Land der Lämmer - Gerhard Willert verordnet in den Linzer Kammerspielen ein Gedenken mit bühnenuntauglichem Material
Den Anschluss haben wir durchgekaut
von Reinhard Kriechbaum
Linz, 16. März 2013. Eigentlich ist es ja genau so, wie es Franzobel in seinem Text "Die Zischsuppe" en passant einen der beiden "normalen" Österreicher sagen lässt: "Zum Anschluss ist alles weggesagt." Dass Österreich vor exakt 75 Jahren, am 12. März 1938, als Hitler kam und so furchtbar viele ihm auf der Straße zujubelten, das erste "Opfer" Nazi-Deutschlands gewesen sei, ist längst weggeschrieben. Von anderen, aber auch von Österreichern selbst.
Zehn Texte zum Faschismus gestern und heute
"Den Anschluss haben wir durchgekaut", legt der Autor Thomas Arzt einem Jungen in der Schülergruppe beim Besuch in der Gedenkstätte Mauthausen in den Mund. Darum kann es also nicht (mehr) gehen. Gerhard Willert, der Schauspielchef am Linzer Landestheater, hat für sein "dramatisches Kaleidoskop" mit dem Titel "Land der Lämmer" zehn Autorinnen eingeladen, eher über die Lämmer heutiger Tage zu reflektieren. Kann ja gut sein, dass der Nazi in uns lauert. Genau so möglich, dass eine andere, nicht minder autoritäre Indoktrination im Zeitgeist schlummert oder schon aufgeweckt ist und fröhlich schnappt: nach den politisch Korrekten, nach den sich "aufgeklärt" Fühlenden. Und nach den Dummpötten sowieso, aber vielleicht gar nicht als erstes.
So edel gedacht, so gut. Dann muss aber etwas passiert sein in Linz. Vielleicht haben die Dramaturgen bei ihren Aufträgen an die Autoren einfach vergessen dazuzusagen, dass nicht ein Lesebuch, sondern eine Theateraufführung herauskommen soll. Zehn Texte jedenfalls sind es, wacker und überwiegend erfreulich weit weg von Klischeebildern, mancher sogar originell im Denkansatz. Aber kaum etwas von einer Machart, die für die Bühne taugt. Da musste Regisseur Gerhard Willert immer wieder zu Tricks greifen, die mehr als bemüht wirken. Chorisches Sprechen ist besonders beliebt, aber so wird aus papierenen Vorlagen noch lange nicht griechische Tragödie.
In rot-weißer Arena
Die epische Breite ist fatal, man fühlt man sich von Worten auf dem Stuhl in den Kammerspielen festgenagelt, als ob man dort schon seit dem "Anschluss" selbst hockte. Das Linzer Premierenpublikum wusste freilich, was dem Thema angemessen ist und applaudierte ermattet wohlwollend. Das Ensemble kann nichts dafür, legt sich mächtig ins Zeug.
Man sitzt dem Publikum gegenüber, in einem Arena-Segment, das an ein Fußballstadion denken lässt. Weiße Stufen, mehrere Schalensitze aus Plastik, ordentlich zusammengelegte rote Decken. Da stehen und sitzen sie also, marschieren manchmal en bloc in den Zuschauerraum und kommen wieder, tun halt irgendwas, dass es nicht nur nach Lesung aussieht. Und sie sondern aufrüttelnden Text in Unmengen ab.
Elferschießen mit Bedeutungs-Vokabeln. Im "My Secret Garden" lüftet Falk Richter die Decke über der scheinbaren Gnade des Vergessens. Leute in Fertigteilhaus-Haft, "entsetzliche Stille und nichts kam an die Oberfläche". Sie haben ihre Kinder geschlagen, weil "ihre einzige Vorstellung von Gesellschaft das Militär" ist.
Aufmerksamkeit kriegen heißt siegen!
Schnitt zur grellen Mieze Medusa, einer oberösterreichischen Vertreterin des Poetry Slam. "Kein Anschluss unter dieser Nummer", prekäre Arbeitsverhältnisse einer jungen quirligen Vertreterin der Generation Ich-AG. "Und davon kann man leben?", wird sie immer wieder gefragt. Da könnte man zum Nazi werden, bei so viel Frust. Soll man aber nicht.
