Amphitryon - Simone Blattner inszeniert Kleist
Götterzischen im Dicken Turm
von Sibylle Orgeldinger
Heidelberg, 3. Juli 2009. Im Dicken Turm des Heidelberger Schlosses klafft seit Jahrhunderten eine Lücke: Während des Französisch-Pfälzischen Erbfolgekriegs wurde ein Teil des mächtigen mittelalterlichen Bollwerks abgesprengt. Dafür bietet sich ein malerischer Blick auf die Stadt am Neckar. Der Dicke Turm ist gewöhnlich nicht öffentlich zugänglich. Bei den Heidelberger Schlossfestspielen aber dürfen die Zuschauer zwischen den sieben Meter dicken Mauern Platz nehmen, wo dieses Jahr "Amphitryon" über die Bühne geht.
Die Bühne, auf der die Schweizer Regisseurin Simone Blattner die Tragikkomödie von Heinrich von Kleist inszeniert, besteht aus rohen Brettern. Wenn diese unter den heftigen Bewegungen der Protagonisten erbeben, kann das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes mitzittern. Zwischen ihren Auftritten sitzen die Schauspieler unter den Zuschauern. Alle sind gleich. Keiner kann hinaus. Der Zuschauerbereich ist zum Kreis geschlossen.
Multiple Identitätskrise
Rund wirkt auch die Textfassung. Dank konsequenter Striche dauert das Stück nur 90 Minuten und fokussiert auf das Wesentliche. – Das Wesentliche? So wie ein paar Steine auf der Bühne, größere und kleinere, sich beliebig als Ausstattungselemente einsetzen lassen, so wie die von Claudia González Espíndola entworfenen Kostüme in Schwarz, Grau und Dunkelblau für viele Gelegenheiten passen, so kann auch jede Figur alles sein. Das wirft Fragen auf, weckt Zweifel, erzeugt Unsicherheit: Eine multiple Identitätskrise die selbst die Götter erfasst.
Göttervater Jupiter nutzt zwar gern seine Macht, die es ihm ermöglicht, die Gestalt des thebanischen Feldherrns Amphitryon anzunehmen und sich dessen Frau Alkmene zu nähern. Aber eigentlich will er als er selbst geliebt werden. Dass Alkmene in ihm nur das Ebenbild ihres Mannes sieht, kränkt ihn zutiefst. Paul Grill spielt Jupiter als charmanten Narziss, der sein letztendliches Scheitern mit Arroganz kaschiert. Daniel Stock lässt den wirklichen Amphitryon schwer atmend um seine rationale Fassung ringen. Die beiden Darsteller sehen sich nicht im mindesten ähnlich.
Das gleiche gilt für Matthias Rott, der seinem Merkur in der Gestalt von Amphitryons Diener Sosias eine brutale Coolness verleiht, während Frank Wiegand sein ganzes komödiantisches Talent aufbietet, um den wirklichen Sosias von einer Minikatastrophe in die nächste schlittern zu lassen. Die optische Ungleichheit der Darsteller hebt das Ringen der Figuren um ihre Identität noch deutlicher hervor.
Zungenverknotete Zischlaute
Die Spielfläche im Dicken Turm wird zum Kampfplatz, wobei die Choreographie das Rund geschickt für Drehungen und Windungen nutzt. Spiegelbildliche Bewegungen erzeugen eindrucksvolle Vexierbilder. Davon abgesehen verlässt Simone Blattner sich ganz auf die Sprache des Stücks und den darin angelegten Wahnwitz.
So lässt sie die Schauspieler onomatopoetische Effekte erzeugen, etwa am Anfang, wenn hell vibrierende Töne an das Zirpen von Grillen erinnern. Amphitryon, der erkennen muss, dass seine rationalen Kategorien und logischen Argumente nicht mehr greifen, wiederholt seine verzweifelte Frage "Wer bin ich?" unzählige Male und steigert die Lautstärke bis zum Schreien. Verwirrung manifestiert sich in zungenverknotenden Zischlauten. Der wiederholte Austausch der Wörter "wir" und "ihr" in einer Erzählung deutet einen ganzen Komplex von Identitätskonflikten an. Übrigens kommt die Inszenierung ohne Musik aus.
Dass das Ich sich wesentlich im Du erlebt, zeigt Alkmene, schlicht und selbstverständlich verkörpert von Susanne Buchenberger: Es ist keine Doppelgängerin, die sie verunsichert, sondern die Tatsache, dass sie sich täuschen lässt. Die Erkenntnis, ihrem eigenen Gefühl nicht trauen zu können, entfremdet sie von sich selbst. Ihr "Ach" klingt nach tiefer Resignation.
Ach, und eines noch: Das vernehmliche Zischen, mit dem stets die Götter erscheinen und verschwinden, ist in dieser klaren und präzisen Inszenierung völlig überflüssig.
Amphitryon
von Heinrich von Kleist nach Molière
Inszenierung: Simone Blattner, Kostüme: Claudia González Espíndola, Dramaturgie: Katrin Breschke.
Mit: Ute Baggeröhr, Susanne Buchenberger, Paul Grill, Matthias Rott, Daniel Stock, Frank Wiegand.
www.heidelberger-schlossfestspiele.de
Mehr lesen über Simone Blattner? Unter der Intendanz von Elisabeth Schweeger war die 1968 geborene Schweizerin Hausregisseurin am Schauspiel Frankfurt, wo sie u.a. im März 2009 Shakespeares Othello, im Dezember 2008 Ödön von Horváths Oktoberfestragödie Kasimir und Karoline inszenierte.
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