Über "Fassbinder JETZT" im Martin-Gropius-Bau Berlin und Rainer Werner Fassbinders Bedeutung heute
Ordnung ist nur das halbe Leben
von Patrick Wengenroth
Berlin, 11. Mai 2015. Deutschland im Frühling. Und plötzlich tauchen im Berliner Stadtbild in beachtlicher Häufigkeit diese Plakate auf, mit einem unfassbar coolen Typen darauf: offenes Hemd, eine Zigarette zwischen den wulstigen Lippen, die ein – in diesem Falle akkurat gestutzter – Schnauzer ziert, ein konzentriert lauernder und zugleich skeptisch-schläfriger Blick. Ja, er ist es. Der RWF – der Rainer Werner Fassbinder.
Es ist schon erstaunlich und für mich als erklärtem Fan äußerst erfreulich, dass plötzlich – und bloß, weil er am 31. Mai dieses Jahres 70 geworden wäre – RWF eine so große Aufmerksamkeit zuteil wird. Ein neuer Dokumentarfilm im Kino (der mit einem ebenso unfassbar coolen Bild des jungen Fassbinders aus seinem Film "Liebe ist kälter als der Tod" beworben wird), ein Fassbinder-Schwerpunkt beim Theatertreffen und zudem die Fassbinder-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau mit dem seltsamen Titel "Fassbinder JETZT". Okay, aha, also jetzt doch plötzlich Fassbinder? Ich hatte immer eher das Gefühl, Deutschland scheue die profunde Auseinandersetzung mit RWF: Och nee, danke, zu anstrengend, zu düster, zu lange Kameraeinstellungen, zu viel Drittes Reich, zu wenig Hoffnung, zu viel Koks/Alkohol/Zigaretten, zu wenig Spaß, zu viel Angst.
Mit Schygulla-Faktor
Am Dienstag beim "feierlichen" Festakt zur Ausstellungs-Eröffnung im Martin-Gropius-Bau war von diesem "JETZT" erst einmal nicht allzu viel zu spüren. In trübem Licht zumeist dahin gestotterte Reden, die neben den obligatorischen und endlos wirkenden Danksagungen und Namensnennungen ansonsten nichts wirklich Erhellendes beitragen, weder zum "JETZT" noch zu Fassbinder. Als Schlusspunkt dieses Auftakts singt Hanna Schygulla. Ein paar Anekdoten, ein vertontes Gedicht des jungen RWF und ein Medley, bestehend u.a. aus "Satisfaction", "Where have all the flowers gone" und "Freedom is just another word for nothing left to loose" ... – uff. Zugegeben, ein auratisches Wunder ist Hanna Schygulla immer noch, und man ist fasziniert und befremdet zugleich davon, mit was für einer schon fast heilig anmutenden Überzeugungskraft sie ihre Performance durchzieht. Aber ist das "Fassbinder jetzt"?
Dann vielleicht doch lieber die "Capri-Fischer" (Rudi Schuricke) oder "Unter fremden Sternen" (Freddy Quinn) oder "Song for Europe" (Roxy Music) oder "Die letzte Rose" (Peer Raben) ... Nichtsdestoweniger bekommt Hanna Schygulla dann – natürlich auch zurecht und stellvertretend für den aus bekannten Gründen abwesenden RWF – auch den meisten Applaus, und dann darf man endlich rein in die Ausstellung. Es ist wirklich erstaunlich voll, gibt sogar einen niedlichen Mini-Tumult, als eine Frau nicht länger auf der Treppe vor dem Absperrband stehen mag, sich unten durchzumogeln versucht und von einem der Museumsmitarbeiter zurückgewiesen wird, den sie dann ein paar Minuten beschimpft, bis sie endlich hoch in den ersten Stock darf. Dort eine weitere Schlange, wieder Warten, ein Weinchen für 2,50 €, um sich die Zeit zu vertreiben. Gut, ich hatte natürlich nicht wirklich damit gerechnet, dass sie im Martin-Gropius-Bau Cuba libre ausschenken, aber passend, lustig und RWF-JETZT-mäßig wäre es allemal gewesen ... Nach rund 15 Minuten dann der Aufstieg in den zweiten Stock, noch eine kurze Warte-Runde und dann bin ich drin.
