Der Marienthaler Dachs – Volker Löschs Uraufführung des Heidelberger-Stückemarktsiegerstücks von Ulf Schmidt am Wiener Volkstheater
Die Botschaften des Dachses
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 25. September 2015. Ein Logo ist ein Logo ist ein Logo und repräsentiert eine spezifische Firma, ein spezifisches Produkt. Ein Logo ist im werbestrategischen Sinne ein allerbestes Logo geworden, wenn der spezifische Verweis auch noch unter Veränderung des graphischen Arrangements funktioniert. Wenn also trotz verändertem Wortbild die eine gemeinte Corporate Identity noch wiedererkannt wird.
Der genüsslich blau auf rosa Untergrund hingemalte Schriftzug "Manner" ist mindestens in Österreich ein solchermaßen tradiertes Logo. Und "Manner mag man eben". Mag also diese Haselnusscreme Waffeln oder erkennt wenigstens jetzt im Schriftzug "Marienthal" deren Corporate Identity wieder. Denn ein solcher Schriftzug hängt in der rosa Bühnenschachtel des Volkstheaters Wien während sich die Uraufführung des 2014 beim Heidelberger Stückemarkt ausgezeichneten Textes "Der Marienthaler Dachs" von Ulf Schmidt in der Regie von Volker Lösch in die Länge zieht.
Ja ja, der DAX!
Wobei "in die Länge ziehen" überhaupt kein Ausdruck für die installativ synchrone Ordnung des Ausgangstextes ist. "In die Länge ziehen" lässt sich ein diachrones Geschehen. In der Fassung des Regisseurs und der Dramaturgin Heike Müller-Merten wird aus dem bei Schmidt tabellarisch geordneten Setting ein durch Interviewtexte erweitertes, dreistündig atemloses aufeinander Folgen von Ereignissen. Dabei haben die Szenen rund um Aufstieg und Fall der Arbeiterkolonie Marienthal bei Wien Spannungsbogen für eine Tatortlänge maximal und die mühsam ausbuchstabierte Auflösung offenbart am Ende nur den einen von Anfang an gemeinten Täter.
Weil nämlich: die Fabrik ist zu. Die Menschen stehen ohne Kaufkraft da. Gábor Biedermann übermittelt als Medium die Botschaften des Dachses – jaja, der DAX –, ist bis ins Lippenlecken ganz Gameshowmaster. Es geht im Neoliberalismus wie anderswo – "Es geht hier nicht um Glaubensfragen" – um den Glauben ans System. Deswegen scharen sich die Dorfbewohner als fleischgewordene Wortwitze (Vater Staat, Mutter Konzern, Tochter Gesellschaft, der kleine Mann, Herr Knecht, Milchmädchen, Polizist Bleibrecht, Bürgermeister Dieter Oben, Oma, Opa, "die nutzlosen vier" und ein ganzer Chor von wirklichen Wiener Nichterwerbsbeschäftigten) rund um ihn, erhoffen sich Arbeit, also eigentlich Geld, also eigentlich Leben, mehr als Überleben am Rande der Gesellschaft. Es ist eine labile Ordnung, die anstatt als ganze neu genäht zu werden, immer wieder irgendwie zusammen geflickt wird.
Die Rolle des Milchmädchens
So wie in dem 1930 aufgrund der Schließung der Textilfabrik gänzlich arbeitslos gewordenen, in der Nähe von Wien gelegene Marienthal kommt es auch hier nicht zur Revolte. Resigniert, entsolidarisiert, aber ordentlich choreographiert skandiert der Chor den Text in Richtung Publikum. Bühnengewalt und Bühnenkampfkunst richtet sich gegen die da drüben oder gegen die da oben, jedenfalls nie gegen den Dachs als alles durchdringende Ordnung. Und so wie in der 1933 publizierten, dem Stück zugrunde liegenden, Studie Die Arbeitslosen von Marienthal ist der "Untersuchungsgegenstand das arbeitslose Dorf und nicht der einzelne Arbeitslose". Die Figuren sind plakative Funktionen in einem Zusammenhang, der sie auch nur in einem solchen Zusammenhang auftreten lässt. Na klar ist das platt.