Betty Shamieh, eine palästinensisch-stämmige Amerikanerin, lässt eine islamische Englisch-Lehrerin darüber ventilieren, ob ihre Schulklasse im Gaza-Streifen mit den Tagebüchern der Anne Frank gut beraten ist. "Aufmerksamkeit kriegen heißt siegen!", ach ja... Der etwas hohle Text heißt "Das lachende Echo". Hitler ist der Echo-Lacher, und dazu malt sich das Ensemble Bärte auf die Oberlippen. Kein Hakenkreuz weit und breit übrigens, von plumper Illustration mit solchen Dingen hielt sich Gerhard Willert tunlichst fern.
Ein wortgewaltiger Sprechchor: "Die Schatzsucher" von der in Berlin lebenden Österreicherin Gerhild Steinbuch. Eine bizarre Gespensterszene (wiederauferstandene Nazi-Geister), die man ruhig hätte mehr "ausmalen" dürfen: "Das Blut des Achten Tages" von Barbara Grinberg, einer französischen Filmemacherin. Thomas Arzt bemüht etwas verkrampft die unterschiedlichen Gedanken von Besuchern der nahe Linz gelegenen KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Lerne: Gedenken lässt sich nicht verordnen, Gedanken sind eigensinnig.
Schreiben, wenn es mit dem Schreiben vorbei ist
Von dem Engländer Martin Crimp wollte man wissen, "Was ein Schriftsteller schreiben kann, wenn es mit dem Schreiben vorbei ist" – aber das hat man bis zu dieser allerletzten Szene (man hält in der 185. Minute) ohnedies mehr als ausgiebig beantwortet bekommen. In der vorherrschenden papierenen Trostlosigkeit muss man Robert Schindel Dank abstatten für seinen dann doch Zeitgeschichte-Bilder herbeizaubernden Beitrag "Dunkelstein". Und vor allem Franzobel, der zwei Österreicher bramarbasieren lässt. Das ist bestes Kabarett solcher Art, wie es Helmut Qualtinger einst mit seinem "Herrn Karl" in Wien unübertrefflich (und Jahrzehnte, bevor Vergangenheitsbewältigung verordnet worden ist) geboten hat.
Im Zentrum steht ein elendslanger Monolog, "Der Besuch des österreichischen Kanzlers in der Schweiz" von Michel Vinaver. Der Pariser Uralt-Literarphilosoph hat eine Abhandlung geschrieben, über den Anschluss, den österreichischen Populisten Jörg Haider und den Umgang mit solchem Braun-Populismus in der Schweiz. Ein gescheiter Text, von einem siechen Schauspieler (Sven-Christian Habich) auch berührend vorgelesen. Sonderbarerweise wird er durch die Pause unterbrochen, was man womöglich für einen dramaturgischen Kniff halten sollte. Der Text ist übrigens im Programmheft abgedruckt, man könnte das also einfacher haben.
Land der Lämmer
Ein dramatisches Kaleidoskop zum 12. März 1938 von Gerhard Willert
Mit Beiträgen von Thomas Arzt, Martin Crimp, Franzobel, Barbara Grinberg, Mieze Medusa, Falk Richter, Robert Schindel, Betty Shamieh, Gerhild Steinbuch und Michel Vinaver
Regie: Gerhard Willert, Bühne und Kostüme: Alexandra Pitz, Musik: Wolfgang "Fadi" Dorninger, Dramaturgie: Thomas Arzt, Kathrin Bieligk.
Mit: Eva-Maria Aichner, Bettina Buchholz, Katharina Hofmann, Barbara Novotny, Katharina Vötter, Thomas Bammer, Georg Bonn, Sven-Christian Habich, Sebastian Hufschmidt, Stefan Matousch, Erich Josef Langwiesner, Joachim Rathke.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.landestheater-linz.at
"Danke für dieses Projekt", sagt Silvia Nagl auf dem Portal der Oberösterreichischen Nachrichten (18.3.2013), auch weil es sich ohne "Zeigefinger-Aufdringlichkeit" präsentiere. Es vereine zehn "von Inhalt, Form, Länge und Qualität unterschiedliche Texte an einem inszenatorisch wie schauspielerisch nicht die gesamte Dauer über fesselnden Theaterabend". Herausragend sei der Beitrag "Die Zischsuppe – ein Ansatz zum Anschluss" von Franzobel: "Einfach herrlich, wie Joachim Rathke und Erich-Josef Langwiesner, so wie auch der Stücktext, zwischen beißendem Zynismus und feiner Komödiantik balancieren."
