrakte". Sie formulieren eine Entgegnung auf die Einsamkeit, "die nicht im Tod, sondern in der Fürsorge für den anderen seinen Zielpunkt findet". Grundsympathisch findet der Kritiker den Abend. Die vier Spielerinnen "schaffen etwas Seltenes", indem sie trotz wenig Text und Handlung mit großer Sicherheit durch knapp zwei Stunden führen. "Es macht schlicht Freude, zu beobachten, wie sie jeweils so großen Anteil nehmen am Spiel der anderen. Und damit an den Mikrokosmen, die in jeder Begegnung zwischen Menschen aufeinandertreffen."

Leonie Böhm lese das Stück "vollkommen neu und reduziert die komplexen Probleme auf einen emanzipatorischen weiblichen Kern," berichtet Frank Dietschreit im rbbKultur (17.4.2023). Während es der Inszenierung um Wut gegen jede Form von männlicher Unterdrückung gehe, sei das Publikum am Premierenabend ziemlich schüchtern gewesen und hätte meistens unbeholfen gekichert – wenig hilfreich, findet Dietschreit. Der Abend fordere "viel Toleranz und Hingabe, gibt aber auch viel Stoff zum Nachdenken und Mitfühlen". Dabei entziehe sich die Inszenierung einer männlichen Kritik resümiert der Journalist: "Ein Grund mehr, jetzt inne und einfach mal den Mund zu halten."

"Alles wichtige Themen" die von Leonie Böhm und dem Ensemble gestellt und von den Schauspielerinnen "eindringlich dargestellt" würden, findet Verena Harzer in der taz (18.4.23). Doch leider komme die Inszenierung über "allgemeinen Therapiesprech" nicht heraus: "Die Traumata bleiben im Vagen", so die Kritikerin weiter. "Auf die Frage, warum es erstrebenswert sein sollte, Grenzen zu überwinden, gibt es keine Antwort. Und warum, um Gottes willen, sollte alles gut sein, wenn sich nur mal alle genüsslich im Schlamm respektive ihrer eigenen Scheiße wälzen?"

 

Kommentare  
Antigone, Berlin: Innovation auf der Bühne
... meines Erachtens inhaltlich und von der mehrschichtigen Umsetzung nicht wirklich verstanden. Vielleicht wirkt es trotzdem nach... das - worum es eigentlich ging (mit Bezug zum Original).
Antigone, Berlin: Verzwergung
Treffende Beschreibung eines zu banalen Abends und einer Antigone-Verzwergung!

Die Struktur und vor allem die Planschspiele erinnern sehr an "Die Räuberinnen" (Münchner Kammerspiele, 2019). Auch in dieser ersten Arbeit von Leonie Böhm, die überregional stark wahrgenommen wurde und es auf die tt-Shortlist schaffte, ging das Konzept nicht auf. Den "Resonanzraum der Geschichte" zu überschreiten, wie es Christine Wahl früheren Böhm-Inszenierungen attestiert, hat für mich auch damals nicht funktioniert.

Zum Impro-Teil: Ja, der Zuschauer in Reihe 1 antwortete, dass er vier schöne Frauen sehe.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/04/16/antigone-gorki-theater-kritik/
Antigone, Berlin: Nichttheaterabend
Danke, ich werde kein weiteres Mal Geld in einen Nichttheaterabend investieren, das Zürcher Beispiel mit 3schwestern war ein ähnlich zu beschreibender Graus - so richtet sich die Kunst selbst zugrunde. Wer das Theater so satt hat sollte nicht dafür arbeiten dürfen.
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