Nadine Quittner ist als einstmals verwöhnte Tochter Gesellschaft noch immer auf hohen Schuhen unterwegs. Schmollmündig schützt sie ihre Einkaufstüten und schreit sich heiser nach Liebe. Markiert wahrscheinlich die Unmöglichkeit dieser Liebe in Zeiten des Kapitalismus. So wie Evi Kehrstephan in der Rolle des Milchmädchens die Verwandtschaft von Kapitalismus und Antifeminismus in Form der Nichterachtung von Reproduktionsarbeit als Arbeit ausbaden muss. Genau, weil lesbar sind die Klischees sehr wohl, in der Darstellung aber hoffnungsfroh komisch und bedienen, was sie wohl lieber schmerzlich ausgestellt hätten.
Tanz ums goldene Nichts
Dann noch wird der Chor der wirklichen Wiener Nichterwerbsbeschäftigten gegen Ende des Abends mittels einer ins wirkliche Wiener Wahlkampfleben fallenden Stellungnahme aktiv. Nicht die da drüben, oder die da oben, der DAX an sich, wozu? Der macht die Menschen zu Funktionen in einem Zusammenhang, zu Wettbewerbsteilnehmenden, zu solchen die oben, die unten, die drüben sind. Also ungefähr so: "Nieder mit der Leistungsgesellschaft. Alles soll allen gehören. Nichts wert ist HC Strache, ist Christoph Leitl und Michael Jeannée". Und wer sonst noch zur österreichischen Corporate Identity der Ausgrenzung gehört.
Den Marienthaler Dachs jedenfalls – Achtung Auflösung – den gibt es nicht. Alles Tanz ums goldene Nichts, alles leeres Logo bloß, das alle oben, unten, drüben in abhängiger Arbeit hält. Manner mag man eben und Neoliberalismus ist die Luft, in der wir atmen. Das bleibt am Ende des in Wort, Bild und Richtung supereindeutigen Abends bestehen. Wir sollten dringend das Fenster aufreißen.
Der Marienthaler Dachs. Zuletzt stirbt endlich die Hoffnung
von Ulf Schmidt
Uraufführung
Regie: Volker Lösch, Bühne: Carola Reuther, Kostüme: Teresa Grosser, Chorleitung:Christine Hartenthaler, Licht: Paul Grilj, Dramaturgie: Heike Müller-Merten.
Mit: Gábor Biedermann, Haymon Maria Buttinger, Thomas Frank, Günter Franzmeier, Sebastian Klein, Steffi Krautz, Evi Kehrstephan, Kaspar Locher, Lilly Prohaska, Nadine Quittner, Claudia Sabitzer, Martin Schwanda, Jan Thümer, Martin Esser, Wolf Danny Homann, Niklas Maienschein, Dominik Puhl.
Chor: Wolfgang Beisskammer, Roland Cerwenka, Michael Fomin, Stefanie Frauwallner, Max Goritschnig, Markus Gutfreund, Manuela Hauer, Ruth-Luisa Herzog, Suzie Lebrun, Imke Nachbaur, Magdalena Plöchl, Renata Prokopiuk, Andreas Radlherr, Susanne Rendl, Regina Schindelegger, Karl-Josef Schober, Katrin Sippel, Georg Franz Wendel, Christian Wintersperger, Stefan Wurmitzer.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.volkstheater.at
"Politisches Theater, das lähmt" hat Norbert Mayer gesehen und schreibt in Die Presse (27.9.15): "Was diesem schwachen Werbetext an Ausgewogenheit mangelt, macht der Regisseur durch Plattheit und Lärm wett." An "ignoranter Simplizität" sei dieses "Volksstück" (sic) kaum zu übertreffen. "Es agitiert – zu Recht – gegen rechte Hetze, aber im Grunde ist es auf seine Weise ebenfalls hetzerisch", so Mayer. "Die Ausgebeuteten sind die Guten, Wirtschaft und Regierende sind die Bösen." Es fehle nur noch der explizite Aufruf, die Macht kaputt zu machen. "Impliziert wird es ohnehin."