Von einem "abwechslungsreichen, wenn auch sehr langen Reigen" berichtet Andreas Hutter im Neuen Volksblatt (18.3.2013). Auch er lobt Franzobels Beitrag und dessen Umsetzung für die "kabarettistische Qualität" und hebt zudem Robert Schindels "Dunkelstein", in dem ein von "Joachim Rathke meisterlich mephistophelisch gezeichneter SS-Sturmbannführer" auftrete, hervor. Oft lasse Regisseur Willert seine Schauspieler "als Chor agieren lässt: Die österreichische als griechische Tragödie." Bisweilen "ist das chorische Sprechen auch schlicht aus der Not heraus geboren, die oft wenig bühnentauglichen Texte in eine halbwegs theatralische Form zu zwingen".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 27. April 2024 Theater Rudolstadt wird umbenannt
- 26. April 2024 Toshiki Okada übernimmt Leitungspositionen in Tokio
- 26. April 2024 Pro Quote Hamburg kritisiert Thalia Theater Hamburg
- 25. April 2024 Staatsoperette Dresden: Matthias Reichwald wird Leitender Regisseur
- 24. April 2024 Deutscher Tanzpreis 2024 für Sasha Waltz
- 24. April 2024 O.E.-Hasse-Preis 2024 an Antonia Siems
- 23. April 2024 Darmstadt: Neuer Leiter für Schauspielsparte
- 22. April 2024 Weimar: Intendanz-Trio leitet ab 2025 das Nationaltheater
neueste kommentare >
-
RCE, Berlin Mehr als überzeugend
-
RCE, Berlin geglückt
-
Pygmalion, DT Berlin Augenhöhe
-
Neue Leitung Darmstadt Fest oder frei?
-
Essay Berliner Theaterlandschaft Radikal künstlerisch
-
Pygmalion, DT Berlin Mit Leib und Seele
-
Kritik an Thalia Theater Hamburg Verkürzte Denkweise
-
Pygmalion, DT Berlin Schwieriger Vergleich
-
Pygmalion, DT Berlin Schade
-
Pollesch-Abschied Volksbühne Unangebracht
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
"In Österreich ist ein zuweilen schockierend leichtfertiger Umgang mit diesem faschistischen Erbe möglich. Warum? In dieser Wunde will ich bohren. Leidenschaftlich und lustvoll. Meine Freunde auch. Ob sie nun Österreicher sind oder nicht. Ja dürfen sie das? Sie müssen."
In der Wunde eines Kranken lustvollleidenschaftlich bohren?
Was ist das?
Wie soll man das benennen?
"kranken volkskörper". die reaktionen sind dann pathologischer natur:
abwehr, aggressionen usw.
verheilt ist. es gibt ein faschistisches erbe. daran ist nicht zu zweifeln.
Geschöpfe der Agonie... das Volk ein solches, das ununterbrochen zur Infamie und zur Geistesschwäche verurteilt ist... Wir haben nichts zu berichten, als dass wir erbärmlich sind... "Geistesmenschen", die in langen Schimpftiraden gegen die "stumpfsinnige Masse" Stellung beziehen und mit ihrem scharfen, geradezu (selbst-)zersetzenden Verstand alles angreift, was dem Österreicher traditionell "heilig" ist: den Staat selbst, den Bernhard gerne als "katholisch-nationalsozialistisch" bezeichnet...
schrecklichen Vergangenheit immer noch.
Wird es irgendwann gesunden? Wir hoffen es.
In dem zu einer Industrie- und Kulturmetropole ausgebauten Linz
wollte er auch seinen Alterssitz einrichten.