Darwin-Win & Martin Loser-Drag-King & Hygiene auf Tauris - ein neues Stück von René Pollesch
Das Rohe und das Zerkochte
von Esther Slevogt
Berlin, 28. April 2008. Im Titel liegt bereits das ganze Drama. "Darwin-Win & Martin Loser-Drag King & Hygiene auf Tauris" hat René Pollesch sein neuestes Produkt nämlich überschrieben. Aber die hübschen Wortspiele wollen erst mal entziffert sein. Darwin-Win zum Beispiel, das sich auf den Begründer der Evolutionslehre bezieht und diese sogleich ad absurdum führt, indem der Name des britischen Naturforschers, der alle Evolution und damit die Entstehung der Arten auf das Survival-of-the-Fittest-Prinzip begründete, mit einer Konfliktlösungsstrategie in Verbindung gesetzt wird, die keine Unterlegenen kennt.
Doch der Unterlegene folgt auf den Fuß, und zwar in Gestalt des Martin Loser-Drag King. Hier trifft der 1968 ermordete amerikanische Bürgerrechtler im Schmelztiegel diskursiver Assoziationswut (in dem sich der Name Luther in das englische Wort für Verlierer auflöst) auf Frauen, die mit den Erkennungsmerkmalen der Geschlechter spielen. Und dann ist da noch die Frage der Hygiene auf Tauris, was sich assoziativ auf Goethes blitzsaubere Humanitätsikone Iphigenie auf Tauris bezieht. Im Grunde weiß man nach abgeschlossener Titelexegese schon fast alles. Ein Theaterabend wäre also gar nicht mehr zwingend von Nöten.
Diktatorinnengattinnen von hinten
Aber so schlau ist man natürlich erst, nach dem man die gut neunzig Minuten auf der Hinterbühne am Rosa-Luxemburg-Platz abgesessen hat, wo man zunächst von hinten auf die Dekoration von Diktatorengattinnen, der letzten Pollesch-Produktion blickt. Vor uns erstreckt sich der leere Zuschauerraum wie eine rote Plüsch-Galaxie, während das Back-Stage-Panorama hinter den Stellwänden mit seinen beiden Toilettenkabinen und einer schäbigen Waschgelegenheit einiges an Tristesse verströmt. Links befindet sich noch ein Schießstand, wo man unter anderem auf Pappfiguren von Mutter Teresa und Lady Diana schießen kann. Doch dieser Teil der Bühne wird nicht zum Einsatz kommen.
Stattdessen erscheint Bernhard Schütz im T-Shirt mit aufgedrucktem Proust-Konterfei und bezieht hinter einem Rednerpult Position. Aber er sucht nicht nach der verlorenen Zeit, sondern nach der, die noch kommen wird. Könnte man jedenfalls meinen, denn er stellt sich als Redner auf einem Futurologischen Kongress vor. Die Volksbühne heißt jetzt "das Hilton, ah!". In anderen Räumlichkeiten finden noch andere Veranstaltungen statt. Ein Kongress der Dauerwichser zum Beispiel.
Infektion und Evolution
Bald treten dann auch noch ein Herr und zwei Damen auf, nämlich der französische Tänzer und Schauspieler Jean Chaize, Brigitte Cuvelier (im Ballettoutfit) und Nina Kronjäger (in praktischer Monteurshose, Feinripp-Hemd und Base-Cap) auf, die eine mit Ziegenbart am Kinn, die andere mit Schnauzer unter der Nase. Addiert würden beide Bärte wahrscheinlich den Bart von Lenin ergeben. Mutation oder Drag-King wäre jetzt also die Frage.
Aber Fragen werden an diesem Abend kaum gestellt, sondern nur schwindelerregend viel geredet. Schließlich sind wir ja bei Pollesch. Bloß dass das Gerede noch nie so wenig Sinn ergab wie diesmal. Schütz redet sich in Rage über die Kolonisierung des Einzelnen durch den Markt, führt Beispiele von Verweigerungstechniken an und kommt irgendwann bei Hygienefragen des Rokoko an, wo nur die Kleidung gereinigt wurde und nicht der Körper, der unter der Kleidung stank und sich entzündete. Infektion als Voraussetzung für Evolution. Denn danach kam die Französische Revolution. Hygiene auf Tauris eben.
Zwischendurch werden von den hierfür entsprechend ausgebildeten Fachkräften Cuvelier und Chaize klassische Ballett-Einlagen getanzt, deren Höhepunkt und Running-Gag immer wieder das Durchtanzen der beiden Toilettenkabinen ist, was aus der Vogelperspektive auch gefilmt und auf eine Leinwand über der Szene projiziert wird. Eindruck macht aber auch der sogenannte Eiertanz, in dessen Verlauf ein Ei-Dotter auf den Bizepsen balanciert werden muss.