Eine "Holpertour durch mikro- und makroökonomische Grobwahrheiten" nennt Hans Haider das Stück von Ulf Schmidt in der Wiener Zeitung (26.9.15). Volker Lösch überlade den Stoff noch mit konkreten Wiener Problemstoffen. "Drei Stunden sind mehr als eine zu viel", bilanziert Haider und findet den Gewerkschafter-Gestus, mit dem das Theater in dieser Inszenierung daherkomme, außerdem verlogen: "Als Schuldige denunziert der Laienchor Finanzminister Schelling, Raiffeisenbanker Rothensteiner, Wirtschaftskammerpräsident Leitl, Jeannée und die FPÖ." Der Wiener Wahlkampf laufe. "Meinte die VT-Direktorin Anna Badora, sie müsse mitmachen?" Badoras Arbeitgeber seien die SPÖ-Gewerkschafter. Und: "Ehe sie heuer das Regiment übernahm, kündigte sie fast das komplette künstlerische Personal."
"Der deutlich sowohl von Aufklärungswillen wie von Ironie geprägte Abend hat seine Stärke in der Kraft der szenischen Bilder, in denen das souveräne Ensemble die Figuren oft kabarettistisch ausstellt", ist Hartmut Krug im Deutschlandfunk (26.9.15) zunächst wesentlich gnädiger. Es werde durchaus in unterhaltsam kalauernden Szenen erzählt, doch zugleich doziere das Stück zunehmend, werde immer lehrstückhafter im zweiten Teil "und arg redundant". Dass der Arbeitslosenchor viele aktuelle österreichische Politiker namentlich erwähne, "die mit Sprüchen gegen Asylanten und über Arbeitslose aufgefallen sind", wirke nicht als Aufreger, sondern wird vom Publikum ohne sonderliche Reaktion akzeptiert, so Krug: "Insgesamt gehört diese Inszenierung, auch wegen der doch schablonenhaften Vorlage, nicht zu den großen Arbeiten von Volker Lösch."
"Lösch hat mit seiner Inszenierung der sprachgewaltigen Vorlage eine Art Wirtschafts-Piefkesaga auf die Bühne gebracht." Laut, grell und nervös, sei der Abend eine dreieinhalbstündige, fordernde Anklage. "Nach der Pause blieben manche Sitze leer. Zu Unrecht", schreibt Michael Wurlitzer in Der Standard (27.9.15). Doppeldeutigkeiten seien die treibende Kraft hinter Schmidts "(auch ideologisch) jelinekesken Sprachwerk", einem "Abgesang auf das kapitalistische Lohnarbeitsmodell". Das ergebe neben viel Wortwitz auch ein paar Kalauer, gehe aber nie auf Kosten des Sinns. Volker Lösch habe den Text "analogisiert", der Arbeitslosenchor werde im Laufe der Inszenierung "zum beglaubigenden, bekräftigenden Faktor der zugespitzten und ansonsten vielleicht etwas einseitig daherkommenden Dialogtexte".
Martin Lhotzky schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.10.2015), dass er Volker Löschs Arbeit und Ulf Schmidts Stück mehr als fragwürdig gefunden habe. Schmidt habe eine Szenenfolge "gestrickt", die von Volker Lösch veranstaltet werde. Die Namenswitze seien fade. "Die ganzen platten Witzchen, diese Kapitalismuskritik aus dem 'So mache ich meine Gegner lächerlich'-Lehrbuch von Milton Friedman zeigt Lösch während beinahe vier ungemein lange weilender Stunden auf einer in Manner-Schnitten-Altrosa gehaltenen Szenerie". Immerhin bekämen "echte Arbeitslose als Laiendarsteller im Chor eine Chance". Beim Verbeugen am Schluss hätten "manchen von ihnen die Freudentränen in den Augen" gestanden.
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Und was m. E. das Schlimmste ist: Allen diesen in Gemeinplätzen vorgestellten Weltanschauungen ist eines gemeinsam: der wiederholte Aufruf zu Gewalt, Gewalt, Gewalt als angeblich einzige Möglichkeit, etwas zu ändern.
