Waisen - Im Hannoveraner Theater an der Glocksee lässt Brit Bartkowiak mit Dennis Kelly eindringliches Sozialdrama spielen
Hell strahlt der Abgrund
von Stephanie Drees
Hannover, 16. April 2014. Er bricht herein. Ein Schlaglicht auf Liam, den Eindringling, den großen Jungen, der diesen Abend sprengt. Da steht er nun, zitternd, verwirrt, das weiße Shirt voller Blut. Dabei sollte es mal so richtig schön werden an diesem Abend für Helen und Danny, das junge, ordentliche Paar. Das Essen steht bereit, beim Tanzen flüstern sie den Text des Schmusesongs mit. Dann poltert Liam, das wandelnde Problem, herein. Und mit ihm das Draußen.
"Waisen", das viel gespielte Drama vom britischen Autor Dennis Kelly, ist dramaturgisch eine mittelgroße Offenbarung. Nur ein paar Minuten braucht es hier, um eine komplette Welt aufzubauen und gleich darauf ihren Untergang zu markieren. Langsam wird sie herunterbröckeln, Stückchen für Stückchen.
Scharade der Häuslichkeit
Vom Moment seines Erscheinens ist klar, dass der ungebetene Gast Liam mehr als nur fremdes Blut an sich kleben hat. Helens Bruder, der Junge, der sich viel und zu oft mit den falschen Leuten umgibt, die Waise, der das Lebens nicht viel Gutes wollte, ist ein Getriebener. Egal, welche Geschichte in welcher Variante er auftischt, der Karren ist dieses Mal so richtig vor der Wand gelandet. Und so ist die Grundfrage auch in Hannover nicht, ob, sondern wie dieses zwangsharmonische Beziehungsdreieck kaputt geht.
Dabei die Spannung zu halten, ist trotz der schlafwandlerisch gelungenen Komposition des Stücks eine Herausforderung. Die junge Regisseurin Brit Bartkowiak, bis 2013 Regieassistenin am Deutschen Theater Berlin und dort mit der Uraufführung von Marianna Salzmanns Muttersprache Mameloschn aufgefallen, zieht den Stoff mit ihrem kleinen Ensemble behutsam heran und pflanzt ihn mitten in den intimen Bühnenraum im Theater an der Glocksee. In diesem kleinen freien Hannoveraner Theater haben grade 90 Zuschauer Platz, das Publikum sitzt in drei Blöcken um die Bühne herum.
Die Bühnen- und Kostümbildnerin Carolin Schogs hat eine karge Parzelle geschaffen. Ein paar kahle Holzstreben deuten eine Wohnung an, Topfpflanzen, Weinflaschen und ein Stoffhase sind säuberlich im Gerüst drapiert, Europaletten markieren den Weg zum Badezimmer mit Wäschezuber und Spiegel in der anderen Ecke des Raumes. Alles erscheint hier provisorisch, eine nackte Kulisse für die Scharade der Häuslichkeit. Doch man will hier keine Wurzeln schlagen, die Gegend ist nicht die beste.
Starkes Sozialdrama
Das Stück haut passgenau in die Realität dieses Off-Theaters, das zwischen drei Stadtteilen mit großen sozialen Gegensätzen liegt. Es ist ein Geheimtip, gelegen wie ein kleines, verstecktes Muttermal, am Ufer eines Flusses. Steht man vor seiner Tür, schaut man auf das Ihme-Zentrum auf der anderen Uferseite, ein riesiges Betonmonster von beeindruckendem Brutalismus. Sechziger-Jahre-Träume von der Stadt in der Stadt sollten hier wahr werden, nun ranken sich viele düstere Geschichten um die Ecken und Winkel des Orts.
Der Theaterabend fächert sich als Sozialdrama auf, ist fast schon anachronistisch in seinem psychologischen Spiel und trifft die Stärke von Kellys Text doch ganz genau: Das Straucheln des Mittelstandes im globalen Zeitalter, seine Abstiegssorgen, Abgrenzungsbemühungen und die Angst vor dem schwarzen Mann des 21. Jahrhunderts: dem Terrorismus. Denn Liam, das wird sich im Laufe des Abends zeigen, hat in seiner falsch verstandenen Rolle des sozialen (Familien-)Rächers all seine Aggression an einem diffusen Feindbild abgelassen.
Düsternis des freien Willens
Regisseurin Bartkowiak vertraut auf die Leistung der Schauspieler und die Nähe, die sie mit wenigen Gesten erzeugen können. Langsam zoomt sie in die Seelenflächen der Protagonisten, holt das Grauen heran, lässt es sich im Raum ausbreiten. Nur der Anfang gerät ein wenig dick: Helen im grauen, hochgeschlossenen Kleidchen mit Schleife im Haar und Danny in beiger Country-Club-Uniform wiegen sich in den Armen, neben ihnen der Mikrowellenfraß. Von dieser Beinahe-Karikatur wandeln sie sich im Laufe des Abends immer mehr zu Zerrissenheitsdarstellern.
Felix Lohrengels Danny beginnt, seine moralische Skepsis im kühlen Sarkasmus zu begraben. Und Lena Kußmann lässt Helens Sorge um den Bruder grausam pragmatisch enden. Wie eine verhärmte Puppe bewegt sie sich da durch den Raum, auf Autopilot geschaltet. Jonas Vietzke gibt Liam, dem verlorenen Jungen mit Außenseiter-Abo, eine flirrende, innere Hetze. Während ihm die Schuld aus allen Poren dringt, ringt er um Fassung. Dann steht er mit verschränkten Armen auf hell erleuchteten Europaletten – der Abgrund überstrahlt ihn fast – und schmeißt Sprachfetzen in den Raum: "Ich bin nicht ...", Ich bin kein ...". Was auch immer: Rassist? Böser Mensch? Vieles wollen diese Figuren nicht sein. Kein Täter. Kein Feigling. Keine miese, verantwortungslose Schwester. Keine moralischen Waisen. Der freie Wille – er hat viele düstere Ecken.
Waisen
von Dennis Kelly
Deutsch von John Birke
Regie: Brit Bartkowiak, Bühne und Kostüm: Carolin Schogs.
Mit: Lena Kußmann, Felix Lohrengel, Jonas Vietzke.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.theater-an-der-glocksee.de
ermöglicht durch die
im Rahmen des Niedersachsenschwerpunkts auf nachtkritik.de.
Mehr über das Theater an der Glocksee in unserer Kritik zu Nichts. Was im Leben wichtig ist vom Oktober 2012.
Dennis Kellys Waisen wurden auf nachtkritik.de auch in den Inszenierungen von Elias Perrig (Basel, 2010), Stefan Otteni (Potsdam, 2012) und Wilfried Minks (Hamburg, 2014) besprochen.
Am Deutschen Theater Berlin inszenierte Brit Bartkowiak die Uraufführung von Marianna Salzmanns Stück Muttersprache Mameloschn, das zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen wurde.
Kritikenrundschau
Ekkehard Böhm schreibt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (19.04.2014): Fast zwei Stunden dauere die Aufführung, aber es werde keine Minute langweilig. Das läge an der "Qualität des Stückes". Brit Bartkowiak inszeniere regelgerecht den "spannenden Sozialthriller, aufgebaut nach den Regeln des konventionellen Theaters". Die Schauspieler kämen dem Publikum nahe, wenn die "vergifteten Dialogpfeile fliegen", ducke man sich (innerlich) fast. Alle drei Schauspieler spielten mit einer Intensität, der man sich nicht entziehen könne.
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