Schleimpilze und gelber Glibber
Auf der Leinwand sieht man manchmal auch das recht tot aussehende Bild eines Schiffes, das man assoziativ mit Darwins legendärem Kreuzer "Beagle" verknüpfen könnte, auf dem er seine Entdeckungsreisen unternahm. Aber auch die Villa von Imelda Marcos spielt eine Rolle. Wir sehen in rasender Geschwindigkeit Zellen sich teilen, gelben Glibber sich ausbreiten, Schleimpilze entstehen und tausendäugige Weichtiere sich in der gleichmäßigen Meeresströmung wiegen. Zwischendurch tauchen auf der Leinwand auch immer wieder die Schauspieler auf, die inzwischen auch die leere Zuschauerraumgalaxie bespielen.
Viel Zähes, Unausgegorenes, Rohes und Zerkochtes an diesem Abend. Und vor allem die Frage: was ist eigentlich der Punkt? Nur einmal, in einem aberwitzigen und mitreißenden Solo von Bernhard Schütz, ahnt man, was hier hätte verhandelt werden sollen. Denn da hebt der absurde Redner des futurologischen Kongresses zu einer fast verzweifelten Klage über die wissenschaftlichen Theorien und Diskurse an, die seit dem 18. Jahrhundert dem Menschen Konzepte und Entwürfe überstülpten, wer er ist und wie er dazu wurde.
Schütz erklimmt dabei die ansteigenden Sitzreihen und wird von ohrenbetäubend dröhnender Barockmusik (?) begleitet. Nur machtvolle Abstraktionen! ruft er also. Doch was helfen die dem ganz konkreten Menschen bei seinem ganz konkreten Leben und beim Sterben erst recht? Hier hätte jetzt vielleicht ein Auftritt von Martin Luther oder wenigstens Martin Loser-Drag King für weitere Erhellung sorgen können. Doch der blieb nur ein Versprechen des Titels, der am Ende klüger war, als die Inszenierung, die ihm folgte.
Darwin-Win & Martin Loser-Drag King & Hygiene auf Tauris
von René Pollesch
Inszenierung: René Pollesch, Bühne und Kostüme: Bert Neumann.
Mit Jean Chaize, Brigitte Cuvelier, Nina Kronjäger und Berhard Schütz.
www.volksbuehne-berlin.de
Kritikenrundschau
Als "inhaltlich verstiegen und formal rückwärtsgewandt" beschreibt Jan Oberländer den Abend Berliner Tagesspiegel (30.4.2008) Auf der Metaebene sei Pollesch fit. "Indem er Biologievokabular verwendet, beschreibt er zugleich sein Theater als evolutionären Prozess, als zufällige und glückhafte Kombination von Zeichen- DNA, als gegenseitige 'Infektion', als ständiges 'Werden'." Doch auch wenn an diesem Abend alles irgendwie zusammenhänge – nennenswert Neues entstehe nicht. "Wo 'Diktatorengattinen' und zuvor bereits 'L’affaire Martin...' (2006) eine neue Stufe in Polleschs Arbeit zu markieren schienen, wo Glamour, Leichtigkeit und Selbstironie herrschten", wirkt der neue Abend auf Oberländer diesmal einfach zu bedeutungsschwanger und mit sich selbst beschäftigt, um ansteckend zu sein.
Nicht eben gesprächig ist Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (30.4.2008), und watscht die Aufführung in wenigen Zeilen ab: "Selten war ein Abend nun so monologisch monoton wie dieser. Starres Behauptungstheater, das das evolutionäre Denken, von dem es spricht, selbst nicht kennt."
Im Berlinteil der taz (30.4.2008) ist Kirsten Riesselmann etwas gnädiger. Denn sie spürt auch in diesem Abend noch Polleschs Spaß am Poststrukturalismus und seinen Schlüsselwörtern, dem "Wuseln und Werden, Verschmelzen und Sich-Infizieren". Aber auch hier überwiegt der Eindruck des "viel zu Breiigen, Unfertigen", auch wenn die Kritikerin durchaus angeheitert das Theater verließ.
Auf Welt online (30.4.2008) schreibt Welt-Feuilletonchef Eckhard Fuhr:Vier Schauspieler "kalauern entfesselt drauflos und zertrümmern jeden Sinn, sobald er sich auch nur schemenhaft zu ergeben scheint". Das sei offenbar der Versuch, "das Theater auf den Boden der Kreatürlichkeit 'konkreter Wesen' herunter zu holen". Habe Pollesch bisher die "Auflösung des kritischen Potenzials einer Gesellschaft in ein quasselndes Prekariat thematisiert, … war er also bisher dem Sozialen und seinem Verschwinden auf der Spur, ist er nun bei der Biologie angelangt - der Mensch ist nur der Flugzeugträger der zwei Kilo Bakterien, die in ihm wohnen." Vereinigungsprozesse, wie der von Mensch und Tier von dem Bernhard Schütz' Professor fantasiere seien allerdings nichts Ungewöhnliches auf dem Theater, sie seien "dramatischer Urstoff". Und deshalb sei Pollesch bei "Darwin-win" am "nächsten bei dem, was herkömmlicherweise unter Theater verstanden wird, wenn seine Schauspieler sich unter grauem Tuch in ein Amöben-Wesen verwandeln und dabei singen 'Willst du immer weiter schweifen, sieh das Gute liegt so nah'."
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