Schade um den Aufwand!
Die Inszenierung hat eine zeitgenössische brecht'sche Qualität, das ist das Theater, das diese Zeit braucht, das ich sehen will. Ich verstehe die peinlichen Kritiken nicht. Wollen die selbsternannten "Kritiker" ihren Chefs gefallen - und dabei die Kapitalismuskritik vorführen? Dabei sind doch deren Einkünfte genauso gefährdet, falls sie überhaupt noch was für ihre Artikel bekommen! Erbärmlich duckmäuserisch imho!
Der Abend war brillant. Und die Angst der Anpasser ist berechtigt, auch in Wien, selbst wenn hier alles 20 Jahre später passiert, geht das Wort. So geht es nicht weiter, das passt vorn und hinten nicht mehr - und das muss das Theater reflektieren, wenn es noch was sein will für die Stadtrepublik.
Die Reaktionen des Publikums waren ja auch euhorisch, so habe ich das wahrgenommen - und das decketsich ganz und gar nicht mit diesen tendenziösen Berichten. Ich hoffe, das ändert sich noch, geschätzte Journaille, liebe Theater-Fäns.
Für mich war es der erste Theaterbesuch nach sechs Jahren, wobei ich vorher regelmäßig ging. Endlich passiert wieder was, das Theater immer ausgemacht hat! Und das in dieser verschlafenen Stadt so lange außen vorblieb, zugunsten eines Promi-Betriebes, der schon lange keinen Rückhalt mehr hatte - jedenfalls nicht bei mir. Und das meine ich 100% ernst.
Ich bin noch heute, zwei Tage später - vollauf begeistert!
Wenn im "Marientaler Dachs" dann Bezug auf die tagesaktuelle Flüchtlings- und Asylsituation genommen wird, ist das nicht billige Themenvereinnahmung. Es ist viel mehr die brennend heiße Voraussicht, dass mit den Menschen von heute die Sündenböcke von morgen unser Land betreten. Glaubend, sie seien gerettet. Das Volkstheater hat diesen großen Abend mit einem ausgezeichneten Leading-Team, einem Ensemble einsatz- und ausdrucksstarker SchauspielerInnen und einem bewundernswerten Laienchor tatsächlich arbeitsloser Menschen eindrucksvoll gestemmt.
Das Volkstheater hat Mut bewiesen, dieses Thema, diesen Text und diesen Regisseur zu wählen. Was für ein Beginn einer neuen Direktion. Lassen sie nicht nach...
Na ja, das sind alles so Reiz-Begriffe, welche im Falle von Lösch-Arbeiten bei manchen Menschen offenbar reflexartig anspringen. Leider ohne jede Ironie, das heisst humorvolles, selbstreflexives Nachdenken. Leider klingt das alles dadurch immer sehr platt, plakativ, vereinfachend und unterkomplex. Auch, wenn die Themenwahl gar nicht mal schlecht ist. Vielleicht sollten sich ja tatsächlich ein paar mehr Menschen mit dem Arbeitsbegriff beschäftigen (Literaturtipp: "Und was machst du so? Fröhliche Streitschrift gegen den Arbeitsfetisch" von Patrick Spät) und sich vor allem vom DAX lieber kein Leben erhoffen, denn Geld ist nicht Leben, anstatt ihre Wut an anderen auszulassen. Wenn ich wütend bin, dann richtet sich das gegen unfaires Handeln von einzelnen Menschen, nicht gegen Menschen als pauschalisierte "Sündenböcke" für alles.
(Lieber Mitspieler, das war keine böse Absicht. Manchmal sind Kritiken, obwohl sie schon online stehen, weder per Google noch per Suche auf der jeweiligen Zeitungsseite, aufzufinden. So war es auch in diesem Fall. Die Kritik vom Standard ist nun ergänzt. Wir haben also nun "wenigstens unseren Job" gemacht, danken für den Hinweis und wünschen Ihnen ein bisschen mehr Freundlichkeit. Beste Grüße, die Redaktion)