Re-Enactment-würdig
Eine Fernseher-Wand mit diversen Interview-Schnipseln mit RWF aus verschiedenen Jahren empfängt einen. Das liebe ich, seine rhetorische Kraft, komplexe Problemstellungen der Gesellschaft, der Menschen und seiner selbst in Worte zu fassen, dem könnte ich stundenlang zusehen und hören. Wohin jetzt, nach rechts oder nach links. Ich entscheide mich konservativerweise für rechts und lande in einem Raum, der Filmausschnitte mit den berühmt-berüchtigten 360°-Kamerafahrten zeigt: allen voran die aus "Martha" und eine sensationell tolle aus "Welt am Draht", leider fehlt die schönste von allen aus "Warnung vor einer heiligen Nutte".
Die legendäre Kamerafahrt in "Martha" (1974)
Im Nebenraum dann eine Nachahmung der "Martha-Fahrt" mit heutigen Mitteln der Videokunst auf unterschiedlichen Leinwänden in unterschiedlichen Perspektiven. Aha, naja, okay. Der Ausstellungskatalog gibt Auskunft: "Darüber hinaus veranschaulicht 'Fassbinder – JETZT' den Einfluss des Regisseurs auf die zeitgenössische Kunst". Konkret bedeutet dies, dass acht Arbeiten unterschiedlicher Künstler ausgewählt wurden, die in ihren Werken einen Bezug zu Fassbinders Arbeit sehen oder sehen wollen. Diese sind leider eher belanglos und öde. Na gut, die drei ausgestellten Bilder des kanadischen Fotokünstlers Jeff Wall sind recht eindrucksvoll. Wirklich toll ist aber eigentlich nur das Video-Re-Enactment des großen Margit-Carstensen-Flokati-Gin-Monologs aus "Petra von Kant" durch den chinesischen Künstler Ming Wong. Eine krude Mischung aus Tragik, Travestie, Humor, die am ehesten auf die Anarchie, Artifizialität und Aggressivität verweist, welche die eher expressionistischen Fassbinder-Filme wie "Satansbraten", "Dritte Generation" oder "In einem Jahr mit 13 Monden" auszeichnete.
Idiotie der Welt
Zum Glück gibt es einen dunklen Raum mit drei großen Leinwänden, wo man eine recht schöne und gelungene Zusammenstellung von Szenen aus unterschiedlichen Fassbinder-Filmen ansehen kann, geordnet nach wiederkehrenden Motiven und Perspektiven in seinem filmischen Werk. Hier kann man in rund 30 Minuten einen kaleidoskopartigen Einblick in die Vielfältigkeit der Qualitäten von RWFs Filmen gewinnen – optische Raffinesse, literarische Qualität der Drehbücher, Humor und Tragik der Figuren, Idiotie der Welt, in der er lebte (und wir heute noch leben).
Gut. Nun also wende ich mich dem linken Teil der Ausstellung zu. Vorbei an der riesigen Zeitleiste, auf der recht eindrücklich zu sehen ist, in welch kurzer Zeit RWF sein filmisches Werk rausgehauen hat. Ich komme in den "privaten" Teil der Ausstellung. Unter Glas befinden sich zahlreiche Originaldokumente von Fassbinder: Manuskripte, Briefe, die Bewerbungen bei und Ablehnungen von der Filmhochschule.
Unablässig geschuftet
Dies ist der anstrengendste und zugleich lohnenswerteste Teil der Ausstellung. Die vielen – oft handschriftlichen – Exposés, Kalkulationen, Briefe, Drehbücher, Drehpläne usw. überfordern und hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck: dieser RWF war ein manischer Erzähler, Denker, ein Organisationsgenie, Handwerker. Einer der unablässig geschuftet hat, ein Rasender. Man kann nur hoffen, dass die dort ebenso zu hörenden Diktafon-Mitschnitte des "Alexanderplatz"-Drehbuchs, in denen Fassbinder Stunde um Stunde alle Szenen seines Mammut-Projekts vorimaginiert, irgendwann einmal als CD erscheinen. Daneben sind die ausgestellten Privat-Reliquien (Fahrrad, Schreibmaschine, Fußballtrikot, Lederjacke etc.) zwar irgendwie rührend, aber auch ebenso entbehrlich. Ich betrete nun einen Raum, in dem einige der großartigen Original-Kostüme von Barbara Baum ausgestellt sind, dazu eine Leinwand, auf der man die entsprechenden Kostüme in kleineren Filmausschnitten in Aktion sehen kann. Jetzt aber weiter, noch mehr Fassbinder – JETZT, noch mehr will ich sehen.
Wo ist die Abteilung über Deutschland (egal ob im Herbst, Frühling, Sommer oder Winter)? Wo ist die Ecke über Volker Spengler? Wo ist die Ecke über "Dritte Generation"? Wo läuft ein Ausschnitt aus seiner Theater-Doku "Theater in Trance"? Wo ist die Leinwand mit "Liebe ist kälter als der Tod"? Wo sind Informationen und Bilder von "Acht Stunden sind kein Tag"? Die Fernsehshow "Wie ein Vogel auf dem Draht" mit Brigitte Mira? Das Antiteater? Fassbinder als Schauspieler? Wo? Wo? Wo? Ich will mehr sehen, hören, lesen ... mehr, noch viel mehr ... Aber nee, komisch. Hier geht es nicht weiter, ist die Ausstellung hier etwa schon zu Ende ...?! Nun denn, da kann man nix machen.
Etwas ganz Logisches
Im Ausstellungskatalog steht der folgende Satz von RWF: "... die Enge von Phantasie anhand der Enge von Räumen zu zeigen, finde ich etwas ganz Logisches ..." Wie wahr. Im Umkehrschluss heißt dies im Falle dieser Werkschau: Die Grenzenlosigkeit von Fassbinders Phantasie und Werk findet in keiner noch so großen Ausstellung Platz. Leider. Die Ausstellung ist durchaus lohnenswert für Menschen, denen Fassbinder noch nicht so bekannt ist. Alle die, welche sich schon etwas besser in seinem Schaffen auskennen, werden eher wenig neue Erkenntnisse gewinnen (mal von den erwähnten Original-Dokumenten abgesehen).
Der Wunsch, Fassbinder ins "JETZT" holen zu wollen in Form einer Ausstellung, bringt unweigerlich einen Sortierungs- und Selektionsvorgang mit sich, der dem Emotionalen, Chaotischen, Überbordenden, Anstrengenden, Brutalen, was Fassbinder auch alles (und vielleicht vor allem) ausmacht, nicht gerecht werden kann (oder im Weglassen bestimmter Aspekte seines Werkes nicht will?). Er selber war sich der Tatsache, dass Ordnung nur das halbe Leben sei (wenn überhaupt), auch sehr schmerzlich bewusst: "Was das Filmemachen anbetrifft oder das Arbeiten an sich, da bin ich ein ordentlicher Mensch, ja. Es ist schlimm genug, dass man da ordentlich sein muss, weil der Zwang, da ordentlich zu sein, der geht natürlich in andere Bereiche des Fühlens und Denkens irgendwie auch ein. Es entsteht ein Ordentlichsein in allen Bereichen, das man vielleicht nicht möchte – kann sein."
Patrick Wengenroth, geboren 1976, lebt mit seiner Familie in Berlin und arbeitet als Regisseur, Schauspieler und Übersetzer. Für den von ihm mitbegründeten "Theaterdiscounter" in Berlin entwickelte er 2003 das Theater-Show-Format "Planet Porno", das später seine künstlerische Heimat im Hebbel am Ufer fand. Er inszenierte zuletzt u. a. an der Berliner Schaubühne, am Staatstheater Braunschweig sowie am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Zudem produzierte er zusammen mit DeutschlandradioKultur diverse Hörspiele und stand für den ZDF.kulturpalast regelmäßig als Kulturkritiker vor der Kamera.
Mehr über die Theaterarbeiten von Patrick Wengenroth hier.
Anlass für den Fassbinder-Schwerpunkt des Theatertreffens bietet u.a. die Einladung von Susanne Kennedys Münchner Kammerspiele-Inszenierung von Warum läuft Herr R. Amok von November 2014. Andere auf nachtkritik.de besprochene Fassbinder-Inszenierungen der letzten Zeit: Welt am Draht (Lübeck, 5/2015), Katzelmacher (Dresden, 12/2014), Angst essen Seele auf (Gorki Berlin, 6/2014).
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Wengenroth bitte!
Wilhelm Roth
Trotz der stickigen Enge auf der Seitenbühne des Hauses der Berliner Festspiele lohnte es sich für die Zuhörer, mit Hanna Schygulla auf ihre gemeinsamen Jahre mit Fassbinder zurückzublicken. Am Klavier wird sie von Stephan Kaymar begleitet, während sie frühe Gedichte und Notizen von Fassbinder rezitiert oder singt. Persönliche Erinnerungen treten neben Pop-Klassiker jener Jahre von Janis Joplin bis zu den Rolling Stones.
Mehr über die "Focus Fassbinder"-Veranstaltungen hier:
http://kulturblog.e-politik.de/archives/24891-zu-seinem-70-geburtstag-fassbinder-an-allen-ecken-und-enden.html